Ein Festessen in Polleben

Zuerst veröffentlicht in: EKKEHARD; Familien- und regionalgeschichtliche Forschungen, Hallische Familienforscher "EKKEHARD" e.V. , Neue Folge 12 (2005), Heft 3
Alte Kochbücher sind beliebt. Und historische Gasthäuser laden zu traditionellem Schmaus. Es ist erheiternd, in die Vergangenheit der Essgewohnheiten zu blicken. Trotzdem: Soviel wir auch über die Küche unserer Vorfahren forschen: wie es ihnen wirklich geschmeckt hat, wissen wir doch nicht.
Am 27. Juni 1773 wurde auf der Pfarre in Polleben getafelt. Die Abrechnung über die Zutaten zu diesem Festessen ist erhalten. Sie ist deswegen erhalten, weil sie strittig war. War das Festessen zur Einführung des Pfarrers Andreas Valentin Leberecht Schmidt wirklich so teuer gewesen? Wo waren die Belege? "vacat", d.h. "fehlt" steht anklagend hinter vielen Posten. Aber vor allem: Wer durfte diese Ausgaben genehmigen? Wer war der Herr der Stephanus-Kirche von Polleben?
Die Rechnungen hat mein Vorfahr, der Kantor-Substitut Johann Gottlob Liebscher, geschrieben, und er hat ihretwegen viel Ärger gehabt. Noch mehr Ärger aber hat mein zweiter Vorfahr in dieser Geschichte, der Pfarrer Andreas Valentin Leberecht Schmidt wegen dieser Rechnungen gehabt. Mindestens vier Jahre lang hat er zwischen dem Mansfeldischen Konsistorium in Eisleben und dem Amt Polleben lavieren müssen, und ob er am Schluss mit beiden ins Reine kam, ist nicht überliefert.
Wenn auch die Rechnungen für das Festessen bis heute im Landeshauptarchiv Magdeburg unter Rep. A 12 liegen – die Rezepte sind verschwunden. Das Mittags-Menü, das die Köchin Bitterfeldtin den Gästen auf der Pfarre von Polleben am 27. Juni 1773 serviert hat, können wir nicht nachkochen.
Immerhin sind die wichtigsten Zutaten aufgeführt. Da waren zunächst die Grundnahrungsmittel: Fleisch für 2 Reichstaler und 12 Groschen, Brot für 12 Groschen, ein halber Scheffel Weizen für 1 Reichstaler und 3 Groschen, vierzehn Maß Milch für 9 Groschen, zehn Pfund Butter für einen Reichstaler und 3 Groschen, zwei Mandel Eier, also dreißig Stück, für 4 Groschen, Grünkohl für sieben Groschen und Salat. Außerdem brauchte man etwas Luxus: eine halbe Tonne "Broyhan", das war ein leichtes Bier, wie es im Ostharz gebraut wurde, für 22 Groschen 3 Pfennig, Mandeln für 2 Groschen, dazu große und kleine Rosinen, zehn Kerzen, Tabak für sechs Groschen und zum Schluss: Wein und eine Mandeltorte, dieser Posten kostete allein schon zwei Reichstaler und acht Groschen. Das teuerste waren die Gewürze: drei Reichstaler und 12 Groschen – teurer als Fleisch waren Pfeffer, Nelken und Vanille. Doch könnte in dieser relativ großen Summe auch ein "starkes Getränk" enthalten sein. Das Heizmaterial, natürlich Holz, kostete 12 Groschen.
Es folgen die Löhne: Die Köchin Bitterfeldtin bekam für ihre Mühe einen Reichstaler, für das Backen von Kuchen und Broten erhielt der Bäckermeister Hofmann zwei Groschen 6 Pfennig. Drei Groschen musste man Peter Haberlandt geben, der die Mandeltorte aus Eisleben holte. Vier Groschen war man dem Kirchvater Hartmann schuldig, der sich persönlich auf den Weg machte, um die Gewürze aus Gerbstedt und den Wein aus Eisleben zu holen. Obendrein erhielt er für diese weiten Wege ein paar neue Schuhe zu 18 Groschen. Der namenlose Bote, der Fleisch, Töpfe, Brot, Grünkohl und Salat aus Eisleben holte, musste mit acht Groschen zufrieden sein.
Für wie viele Personen dies Festessen reichen musste, steht auch nicht in der Akte. Auf jeden Fall nahm mein Vorfahr teil, der glücklich installierte neue Pfarrer von Polleben, Andreas Valentin Leberecht Schmidt, ein stattlicher Mann von vierundvierzig Jahren. Und ich denke doch, dass auch seine junge Frau teilnehmen durfte, Maria Elisabeth Schmidt, geb. Eisfeld, neunundzwanzigjährige Pastorentochter aus Nelben, Enkelin des Gutsbesitzers in Ahlsdorf, des eigenwilligen Bartholomäus Krebs, und Mutter von vier Kindern. Selbstverständlich schmausten die beiden Herren Konsistorialräte aus Eisleben mit: Hofrat Gottlieb von Münchhausen, Jurist und weltliches Mitglied des Konsistoriums, und der Theologe General Dekan Albanus. Hofrat von Münchhausen hatte geradezu angeordnet, dass Kirchvater Hartmann und der Kantorsubstitut Liebscher sich um ein Mittagessen für sie kümmern sollten. Schließlich waren Albanus und von Münchhausen sehr früh am Morgen mit dem "Gemeinde-Vorspann", den von den Bauern geschickten vier Pferden, in ihrem eigenen Wagen von Eisleben aufgebrochen, um pünktlich zum Früh-Gottesdienst in Polleben zu sein. Sie hatten Schmidts Probe-Predigt über das Evangelium des Dritten Sonntags nach Trinitatis angehört, die sicher besonders lang ausfiel wegen seiner Aufregung. Der General Dekan hatte ihn dann "mittelst einer wohlgesetzten Rede" der Gemeinde vorgestellt und ihn "gewöhnlicher massen investiret", d.h. als Pfarrer eingeführt. Dabei vertrat Albanus auf Konsistoriumsbeschluss den Generalsuperintendenten, dessen Stelle zur Zeit vakant war. Nach diesem langen Vormittag waren die beiden Herren sicher rechtschaffen hungrig.
Ganz gewiss nahm auch der Justiz-Beamte von Polleben, Herr Justitiar Einicke, am Essen teil. Er hatte im Gottesdienst den Patron der St. Stephanus-Kirche in Polleben, den Kammerherrn Rudolph Otto von Phul, vertreten und dessen Zustimmung zu Lehre und Leben meines Vorfahren bekannt gegeben. Den Amtmann Starke, der das Phul’sche Gut gepachtet hatte, musste man doch sicher auch einladen, vielleicht mit seiner Frau Gemahlin. Das wäre für das zukünftige Verhältnis zwischen Pfarrhaus und Amtshaus förderlich gewesen. Und dass die Kirchväter Elias Hartmann und Christian Pallas, vielleicht auch der Bauermeister Christian Erhardt mit zu Tisch gingen – in aller Ehrfurcht vor den studierten Herren natürlich und vielleicht in der angrenzenden Stube – das darf man doch wohl annehmen! Schließlich waren sie die Gastgeber und hatten für die Organisation des Essens gesorgt. Dass man den Kantor emeritus Bartholomäus Heise und seine Frau Susanna Elisabeth dazu bat, ist hingegen eher unwahrscheinlich. Und ganz gewiss hat Johann Gottlob Liebscher, Stellvertreter und Schwiegersohn des Kantors, nicht mitessen dürfen. Der Rang eines Schuldieners war denn doch zu niedrig.
So schmausten sie also, mindestens sechs, höchstens zehn Personen, in den Stuben des Pfarrhauses, die mit dem Schein der Kerzen und Sträußen von Sommerblumen notdürftig herausgeputzt waren. Das Haus stand nämlich schon seit Dezember letzten Jahres leer. Und lange Monate davor, während der Todeskrankheit des vorigen Pfarrers Johann Ernst Friedrich Schumann, waren Stube und Küche wenig benutzt worden. Deswegen hatten sogar die Töpfe aus Eisleben geholt werden müssen: die Köchin Bitterfeldtin hatte sich offenbar schlicht geweigert, in dem, was sich in den vernachlässigten Schränken fand, das Festessen zu kochen.
Was kochte sie? Vermutlich gab es eine Brühe vorweg, dann den Salat, danach verschiedene Fleischschüsseln, mit Brot zum Einbrocken und dem Grünkohl als Zugemüse. Dazu schmeckte das gute Bier, Broyhan genannt. Zum Nachtisch gab es Kuchen, die Mandeltorte und Wein. Von Kaffee ist nicht die Rede. Oder ob er zu den Gewürzen zählte? Tabak für die Pfeifen der Herren und ein Kräuterschnaps zum Verdauen gehörten sicher an den Schluss einer solchen Mahlzeit.
Hat das Essen gut geschmeckt? Das hängt natürlich wesentlich an der Stimmung derer, die speisen. Eigentlich hatten sie alle Ursache, zufrieden zu sein. Der neue Pfarrer doch auf jeden Fall! Er hatte sich unterm 8. Dezember 1772, gleich nach dem Tode von Pfarrer Schumann, beim Mansfeldischen Konsistorium um die Stelle in Polleben beworben. Seit dem Frühjahr 1772, wo er bei der 2. Pfarrstelle an St. Nikolai in Eisleben übergangen worden war, hatte ihm der Fürst Fondi-Mansfeld eine "bessere Versorgung" versprochen. Ahlsfeld war eine schlecht dotierte Pfarre. Vierzehn Jahre hatte Schmidt dort Dienst getan. Der Pfarrhof von Polleben aber verfügte über acht Hufen Landes – das war eine große Verbesserung. Nun hatte er sein Ziel erreicht. Er hätte heiter sein können. Aber bei der Fahrt nach Polleben hatte er gesehen, wie verwildert die Pfarräcker und –wiesen waren und nun, beim Mahl, konnte ihm der Zustand des Hauses nicht verborgen bleiben: das Dach, die Fenster, der Fußboden – das sah ja schlimm aus! Während er kräftig zulangte, konnte er einen Seufzer nicht unterdrücken. Er wechselte einen Blick mit seiner Frau. Sie war womöglich noch mehr erschrocken. Viel Arbeit gab es hier! Gleich nach unserm Einzug, nahm er sich vor, muss zuerst das Haus ausgebessert werden.
Was den Herrn Hofrat Gottlieb von Münchhausen und den Herrn General Dekan Albanus betraf, so hatten sie endlich die Pfarre Polleben nach mehr als sechsmonatiger Vakanz wieder besetzt. Es hatte sie ein redliches Stück Arbeit gekostet! Wie umständlich war es allein, den Landesherrn zu erreichen! Seine Hochfürstliche Durchlaucht, Herr Heinrich, des Heiligen Römischen Reichs und zu Fondi Fürst, Graf und Herr von Mansfeld, lebte ständig im Ausland, meist auf seinen Besitzungen in der Tschechei, oft in Prag. Sein Interesse auf die Personalprobleme in der Grafschaft zu richten, war nicht leicht. Das sah man ja auch daran, dass er immer noch keinen neuen Superintendenten berufen hatte. Trotzdem musste man auf seine Wünsche Rücksicht nehmen. Fürst Fondi-Mansfeld hatte nun eigentlich den Pfarrer Georg Wilhelm Le Petit für Polleben haben wollen. Der war Pfarrer von Hergisdorf und sollte schon lange besser versorgt sein. Doch Le Petit hatte dankend abgelehnt. Er kannte die Pfarre Polleben genau durch viel Vertretungsdienst in den letzten Jahren. Die Herren vom Konsistorium wussten nur zu gut, dass er die Situation dort richtig beschrieb, wenn er meinte:
"Derweil aber bey dem Pfarr-Amte zu Polleben der Ackerbau zeithero schlecht betrieben worden, Solchem nach die Aecker ziemlich verwildert wären, hiernächst der verstorbene H. Pastor Schumann die mit dem Pfarr-Amte verknüpften accidentien denen Leuten größtentheils erlaßen und ihnen nicht abgefordert, mithin auch die Gemeinde verwildert sey, und er deßwegen besorgen müße, daß wenn er in Zukunfft denen Leuten das behörige abfordern würde, nichts als Streit und Verdruß entstehen, und er mit seinem Amt wenig Nuzen schaffen möchte, So glaube er nicht, daß diese Versorgung vor ihn convenable seyn möchte." So stand es im Protokoll seiner mündlichen Einlassung. Das hatte er dann auch noch in seiner kleinen, energischen Hand schriftlich bestätigt und hinzugefügt: Pfarramt und kirchliche Lehre hätten zu lange für die Leute von Polleben gar keine Rolle gespielt.
Es blieb dem Konsistorium nichts übrig, als Seiner Hochfürstlichen Durchlaucht diese Absage zuzustellen und zugleich den Pastor von Ahlsdorf, Andreas Valentin Leberecht Schmidt, als Bewerber vorzuschlagen. Schließlich hatte auch ihm der Fürst längst eine bessere Versorgung zugesagt. Das Konsistorium führte dabei an, dass Le Petit ein zierlicher Mann sei, Schmidt aber von hohem Wuchs und deswegen wohl eher geeignet, sich bei den Bauern von Polleben Respekt zu verschaffen. Dem hatte der Fürst zugestimmt und nachdem man noch den Kammerherrn von Phul als Kirchenpatron kontaktiert hatte, war alles in die Wege geleitet worden. Eine Sorge weniger! Sie konnten es sich heute schmecken lassen. Doch da war noch etwas: Eigentlich hatten sie nach dem Essen die Kirchenrechnungen der letzten zwei Jahre prüfen wollen. Von Münchhausen hatte ausdrücklich dem Elias Hartmann befohlen, sie zu heute fertigzustellen. Er hatte sogar dem Kantor-Substituten am 15. Juni die Helbraer Kirchenrechnung als Muster mitgegeben. Aber die Rechnungen waren nicht da, aus welchen Gründen auch immer. Das war ärgerlich. Bei Licht besehen hätten sie den neuen Pfarrer gar nicht einführen dürfen, ehe nicht die Finanzen des Vorgängers abgesegnet waren. Es war mehr als ärgerlich, es war gegen die Regel. Sie seufzten. Ach, immer fand sich doch ein Haar in der Suppe!
Amtmann Starke und Justitiar Einicke ließen sich nicht lange bitten, unbekümmert griffen sie zu. Dazwischen versuchten sie durch Fangfragen herauszubringen, wes Geistes Kind der neue Pfarrer sei. Würde er kuschen? Sie hatten dabei durchaus ihre Hintergedanken. Mit der Mansfelder Grafschaft stand es schlecht. Bald würde sie endgültig aufgeteilt werden: halb zu Kursachsen, halb zum Herzogtum Magdeburg gehören. Der Staat und die Kirche hatten zwar sicher gemeinsame Interessen, aber es gab auch handfeste Gegensätze. Wie stand Schmidt zur "Union", dem Zusammenschluss von Lutheranern und Reformierten, den der preußische König vorantreiben wollte? Wie stand er überhaupt zum preußischen Staat? Die Vakanz des Pfarramtes war für das Amt recht bequem gewesen. Nun war mit Spannungen zu rechnen, die aus den Predigten des Pfarrers vor Ort und seinen Ansprüchen an Amt und Bauern resultierten. So ganz offen und gelöst konnten die beiden Männer heute kaum sein.
Das traf sicher auch auf die beiden Kirchväter und den Bauermeister zu. Einerseits waren sie froh, dass die Vakanz zu Ende ging. Jeden Sonntag einen andern Prediger aus einer der umliegenden Pfarren abzuholen und wieder zurückzubringen, das war sehr lästig gewesen. Die Hochzeiten, ja sogar die Taufen hatten oft aufgeschoben werden müssen, bei Beerdigungen ging das aber nicht. Es war immer schwer gewesen, Vertreter für diese Kasualie zu besorgen. Andererseits waren sie in den letzten Dienstjahren des alten Pfarrers und erst recht nach dessen Tod sehr selbständig gewesen. Niemand hatte ihnen Vorschriften gemacht. Jetzt beobachteten sie über ihren Tellerrand hinweg den neuen Mann. Sie waren entschlossen, von Anfang an zu zeigen, wer in der Gemeinde die Führung hatte. Zuviel heitere Stimmung konnten sie sich nicht leisten, trotz des guten Broyhans und des Weins. Die Kirchväter von Polleben waren auf der Hut!
So hatten eigentlich alle neben dem Gefühl, dass die Ordnung endlich wieder hergestellt war, auch ihre Zweifel und Sorgen, dicht neben der Erleichterung verbreitete sich Gereiztheit. Nur gut, dass es die Sitte gab! Sie ließ die Esser die Form wahren. Man reichte sich die Schüsseln. Man trank einander zu. Man sprach das Dankgebet. Dann baten die Herren aus Eisleben, man möge die Pferde vorspannen lassen. Sie wollten bei guter Zeit wieder zu Hause sein. Man verabschiedete sich. Anerkennende Worte fielen für die Bitterfeldtin. Ob Pfarrer Schmidt und seine Frau mit zurück nach Eisleben fuhren? Oder kam doch eher ein Gespann aus Ahlsdorf und holte sie ab in ihr bisheriges Pfarrhaus, wo ihre vier Kinder auf sie warteten?
Der Umzug der Schmidts von Ahlsdorf nach Polleben war nun beschlossene Sache. Und er wurde auch bald ins Werk gesetzt. In der Kirchrechnung steht "Wegen Translocation des Herrn Pastoris Schmieds von Alsdorf pp laut Liquit." vier Reichsthaler und 3 Groschen. Sehr groß kann das Umzugsgut demnach nicht gewesen sein. Die Möbel gehörten wohl zum Teil zum Inventar eines Pfarrhauses, so dass nur Wäsche, Geschirr und Bücher den Ort wechseln mussten. Oder hatte der Gutsherr von Ahlsdorf als Großvater der Pfarrfrau den Hauptteil der Fuhren zur Verfügung gestellt?
Zwei Wochen nach dem Festessen schreibt mein Vorfahr ins Kirchenbuch von Polleben:
 
"Continuatio des copulations-Registers von Dom. V. post Trinitat. 1773,
 
 
an welchem ich, Andreas Valentin Leberecht Schmidt, gewesener Pastor zu Ahlsdorf, allhier zu Polleben meine Anzugs-Predigt gehalten, nachdem ich vorher den 3. p. Trinit. vorgestellt und investiert worden."
Das klingt ganz munter. Acht Hufen Landes – eine "gute Pfarre". Das lässt sich noch aus dem Nachruf auf Pfarrer Schmidt erkennen. Der Nachfolger meint, dass Schmidt "zur Belohnung seiner Treue und Ermunterung in den Fleiß und Treue seines Amtes von dem damaligen Churfürstlichen Eißlebischen Consistorio anno 1773 nach Polleben versetzt wurde". Der Landesherr bestimmte, wer eine solche gute Stelle bekam. Das Konsistorium hatte dabei das Vorschlagsrecht, auch beratende Funktion. Der Patron der Kirche, der Kammerherr von Phul, hatte zumindest ein Vetorecht. Dass er gegen "Leben und Lehre" von Pastor Andreas Schmidt nichts einzuwenden hatte, war für die Investition wichtig. Er ließ durch seinen Vertreter, den Justitiar des Amtes Polleben, "Stimme und Vollwort" erteilen. Und die Gemeindevertreter, die Kirchväter? In der Ankündigung der Neubesetzung des Pfarramtes heißt es:
"Es wird demnach solches der Christlichen Gemeinde hierdurch gebührend bekannt gemacht, und sie erinnert, sich gedachten Tages zum Gottes-Dienste vormittags … in hiesiger Kirche fleissig einzufinden, die zu haltende Probe-Predigt andächtig anzuhören, auch nachher sich durch ihre Deputirte auf die Befragung, so des vorzustellenden Predigers Lehre wegen vor dem Altar an sie geschehen wird, gehörig zu erklären, und was hierauf ferner gehandelt werden wird, in Gottseeliger Stille zu gewärtigen."
Das Protokoll der Investition schildert, dass die "vor dem Altar zu dem Ende erschienenen Vorsteher der Gemeinde, ob sie wieder des vorgestelleten Candidaten Lehre, Leben und Wandel etwas erhebliches einzuwenden hätten befraget … Da nun berührter Herr Justitiarius Einicke Namens seines Herrn Principals … sich erklärte, daß weil sein Herr Principal an des vorgestellten Predigers Lehre, Leben und Wandel nichts zu erinnern hätten, er dessen Stimme und Vollwort ertheilen und dem neuen Prediger zu seinem künfftigen Amte den Göttlichen Beystand und Seegen anwünschen wolle; obberührte Abgeordnete der Gemeinde diesem Voto auch beystimmeten." Dass sie sich an dieser Stelle gegen die Lehre des neuen Pfarrers hätten auflehnen können, ist unwahrscheinlich. Falls sie nicht einverstanden waren, musste sich ihr Widerstand anders äußern.
Acht Hufen Landes – eine gute Pfarre. Aber zu einer guten Pfarre gehörte, dass die Äcker gut gepflegt wurden. Und das war weitgehend Sache der Bauern. Auf den Höfen lagen Spanndienste für die Pfarre, mit deren Hilfe der Pfarrer oder die Pfarrfrau das Land selbst bewirtschaften konnten. Wir können uns vorstellen, wie viel soziales und ökonomisches Geschick dazu gehörte. Leichter war es wohl, wenn der Pfarrer das Land verpachtete. Dann waren allerdings die Erträge für ihn mit Sicherheit geringer. Der Pfarrer als Bauer – wir können uns solche Verhältnisse noch aus den Kriegsjahren vorstellen.
Mein Vorfahr kannte es gar nicht anders. Er hat sich nicht abschrecken lassen. Dreizehn Jahre hat er in Polleben gewirkt – als Prediger und Seelsorger wie als Bauer. Dabei war er nicht nur vom Wetter abhängig.
Überliefert ist in der Akte Rep. A 12 a I Nr. 2132, dass es sein erstes Ziel war, das Pfarrhaus zu renovieren. Er versuchte, den Kirchvater Elias Hartmann dazu zu bewegen. Vergeblich! Im Oktober 1773 schreibt Schmidt an das Konsistorium:
"Ew. Hochwohl- und wohlgebohrnen, wie auch HochEhrwürden habe der Ehre, der Wahrheit nach zu berichten, daß ich die Pfarr-Gebäude zu Polleben mehrentheils in so wandelbaren Zustande angetroffen habe, daß sie, wenn sie nicht noch baufälliger und schadhafter werden sollen, nothwendig repariert werden müßen. Insonderheit erfordert es die Nothdurft, daß
1.) die Pfarr-Wohnung bestiegen, und das darauf befindliche sehr durchlöcherte Ziegel-Dach neugeleget,
2.) die schadhafte und zum theil zerbrochenen, zum Theil auch verfaulten Fenster in beßeren stand gesetzet,
3.) die Kammer, worinnen der seel. H. Past. Schumann geschlafen, und welche einer Rauch-Kammer ähnlich siehet, ausgeweiset, und endlich
4.) die Unter-Stube im Hause zur linken Hand, die ich zu meiner künftigen Wohnstube, weil sie zur Wirthschaft sehr bequem ist, erwählet habe, dergestalt verändert werde, daß der Estrich Fußboden, auf welchem kaum ein großer Mensch, geschweige denn ein Kind sicher gehen kan, herausgenommen, an dessen statt ein neuer breterner Fußboden geleget, und der darinne befindliche Ofen solchergestalt umgesetzet wird, daß mit demselben zugleich die neben der Stube liegende Kammer, worinnen sich künftig das Gesinde aufhalten soll, geheitzet werden kan.
Dieser nothwendigen reparaturen wegen habe ich bald nach meinem Anzuge mit dem jetzigen Kirchvater, Elias Hartmann, communiciret, und von demselben die oft wiederholte Vertröstung erhalten, daß er noch vor Winters alles in guten und brauchbaren Stand setzen laßen wolle. Da aber solches noch bis dato nicht geschehen, gleichwohl der Winter immer näher kömmt, und oberwähnte reparaturen unumgänglich nöthig sind: So muß Ew. Hochwohl- und Wohlgeb. wie auch HochEhrwürden allergehorsamst ersuchen, zu Anstellung dieser reparaturen den erforderlichen Consens hochgeneigtest zu ertheilen.
Die Kosten dazu sollen von denen binnen hier und Gallen einkommenden KirchenAckern Pachtgeldern, Erbzinsen und den Interessen genommen und unter meiner Aufsicht bestmöglichst menagiret werden. Unter dieser Versicherung getröste ich mich der gebetenen Consens-Ertheilung und beharre allstets in geziemendem respect
Ew. Hochwohl- und Wohlgebohrnen, wie auch HochEhrwürden
allergehorsamster Diener
Andr. Val. Leber. Schmidt"
Der Pfarrer versucht, die Instanz des Kirchvaters zu umgehen. Er fühlt sich als Herr der Einnahmen aus den Pfarräckern und will persönlich "menagieren", also haushalten. Das Konsistorium akzeptiert seine Initiative, antwortet formal streng, in der Sache aber nachgiebig:
"Es hätte euch obgelegen zu denen in Vorschlag gebrachten Reparaturen auf der Pfarr-Wohnung zu Polleben richtige Anschläge anzuschaffen und selbige zur Approbation einzusenden. Da aber dieses nicht ordnungsgemäß geschehen, gleichwohl bey jetzt herannahender Herbst Witterung die ausbeßerung der Dachung keinen Aufschub zu leiden scheint; so wollen Wir zwar geschehen laßen, daß ihr die schadhafte Dachung der Pfarr-Wohnung vor eintretendem Winter besorget, hingegen habt Ihr wegen der übrigen angebrachten Reparaturen genau bestimmte Anschläge von denen Handwercks Genoßen, so bey diesen Reparaturen concuriren, Gewerken zu Faßung weiterer Resolutionen einzureichen."
Die Streichung in diesem Text ist ein großes Entgegenkommen des Konsistoriums. Der Pfarrer hätte nach Vorschrift mehrere Voranschläge beibringen müssen, wie bei Ausschreibungen üblich. Aber anscheinend hat Herr von Münchhausen die Worte des Pfarrers Le Petit noch im Ohr, dass "die Gemeinde verwildert sey" und er "nichts als Streit und Verdruß" befürchte. Schmidt soll es nicht noch schwerer haben. Deshalb kann mein Vorfahr von den örtlichen Meistern Voranschläge fordern und sie schon am 30. Oktober einreichen. Der Pfarrer betont in seinem Beischreiben, dass die Angebote günstig seien. Ein erster Kontakt zu den Gemeindegliedern ist hergestellt: der Glaser Johann Christoph Große, der Maurer Johann Heinrich Nehlewein und der Zimmermann Christian Kemniz werden im Pfarrhaus tätig. Da die Akte nichts weiter enthält, wurden diese Voranschläge wohl genehmigt und ich darf hoffen, dass die Pfarrfamilie mit ihren kleinen Kindern und ihrem Gesinde zu Weihnachten im Trockenen und Warmen gesessen hat.
Wegen der Kirchrechnungen hingegen hat mein Vorfahr sich noch lange mit seinen Pollebenern herumschlagen müssen. Warum das so war, ist nicht leicht darzustellen. Sicher ist es eine Art Machtkampf zwischen dem Justitiar und dem Pfarrer. Und es geht um Geld! Mein Vorfahr schreibt dazu:
"Ew. Hochwohl und Wohlgebohrnen, wie auch HochEhrwürden ergangenen Verordnung zu allergehorsamster Folge solte ich zwar heute die Kirchrechnungen von Polleben einreichen, weil es mir aber ohnmöglich ist, dieser Verordnung eine Genüge zu leisten, da der Kirchvater, Elias Hartmann, auf die von mir erhaltene Anweisung, die vom vorigen Jahre noch rückständige Kirchrechnung zuvor von dem hiesigen Cantore substituto, Johann Gottlob Liebscher, verfertigen zu laßen, solche aber, seinem Vorgeben nach, auf scharfen und nachdrücklichen Befehl des Herrn Justitiar Einickens, bey hiesigem Amte in duplo eingereichet, und das dritte exemplar davon für sich zur Nachricht behalten und aufgehoben habe; so muß ich es bey dieser bloßen BerichtsErstattung bewenden laßen, Hochderoselben weitere VerhaltungsBefehle erwarten, und in geziemendem respect allstets beharren
Ew. Hochwohl- und Wohlgebn auch HochEhrwürden
allergehorsamster Diener A.V.L. Schmidt
Polleben den 2. Nov. 1773"
Diesen Brief kann ich nur so deuten, dass Kirchvater Hartmann und Justitiar Einicke die Zuständigkeit des Pfarrers und des Mansfeldischen Konsistoriums in Eisleben nicht anerkennen. Die Genehmigung von Einnahmen und Ausgaben, die Prüfung der Belege und der Richtigkeit der Zahlen betrachten sie als Sache des Amtmanns. Bedeutet das: Dorf Polleben gegen Stadt Eisleben, Kammerherr von Phul und sein preußischer König gegen den Mansfelder Grafen Fürst Fondi? Heißt das außerdem: Die preußische protestantische Union gegen den orthodoxen Lutheraner Andreas Valentin Leberecht Schmidt, den "treuen Wächter auf den Mauern Zions", wie er im Nachruf genannt wird? Oder ist das viel zu hoch gegriffen? Handelt es sich einfach um eins der stärksten Motive der Welt: persönliche Abneigung?
Jedenfalls nicht nur. Das enthüllt der letzte Teil dieses Aktenstücks, der Schmidts Situation vier Jahre nach seiner Einsetzung als Pfarrer von Polleben betrifft. Mein Vorfahr schreibt am 18. Juni 1777 an den Generalsuperintendenten in Eisleben:
"Ew. Hochwürden Magnificenz dancke ich mit unterthänigen Gehorsam und tausend Freuden für die zur Abnahme der hiesigen Kirch-Rechnungen glücklich gemachte Anordnung und mir davon gütigst gegebene Notification, versichere zugleich heilig, daß ich die mir dabey aufgelegte Geschäfte mit allen nur möglichen Eifer ausrichten werde, unterstehe mich auch, Hochderoselben unschätzbaren Frau Gemahlin allergehorsamst zu ersuchen, dieselben wollen auf den festgesetzten 3ten Julii mit deroselben hohen Gegenwart mich und meine Frau, die sich nebst mir Hochderoselben beiderseits zu fernerer hohen Gewogenheit unterthänig empfiehlet, ebenfalls mit beehren, und dadurch desto stärcker verpflichten, daß ich insonderheit mit geziemendem respect allstets beharren kann
Ew. Hochwürdigen Magnificenz allergehorsamter Diener A. V. L. Schmidt."
Es scheint, dass das Ehepaar Schmidt inzwischen Haus und Pfarrhof soweit in Stand gesetzt hat, dass es gerne Besuch aus der Stadt empfängt. Möglich auch, dass man manche Mängel und Probleme gern bei einem Spaziergang durch den Garten besprechen möchte. Nicht auszuschließen ist, dass die Frau des Superintendenten eine entfernte Verwandte ist, auf die Maria Elisabeth Schmidt sich freut. Jedenfalls ist neben dem "geziemenden respect" Vertrauen und Vorfreude fühlbar. Die Pfarrfrau überlegt vielleicht schon, womit sie die hohen Gäste aus Eisleben bewirten kann. Aber ob es zu diesem Besuch wirklich gekommen ist, ist nicht sicher.
Vorausgegangen ist dieser Einladung ein Brief des neu ernannten Generalsuperintendenten F. A. Müller: Der Pfarrer solle nach fünf Jahren endlich die Kirchrechnungen dem Konsistorium vorlegen, oder wenigstens nach den Originalen die "monita" ausfüllen, Fragebögen zum Kirchenvermögen. Gleichzeitig kündigt Müller dem Justitiar Einicke seinen Besuch auf der Pfarre von Polleben an. In Müllers eigener Sprache liest sich das so:
"Unter dem 18. Junii A.C. habe ich nach vorhergenommener Abrede mit des Herrn Hofrath von Münchhausens Hochwohlgebohren so wohl an den Herrn Amtmann Einicken in Polleben, als an den Herrn Past. Schmidt daselbst geschrieben, daß das Fürstl. Consistorium beschloßen habe, die seit 5 Jahren hinterstelligen Kirch-Rechnungen durch uns Commissarios den 3. Julii A.C. auf der Pfarr-Wohnung abnehmen zu laßen, und zugleich dem Pastori die gefertigten monita zur Beantwortung übersendet. Auf dieses Schreiben habe ich von dem Herrn Amtmann Einicken gar keine, von dem H. Past. Schmidt aber die Antwort sub A. erhalten. Letzerer ließ mir zugleich mündl. durch seinen Informat. Friderici sagen, daß ich Ihm, um die monita beantworten zu können, meine sämmtlichen Rechnungen schicken möchte, weil Er noch nie eine Rechnung in Polleben gesehen hätte. Ich ließ Ihn darauf ebenfalls nur mündl. wißen, daß ich meine Rechnungen nicht wohl aus den Händen geben könne. Er solle sich selbige aber von dem Kirchvater nebst den dazu gehörigen Belegen und Quittungen geben laßen, selbige mit ihm zugleich durchgehen, und hernach die Beantwortung der monitorum zum Durchsehen hereinsenden; Im Fall sich aber der Kirchvater weigere, die Rechnungen zu extradiren, habe Er desfalls schleunigen Bericht ad Consistorium zu erstatten."
Der Generalsuperintendent erklärt hiermit seinen Ratskollegen sein Vorgehen. Es handelt sich um einen sogenannten Umlauf unter den Assessoren. Müller weiß nicht genau, ob sein Besuch in Polleben die leidige Sache mit den fehlenden Abrechnungen beenden wird. Er will sich, bevor er dorthin reist, der Unterstützung seiner Kollegen sicher sein. Sehr interessant finde ich, dass neben dem offiziellen Briefwechsel zwischen Pfarrer und Superintendent einige Informationen nur mündlich gegeben werden. Pfarrer Schmidt lässt durch Friderici bestellen, dass "Er noch nie eine Rechnung in Polleben gesehen hätte." Man bedenke: 230 Jahre später kann ich im Landeshauptarchiv Magdeburg ohne Schwierigkeiten Rechnungen betrachten, die meinem Vorfahren nicht gezeigt wurden! Das Konsistorium hat zumindest einige dieser Rechnungen, will sie aber dem Pfarrer nicht zusenden. Was ist an den Kosten von Wein und Gewürzen so geheim? Auch das Gehalt des Kantors oder die Unterstützung für arme Schulkinder kann doch nicht Grund dieser Auseinandersetzungen sein! Allerdings bekommt die Superindententur 1 Reichstaler und 18 Groschen als "Subsidien" und für die Abnahme von 5 Jahren Kirchenrechnungen 14 Reichstaler und 12 Groschen – kann die Summe von etwas mehr als 16 Reichstalern die Eifersucht des Amtmanns Starke oder des Herrn von Phul erregen? Muss man nicht annehmen, dass es um die Vertuschung von Unterschleif geht?
Der zweite Brief meines Vorfahren vom 22. Juni 1777 beleuchtet das Klima, in dem sich dieser Streit abspielt:
"Ew. Hochwürdigen Magnificenz ergangenen Hohen Befehle zu allergehorsamster Folge, habe zwar heute, nach vollendeten Früh-Gottesdienste, dem hiesigen Kirchvater, Elias Hartmann, eröfnet, daß er mir, auf Hochderoselben Befehl, die letzten Kirch-Rechnungen, benebst denen dazu gehörigen Belegen, um aus denenselben die nöthige Beantwortung der mir zugeschickten Monitorum fertigen zu können, entweder heute Nachmittags, oder morgen früh überbringen solle, hierauf aber von demselben keine zuverläßige resolution, sondern nur, auf meinen dazu gethanen Vorschlag, die Versicherung erhalten habe, daß er mir, nach der heutigen Nachmittags-Kirche melden würde, ob und wenn er dieserhalb zu mir kommen wolle. Weil er aber bald darauf nach Eißleben gegangen, und also weder zu mir gekommen war, noch auch, seines Außenbleibens wegen, sich bey mir entschuldigen laßen; So schickte ich den hiesigen Bauermeister, Christian Erhardten, in sein Hauß, um nach obgedachtem Kirchvater fragen, und nach der Ursache seines Außenbleibens mich erkundigen zu laßen, ich erhielt aber zur Antwort, daß er denselben nicht zu Hause angetroffen habe. Immittelst aber war er, wie mir nur erwehnter Bauermeister versichert, ohngefehr Abends um 8 Uhr nach Hause gekommen, bey meiner Pfarrwohnung vorbey und nach dem hiesigen Amte zu gegangen, auch von da wieder zurück bey den in hiesiger Nachbarschaft wohnenden Mit-Kirchvater Christian Pallas gekommen. Ich ließ ihn, durch schon genannten Erharden, den ich sogleich zu ihm schickte, unter freundlicher Begrüßung sagen, daß er sogleich, weil er so nahe in der Nachbarschaft wäre, auf ein paar Worte zu mir kommen möchte, und da er mir, unhöflich genug, zurücksagen ließ: hinte komme ich nicht und wenn ich komme, da komme ich; so sahe ich mich genöthiget, ihn, in erwehnten Christian Pallas Hof, ehrerbietig entgegen zu gehen. Ich that solches, ich traf ihn an, ich fragte ihn, ob ihn der Bauermeister Erhard zu mir gerufen hätte, und als er solches bejahet, fragte ich weiter, ob er nicht, als mein Beicht-Kind, so bescheiden hätte seyn, und auf mein Erfordern zu mir kommen solle. So wenig er solches leugnen konnte, so wenig scheuete er sich, mir unters Gesicht zu sagen, daß er mir seine Kirch-Rechnungen sowenig als seine Belege vorzeigen würde, weil ihm solches der gnädige Cammerherr von Phul, der ihm allein und nicht das Consistorium etwas zu befehlen hätte, verboten habe, daß vorjetzo gewiß keine Rechnung würde gehalten werden, weil davon der gnädige Cammerherr sowenig als der H. Amtmann Starke, Nachricht erhalten hätte. Diese und mehrere dem Hochfürstl. Consistorio zu Eißleben höchst praejudicirliche Reden, welche der Kirchvater Hartmann hierbey gebrauchet, wird vielleicht gedachter Christian Pallas, und der Candidat Herr Friderici, welche beide ich hierüber zu Zeugen angebe, beßer als ich selbst, bemercket haben."
Man sieht das Dorf Polleben vor sich: Die Wege des Kirchvaters Elias Hartmann, die morgens von seinem Hof zum Früh-Gottesdienst, dann die sieben Kilometer nach Eisleben, vermutlich in das Stadtpalais des Herrn von Phul, dann wieder heim, daraufhin noch einmal am Pfarrhaus vorbei ins Amtshaus zu Justitiar Einicke und schließlich in den Hof des Mit-Kirchvaters Christian Pallas führen, wo ihm Pfarrer Schmidt "ehrerbietig", aber entschlossen entgegentritt. Schmidt hat den Candidaten Friderici als Zeugen mitgebracht. Es kommt zur Konfrontation. Der Kirchvater gesteht zwar zu, dass er das Beichtkind seines Pfarrers ist, aber er schmäht das Konsistorium. Nur der Kammerherr von Phul, der Kirchenpatron, hat ihm etwas zu befehlen! Und solange der es nicht erlaubt, werden weder er noch der Amtmann Starke dem Pfarrer die Rechnungen und dazugehörigen Belege zeigen.
Wie mag Schmidt sich gefühlt haben? Einsam zwischen zwei Stühlen? Ahnt er, dass er der letzte Pfarrer von Polleben ist, der durch das Mansfeldische Konsistorium investiert wurde? Bewundert er den Kirchvater Elias Hartmann, der so klar die Zeichen der Zeit erkennt und sich auf die Seite der Zukunft schlägt? Als Schmidt 1786 stirbt, gehört Polleben nach Magdeburg. Das Festessen der Eislebener Konsistorialräte 1773 war zugleich ein Abschiedsessen. Dass die Abrechnung über das Mahl der Köchin Bitterfeldtin erst 1776 erfolgt, in der Handschrift meines Vorfahren Liebscher, und auch 1777 dem Konsistorium nicht gezeigt werden soll, ist das Menetekel der Sequestration der Grafschaft Mansfeld. Der Kammerherr von Phul ist wegen seiner Verschuldung vollständig abhängig vom Preußischen König. Seine demütigen Bitten um das Amt Polleben füllen die Akte Rep A 32 a Nr. 261. Am 7. Juni 1768 hat ihm Friedrich der Große von Bielefeld aus ein Billet gesandt: "Bester lieber Getreuer, Ich habe aus Eurer Vorstellung vom 2ten dieses dasjenige, so Ihr von Euren Umständen Mir angezeiget und dieserhalb bitten wollen, mit mehrerem versehen und habe Ich selbige an das Justiz Departement, um, was nach denen Rechten geschehen kann, zu Eurer Conservation zu veranlassen, remittiret, und wünsche übrigens wohl, daß die von Adel, durch gute Wirtschaft bey dem Besitz Ihrer Güter zu conservieren mehrerer Rücksicht nehmen möchten. Ich bin Euer gnädiger König FR." Ob von Phul "gute Wirtschaft" führt oder nicht, gibt diese Akte nicht her. Auf jeden Fall ist die Abnahme der Kirchrechnung so ziemlich das letzte Recht, das ihm vom Patronat noch geblieben ist. Zudem muss er den Amtmann stützen, der die preußische Obrigkeit im Dorf vertritt und dem verarmten Adligen durch die Pacht hilft, seine Schulden abzuzahlen. Dem Geschlecht der Grafen von Mansfeld fühlt Phul sich nicht mehr verpflichtet. Schon seit 1768 "steht" es "nur noch auf vier Augen", d.h. es leben nur noch zwei Männer von dieser Familie, die beide keine Söhne haben. Eine neue Zeit ist im Anbruch.
Das fühlen auch die Mitglieder des Konsistoriums. Sichtbar wird es in der Unsicherheit ihres Verhaltens. Müller selbst schreibt:
"Meiner ohnmaßgeblichen Meinung nach halte ich dafür, daß es wohl nicht undienl. seyn dürfte, wenn nomine Consistorii an den Herrn Amtmann Einicken geschrieben und Ihm aufgegeben würde, den Kirchvater Hartmann dahin anzuhalten, daß er unverzügl. die Kirch-Rechnungen nebst den dazu gehörigen Belegen dem Pastori aushändigte, damit selbiger die Ihm zugesendeten monita ordentl. beantworten könne. Ich kann eigenmächtiger Weise nichts weiter thun, als was die observanz mit sich bringet. Daß ich nach selbigen aber auch in diesem Falle gehandelt habe, erhellet aus den beygelegten Actis de anno 1772, in welchen ich die von meinem seel. Herrn Vorfahren im Amte gemachte Anordnung eingeschlagen habe. Eißleben den 23. Junii 1777."
Die angefragten Herren äußern sich folgendermaßen:
"Da die Beantwortung der monitorum eigentl. dem Kirch-Vater und nicht dem Pastori oblieget, eben sowohl daß die monita ante term. schriftl. beantwortet werden, nicht nothwendig, sondern genug ist, wenn der Kirch-Vater hierauf die Anttwort in Termino mündl. erstattet; So bin der Meynung, daß Dmi Commissarii von Abnahme der Rechnung auf den angesagten Termin Sich nicht abhalten laßen und in solcher das Amt, dem Pastori hinkünftig die Vorlegung und Einsicht in die Rechnungen, als dem selben unstreitig wohl, die Inspection über das Aerarium, die Rechn. u. Kirch-Vater nicht abgesprochen werden mag, hinkünftig nicht zu difficultiren gütl. zu vermögen sich bemühen, allenfalls die Verweigerungs Gründe des Amts ad Protocollum nehmen, damit sodann endl. Entschließung von d. Fürstl Consistorio hierauf gefaßt werden kan. Eißleben, den 23. Jun. 1777 Carpzov
Ich trete dem Voto des Herrn General-Superintendenten Hochwürd. bey. Eisleben den 23. Jun. 1777 GvMünchhausen
Ich sollte dafür halten, daß es am sichersten ist, wenn vor der Kirch Rechnung Abnahme an den Hn Justit. Einicken nach dem von dem H. Gen.Sup. gethanen Vorschlage geschrieben wird, weil selbiger wenn er sich auch weigert dem Kirch-Vater Hartmann die verlangte Auflage zu thun, doch wenigstens Antwort ertheilen muß, außerdem aber risquiren die Hee. Commissarien meines Erachtens eine vergebliche Reise zu thun. GW. Schmidt.
Ich trete aus schon angeführten Gründen dem Vortrage des Hn Gener. SuperI. Hochwürden bey eod. Kemper
Exped. nach der Mehrheit der Stimmen Carpz"
Expediert nach der Mehrheit der Stimmen – bedeutet das, dass das Pfarrerehepaar Schmidt am 3. Juli 1777 den Besuch der Müllers empfangen hat? Oder bedeutet es nur, dass ein zweiter Brief an das Amt in Polleben geschrieben wurde und auf dessen unhöfliche Antwort hin die Reise unterblieb, weil man nicht riskieren wollte, "eine vergebliche Reise zu thun"? Drei Jahre später waren diese Theologen und Juristen ihrer Konsistorialämter ledig, sofern sie nicht nach Magdeburg übernommen wurden.
Die von Phuls überlebten zunächst das Mansfelder Regiment. Rudolph Otto von Phul hatte 1767 ein Fräulein von der Schulenburg geheiratet, ehemalige Hofdame der Königinmutter in Berlin. Die junge Frau brachte Phul 8000 Reichstaler in die Ehe. Mit Zustimmung seines "gnädigen Königs" konnte er sich noch einmal das Amt Polleben erhalten, indem er es seiner Frau überschrieb. Und 1781, nach dem Aussterben der Mansfelder Grafen und der Überführung des Eislebener Konsistoriums in das Magdeburgische, lässt Phul sich vom preußischen König sein Kirchenpatronat über Polleben bestätigen. So ist er es, der 1786 nach Schmidts Tod gemeinsam mit dem Magdeburgischen Konsistorium entscheidet, dass Schmidts zukünftiger Schwiegersohn Friedrich Christian Carl Ramdohr die Pfarrstelle bekommen soll. Aber Phuls eigene Ehe wird kinderlos bleiben. Er wird der letzte seines Stammes sein. Der König von Preußen beerbt ihn und lässt sich als Patron vom Amtmann vertreten. Damit übernimmt eine Behörde die Rolle einer lebendigen Person. Die Moderne beginnt. Das kann man auch in Polleben merken.
Mein Vorfahr Andreas Valentin Leberecht Schmidt muss sich dessen nicht bewusst gewesen sein. Der Jahreszyklus auf dem Pfarrhof, die Geburten seiner Kinder, die zwei Sonntagspredigten, zahlreichen Taufen und Beerdigungen, die Beziehungen zu den Menschen im Dorf und zu den Kollegen in den Nachbarpfarren mögen ganz und gar im Vordergrund seiner Wahrnehmung gestanden haben. Durch Patenschaften bezeugt ist ein gutes Verhältnis zum Kantor Johann Gottlob Liebscher. Und womöglich hat ihm dieser inoffiziell durchaus die Rechnungen gezeigt, die der Pfarrer offiziell nicht sehen durfte. Liebschers Bruder Johann August war Kammerdiener beim Herrn von Pful und kam oft zu den Taufen der Liebscherkinder nach Polleben. Schmidts persönliches Verhältnis zum Patron muss unter der Loyalität zum Eislebener Konsistorium nicht unbedingt gelitten haben. Materielle Not hat die Pfarrfamilie nicht gekannt, obwohl sie nach heutigen Maßstäben einfach lebte. Vielleicht hat Andreas Valentin Leberecht Schmidt sogar zu reichlich dem Speck vom selbstgezogenen Schwein und dem guten Broyhan zugesprochen, denn die letzten drei Jahre seines Lebens war er leberkrank. Anerkennend berichtet der Nachruf: "Welche angreifende und ermattende Umstände ihn doch nicht abhielten, seinem Amte, wo er nicht das Bett hüten mußte, treu fleißig vorzustehen. Wie er denn auch auf Dom. Cantate in seinem Todesjahre noch gepredigt und besonders seine Zuhörer an ihr Ende zu gedenken und sich draufselbigem vorzubereiten ermuntert und auch besonders durch die Worte Simeons zum Grunde seiner Betrachtung gelegt, Herr, nun läßest du deinen Diener in Frieden fahren."
Nur 56 Jahre wurde er alt. "Den 8. dieses wurde dieser treue Arbeiter in den Weinbergen Gottes mit einer Leichenpredigt und Abdankung öffentl. begraben", steht im Kirchenbuch unter dem 5. Juni 1786. Seine Frau und sieben Kinder haben ihn überlebt. Seinen Enkelkindern Ramdohr, die zwischen 1788 und 1820 in Polleben aufwuchsen, waren die adlige Familie von Phul und das Mansfeldische Konsistorium in Eisleben vielleicht schon ganz und gar sagenhaft.
 

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