Ida Guthzeit und die Juden

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Eine meiner Verwandten aus dem 19. Jahrhundert hat Familiengeschichte in Ostpreußen erlebt und sie in einem längeren Bericht beschrieben. Zu dieser Geschichte gehören auch Juden. Ida Guthzeit – so heißt die Chronistin – ist eine Schwester meiner Ururgroßmutter Ottilie Guthzeit. Als alte Frau von 63 Jahren machte sie sich daran, das, was sie von der vorigen Generation gehört hatte und das, was sie selbst erlebt hat, für ihre Kinder aufzuschreiben. Das war 1896 in Stettin.

Ida kannte einen Juden sehr gut: das war der Professor Dr. Ludwig Friedländer, der ihre ältere Schwester Laura zur Frau hatte. Laura und Ludwig waren ein Liebespaar gewesen und sie waren es in der Ehe geblieben. Ihre Briefe aneinander, die man im Staatsarchiv Marburg nachlesen kann, atmen den Geist eines großen Vertrauens und lebenslanger Zärtlichkeit.
Dr. Ludwig Friedländer war ein bedeutender Gelehrter mit weitreichender Korrespondenz. Er war auch vermögend, teils wohl von Hause aus, aber teils auch durch seinen phänomenalen Fleiß als Hochschullehrer und durch die Erfolge seiner Veröffentlichungen. Das Buch „Darstellungen zur Sittengeschichte Roms“ war ein Renner und ist bis heute ein Standardwerk. 
Nachdem Ida und ihre Schwester Ottilie als Ehefrauen von Bankrotteuren viel Unglück erlebt hatten, war der vermögende Schwager Friedländer der letzte ruhende Pol der Familie. Die drei Schwestern Laura, Ottilie und Ida Guthzeit hatten von Kindesbeinen an sehr aneinander gehangen. Das trug durch das ganze Leben. Trotz der ungleichen Vermögenslage waren die drei und ihre Kinder jeden Sommer zusammen und auch dazwischen sahen sie sich häufig. Ida kannte also einen Juden als großzügiges Familienmitglied und sie hatte Grund, ihm dankbar zu sein.
Aber auch sonst begegneten ihr Juden. Sie gehörten zum Alltag Ostpreußens, es soll im Vergleich zu andern Teilen des Deutschen Reichs sogar besonders viele in Ostpreußen gegeben haben. Ida kann daher ihre Familiengeschichte nicht erzählen, ohne gelegentlich auf Juden zu sprechen zu kommen.
Das erste Mal geschieht das bei der Erzählung von ihres Vaters Teilnahme an den Befreiungskriegen 1813. „Mein Vater ließ die französ. Backöfen im Stich, die nicht über die Fundamente gekommen waren u. schloß sich den Patrioten an. Er trat in das Freiwillige Jäger Detachement des Ostpreuß. National-Kavallerie Regiments ein. 300 Thl. zu seiner Equipierung lieh ihm zinsfrei ohne jede Sicherheit ein Jude in Bromberg (Leiser?). Mein Vater hat ihn stets in dankbarer Erinnerung behalten und ihn besucht, wenn er nach Bromberg kam. Ich selbst sah ihn einmal bei Geheimrat Krauses in Bromberg, wohin er eingeladen war; ein guter Jude in seidenem Kaftan u. Peies, dem von allen Seiten die größte Hochachtung erwiesen wurde.“
Nach dem Holocaust lesen wir das mit Grauen: der Blick einer deutschen, älteren Hausfrau auf einen Mann, der ihrem Vater einen großen Dienst erwiesen hatte! Es fällt das Wort „größte Hochachtung“ – aber mit welcher Betonung! Der Mann ist in Idas Augen ein „guter Jude“, fromm, denn er trägt die Peies, die Haarlocken, die ihn immer an die Thora erinnern sollen, und den seidenen Kaftan zum Zeichen seines Reichtums, gepaart mit Tradition.
Ida lernt auch arme Juden kennen, gerade auf der Reise nach Bromberg im Jahr 1839, auf der sie den „guten Juden“ im Hause ihres Onkels, des Geheimrats Fritz Krause, sah. Sie schildert das so: „Die Fahrt ging in der großen Glaskutsche vor sich, natürlich vierspännig, mit dem würdevollen Jakob auf dem Bocke. Wir waren drei Tage und 2 Nächte unterwegs (ca 150 km) und es gehörte der große Respekt vor unserm Vater dazu, um uns drei Göhren auf dem Rücksitz ruhig zu erhalten. Am Abend des 2. Tages kamen wir in Fordon a.d. Weichsel an, ein schmutziges kleines Judennest. Da sich der jüdische Gasthof als unmöglich erwies, so besorgte Vater Unterkunft bei einem Bäcker. Für uns Kinder wurde Streu gemacht, und da ein, mit dem Stroh mitgeraffter Frosch in der Nacht lebhaft wurde, so bändigte selbst Vaters große Strenge unsere ungeheure Erregung nicht.“ 
Ob der Bäcker auch Jude oder ob er Deutscher war, schreibt Ida nicht. Dass die primitive Unterkunft sehr teuer war, erwähnt sie später. Eindeutig ist die Empfindung, dass man im „Judennest“ nicht willkommen war und auch nicht gerne blieb. Man musste es hinnehmen, denn: „So reiste man damals in der Provinz.“
Außer den Juden im „schmutzigen, kleinen Judennest“ gab es auch  jüdische Händler in Königsberg, wo der Bruder von Idas Vater, Otto Guthzeit, als wohlhabender Kaufmann lebte. Sie waren die Vermittler zwischen den polnischen Landstrichen, die zur Zeit der Teilung Polens entweder unter preußischer oder russischer oder österreichischer Herrschaft standen, und der Stadt am Pregel, die Handel mit den Seehäfen an Ost- und Nordsee trieb und auch, dank der Eisenbahn, mit dem Binnenland Preußen trieb. Weder Russen noch Polen scheinen als Kaufleute ihrer Länder in Königsberg aufgetreten zu sein.
Ida schreibt: „…..Mein Onkel Otto soll in kurzer Zeit fast das ganze norwegische Heringsgeschäft in Händen gehabt haben, die Kapitäne konnten mit ihm in norwegischer Sprache verhandeln u. wurden nach abgeschlossenem Geschäft zu Tisch gebeten und erhielten einen silbernen Esslöffel. Sein Haupttalent aber bestand darin, mit den polnischen Juden fertig zu werden. Es lag entschieden in seiner persönlichen Art, in seinem unverwüstlichen Humor und seiner Geduld, die diese Leute veranlasste, am liebsten mit ihm zu handeln. Die Erzählung in „Soll und Haben“ v. Freytag, wie Herr Fink mit Schmeie Tinkeles verkehrt, erinnert mich lebhaft an manche Scene, die sich an Sommerabenden auf den Hufen abspielte, wenn ihm die Juden nach Geschäftsschluss dahin nachkamen. Dreimal warf er (Onkel Otto Guthzeit) einen Juden hinaus, und wenn er zum viertenmal wiederkam, empfing er ihn mit einem Scherz und machte doch das Geschäft und ein gutes Geschäft. Beide Teile waren befriedigt und hatten nie die gute Laune verloren.“
Die Stelle, auf die sich Ida hier bezieht, steht in Freytags Roman „Soll und Haben“ (Hamburg, Weltbund-Verlag 1927), I. Band, 1. Buch, Nr. 5, S. 60:
„Wozu kommt Ihr wieder, Schmeie Tinkeles?“ fragt Fink kalt, „ich habe Euch schon gesagt, daß wir kein Geschäft mit Euch machen wollen.“
„Kein Geschäft?“ ruft der unglückliche Tinkeles krächzend in abscheulichem Deutsch, so daß Anton ihn nur mit Mühe versteht. „Solche Wolle, wie ich bringe, ist noch nicht gewesen im Lande.“
„Wie hoch der Zentner?“ fragt Fink schreibend, ohne den Juden anzusehen.
„Was ich doch habe gesagt,“ antwortet der Jude.
„Ihr seid ein Narr,“ sagt Fink, „fort mit Euch!“   ….
„Wai!“ schreit der Mann im Kaftan, „was ist das: fort mit Euch? Mit fort kann man machen keine Geschäfte.“
„Was wollt Ihr also haben für Eure Wolle?“
„41 ⅔“, sagt Tinkeles. 
„Hinaus,“ bemerkt Fink.
„Sagen Sie doch nicht immer hinaus!“ bittet der Jude in Verzweiflung, „sagen Sie, was wollen Sie geben?“
„Wenn Ihr so unverschämt fordert, gar nichts,“ sagt Fink, eine neue Seite seines Briefes beginnend.
„Sagen Sie doch nur, was wollen Sie geben?“ bittet der Jude wieder.
„Nur wenn Ihr wie ein anständiger Mann redet,“ antwortet Fink den Juden ansehend.
S. 61: „Ich bin anständig,“ sagt der Jude leise, „Was wollen Sie geben?“
„39“, sagt Fink.
Jetzt gerät Schmeie Tinkeles außer sich, schüttelt seine schwarzen Locken und verschwört sich bei seiner Seele Seligkeit mit lautem Geschrei, er könne nicht unter 41; worauf Fink ihm bedeutet, er werde ihn von einem Hausknecht hinausführen lassen, wenn er solchen Lärm mache. Darauf geht der Jude entrüstet vor die Türe, steckt den Kopf wieder herein und ruft: „Also was wollen Sie geben?“
„39“, sagt Fink und sieht der aufgeregten Mimik des Händlers ungefähr mit demselben Interesse zu, mit dem ein Physiker die galvanischen Zuckungen eines Frosches betrachtet. Die Zahl 39 bewirkt in der Seele des Juden eine neue Explosion, er tritt wieder vor, verschwört seine Seele in den tiefsten Abgrund der Hölle, und erklärt sich selbst für das nichtswürdigste Scheusal der Welt, wenn er für weniger als 41 ablassen könne. Als er sich auf wiederholte Ermahnungen Finks, ruhig zu werden, dazu nicht entschließen kann, wird der Hausknecht gerufen. Das Erscheinen desselben wirkt so weit beruhigend, daß Herr Tinkeles erklärt, er könne allein gehen und werde allein gehen, worauf er still steht und 40 ½ sagt. Der Agent, der Provinziale und das Kontor sind still und hören der Verhandlung neugierig zu, während Fink dem armen Schmeie mit einer gewissen Herzlichkeit den Vorschlag macht, er solle sich ohne weiteres entfernen, er sei völlig Narr und mit ihm kein Geschäft zu machen. Darauf wendet der Jude sich trotzig ab und geht hinaus. …  Fink sagt zum Prinzipal, der einen unterdes erhaltenen Brief durchliest: “Er wird’s lassen, wenn ich ihm noch einen halben Taler zulege. Wollen Sie mit 39 ½ abmachen?“
„Wieviel?“ fragt der Kaufmann.
„120 Zentner“, sagt Fink.
„Nehmen Sie“, sagt der Kaufmann und liest weiter.
Von neuem wird die Tür aufgerissen, das Geschwirr geht
S. 62: fort, und Anton bemüht sich vergebens zu verstehen, wie man die Wolle kaufen könne, nachdem der Verkäufer in so entschiedener Weise gegangen ist. Da öffnet sich, gerade als wieder drei bis vier Stimmen durcheinander sprechen, ganz leise die Tür, Tinkeles schleicht auf den Zehen herein bis hinter Finks Platz und sagt, diesem die Hand auf die Schulter legend, wehmütig und vertraulich: „Was wollen Sie noch geben?“
Fink wendet sich um und sagt ebenfalls mit vertraulichem Lächeln: „Weil Ihr es seid, Tinkeles, 39 1/3, aber nur unter der Bedingung, daß Ihr kein Wort weiter sprecht, sonst nehme ich das Gebot zurück.“
„Ich spreche nichts,“ antwortet der Jude, „sagen Sie 40.“
Fink macht eine Bewegung der Entrüstung und weist schweigend nach der Tür. Der Händler geht und dreht an der Tür um.
„Jetzt kommt’s,“ sagt Fink. Darauf kehrt der Händler zurück und spricht mit mehr Haltung: „39 ½ , wenn Sie es dafür wollen nehmen.“
Nach einigem Zögern bemerkt Fink wie gelegentlich: „Es mag sein.“ Worauf Schmeie Tinkeles ganz umgewandelt ist, sich als liebenswürdiger Freund der Handlung erweist und angelegentlich nach dem Befinden des Prinzipals erkundigt.“
Wir Nachgeborenen lesen diesen Text, der offenbar in Idas Augen eine reale Szene beschreibt, mit Staunen und Kopfschütteln. Zwei sehr verschiedene Kulturen treffen aufeinander, und die eine, die deutsche, hat die Macht und den Staat hinter sich, die andere muss sich dagegen behaupten und hat dazu ganz eigene Methoden entwickelt. Dieses Verhältnis konnte wohl nicht von Dauer sein. Aber musste es unbedingt in einer Katastrophe enden?
Gustav Freytag „Soll und Haben“ erscheint 1855. Da ist Ida 21 Jahre alt. Gustav Freytags Recherchen zu seinem Roman fallen mit Idas Jugend zusammen. Und da er einen Entwicklungsroman schreibt, ist sein Held Anton Wohlfahrt, der dem Geschäftsabschluss zwischen Fink und Tinkeles wie wir voller Staunen folgt, nur wenige Jahre älter als Ida. Es ist kein Wunder, wenn Ida sich in ihm widerspiegelt und seine Empfindungen teilt. Aber sie geht weiter: sie behauptet, dass Freytag die Verhältnisse genauso schildere, wie sie zu ihrer Jugendzeit waren.
Die Guthzeits, könnte man sagen, gehen in allen drei Beispielen pragmatisch damit um, dass sie Juden begegnen. Karl Guthzeit, der junge Patriot, leiht 1813 Geld bei einem Juden und bleibt ihm lebenslang dafür dankbar, dass er es ohne Zinsen tat und ohne Sicherheiten. In der jüdischen Kleinstadt versucht er 1839, seine persönlichen Standards zu wahren, und bezahlt relativ viel Geld, um einigermaßen reinlich zu übernachten. Und Otto Guthzeit, der Kaufmann, verhandelt um 1850 fast wie ein Orientale mit den Juden, die die Erzeugnisse aus dem ländlichen Polen nach Königsberg bringen. Alle drei Situationen erfahre ich nur über Ida Guthzeit, verheiratete Henné, und über Gustav Freytag als Kronzeugen. Kommt das Moment der Diskriminierung erst durch die Beschreiber in die Situation? Ist erst der Text antisemitisch, nicht die Familie Guthzeit?
Leider kann ich mich damit nicht beruhigen. Der Philosoph Karl Rosenkranz, der dritte Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an der Albertina nach Kant, schreibt in seinen „Königsberger Skizzen“ von 1842:
„Ich will hier die Broschüren der letzten fünf Jahre nicht aufzählen, die mit der Propaganda des Judenhasses sich beschäftigen; ich will nur an die eine schnöde Thatsache erinnern, daß Viele diejenigen Schriftsteller, welche man das junge Deutschland zu nennen beliebt hat, schon mit dem Einen Wort, es seien Juden, in den Koth getreten zu haben vermeinten. Abgesehen davon, daß zufällig kein einziger derselben Jüdischer Abkunft ist, so war es eine grenzenlose Rohheit, zu glauben mit einem solchen Factum über die Leistungen und Personen ohne Weiteres den Stab brechen zu dürfen.“
„Propaganda des Judenhasses“. Ja, es scheint, als habe das Verhältnis von Deutschen und Juden in einer Katastrophe enden müssen. Und die Guthzeits haben auch ihren Anteil daran.