Zur Relativität von Beobachtungen

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Deutungen

Wir leben von Deutungen. Schon ein neu geborenes Kind deutet Berührungen, Lichteindrücke, Töne. Und von Anfang an kämpfen wir mit Fehldeutungen.

Mir scheint, als habe mich dies Problem immer beschäftigt. Und als habe es mich mehr beschäftigt als die Menschen, die mich umgeben.

Habe ich das richtig verstanden? Diese Miene, diese Geste, dieses Wort? Kann ich mich auf meine Deutung verlassen? Ist sie sachgerecht, wird sie meinem Gegenüber gerecht? Oder täusche ich mich?

Ich habe beobachtet, wie andere sich getäuscht haben. Manchmal habe ich feststellen können, daß sie sich in mir täuschten. Manchmal habe ich feststellen müssen, daß ich sie enttäuscht habe.

Meine eigenen Täuschungen zu beobachten, ist viel schwerer. Der Punkt, von dem aus ich beobachte und deute, liegt tief in meinem Charakter. Er hängt ab von den Anlagen, die ich mit auf die Welt brachte, von den Erfahrungen, die ich zum Teil noch in unbewußtem Zustand gemacht habe.

Wenn ich Texte und Dokumente deute, spielt auch meine Kultur eine Rolle. Die Einordnung von Merkmalen, die dann zu einer Deutung dienen, läuft über meine Bildung.

Wenn ich Texte über meine Vorfahren lese, bin ich mir der Gefahr der Fehldeutung sehr bewußt. Fast jedes Zeichen ruft mehrere Deutungsmöglichkeiten in mir auf. Ich muß mich für eine entscheiden. Ich prüfe mich. Ich prüfe meine Erfahrungen. Ich prüfe den Zusammenhang. Aber den kann ich nur prüfen, soweit mir begleitende Texte zugänglich sind. Neue Quellen verändern mein Bild oft vollständig. Ich sehe, daß ich mich getäuscht habe. Das enttäuscht mich. Es macht meine Arbeit fragwürdig.

Trotzdem kehre ich bis jetzt immer wieder gern an meine Arbeit zurück. Warum eigentlich? Wo liegt der Reiz dieser Anstrengung, die nie fehlerfreie Ergebnisse liefern wird?

Der Schlüssel liegt vielleicht bei den Erfahrungen. Nach einem langen, bewußt gelebten Leben hat man so viele davon. Aber sie lassen sich nicht halten. Es heißt, sie ließen sich nicht weitergeben. Jedenfalls habe ich große Schwierigkeiten von ihnen zu sprechen, nicht nur aus Scheu, sondern auch, weil sie amorph sind. Manchmal bewegen sie sich in mir wie ein ungeborenes Kind, manchmal habe ich die Empfindung, von ihnen wie von Wellen getragen zu werden.

Die Erfahrungen wandern durch meine Träume: all die Menschen, die mir so bekannt vorkommen und die mir beim Erwachen ganz fremd sind, die Räume, die mir vertraut sind und von denen ich beim Erwachen sagen möchte, ich habe sie noch nie gesehen. Es gibt Dörfer und Landschaften, in die ich in meinen Träumen zurückkehre.

So ist es auch mit den Lieblingsgedanken. In ganz verschiedenen Situationen gehen sie mir durch den Kopf. Ich wundere mich darüber. Und ich versuche, in meiner Familiengeschichte etwas daraus zu machen.