Die Städterin

Zuerst veröffentlicht in: EKKEHARD, Familien- und regionalgeschichtl. Forschungen, Hallische Familienforscher "EKKEHARD" e.V., Neue Folge 8 (2001) Heft 1, S. 1ff

Anna Bender, verw. Hornschuh, geb. Francke, get. 28. 8. 1600, gest. ca 1649.

"Du bist eine Städterin," hat in Izmir einst der Architekt Ziya Bilgin zu mir gesagt. Leider weiß ich nicht mehr, aus welchem Anlaß. Weil ich eine Mietwohnung dem Häuschen im Grünen vorzog? Weil ich eine gewisse Freiheit von sozialem Zwang brauche? Weil unberührte Natur mir eher Angst macht, als daß sie mich begeistert? Weil Anonymität für mich kein Schreckgespenst ist? Ich weiß es nicht mehr. Und ich weiß auch nicht, ob es stimmt. Ich habe mich in Hamburg, in Wien, in Izmir und Istanbul sehr wohlgefühlt. Aber habe ich nicht auch das Dorf meiner Kindheit, Varenesch, in guter Erinnerung? Und lebe jetzt gerne in Ammersbek?

Mein Vater war Kölner, meine Mutter ist in großen und kleinen Städten, aber auch auf dem Lande aufgewachsen. Beide haben das Dorf Heusweiler, den Ort ihrer gemeinsamen Ehejahre, geliebt. Waren sie Städter? Ich bin nicht sehr heimatbezogen, nicht seßhaft, das ist wahr. Ist das schon Merkmal einer Städterin?

Meine Vorfahrin Anna Francke ist eher als ich eine Städterin gewesen. Denn sie wird 1600 in Leipzig getauft, das damals schon eine bedeutende Stadt ist. Sie stammt von Städtern ab und heiratet in städtische Familien ein. Wahrscheinlich hat sie nie auf dem Lande gelebt - was damals auch vom städtischen Leben viel weiter entfernt war als heute.

Sie ist eine Schusterstochter. Der Großvater Hans Francke ist geradenwegs aus Nürnberg nach Leipzig gekommen. Auch er war also schon Städter. Kann er nicht in Nürnberg bei Hans Sachs gelernt haben, der von 1517 bis 1576 dort Schuhmachermeister und Poet war? Der Großvater heiratet 1548 in Leipzig Anna, die Witwe von Lorenz Hofmann, der, so muß man annehmen, auch Schuster war. Diese Meister in Leipzig waren im 16. und 17. Jahrhundert sicher ein Orden, nicht jeder wurde aufgenommen in die Zunft. Die Meisterswitwe Hofmann konnte nur den heiraten, der auch die Erlaubnis erhielt, den Betrieb des Verstorbenen weiterzuführen.

Aus dieser Ehe stammt wieder ein Hans Francke, der 1556 in Leipzig getauft wird und später die väterliche Schusterwerkstatt übernimmt. Er heiratet 1599 Margarethe, Tochter des Andreas Trenckman zum Hartenstein. Hartenstein ist sicher keine große Stadt. Hauptsächlich besteht es aus dem Schloß. Ob Andreas Trenckman der Schuhmacher der Schloßherrschaft war? Oder hat Hans Francke die Familie Trenckman als Kunden kennengelernt? Ich weiß nicht einmal, ob das Hans Franckes erste Ehe war oder schon seine zweite - jung ist er ja nicht mehr, schon 43 Jahre alt. Leipzig ist um 1600 eine so große Stadt, daß es eine Menge Kirchenbücher gibt, und wenn mir der Archivar im Kirchenbucharchiv der Evangelischen Kirche, Herr Granz, nicht so eifrig geholfen hätte, hätte ich die relevanten Daten nie an einem Tag finden können. Für frühere oder spätere Ehen meiner Vorfahren, für Geschwisterkinder und das soziale Geflecht der Patenschaften blieb gar keine Zeit! Und die Eltern der Margarethe Trenckman aus Hartenstein, winkt Herr Granz ab, werde ich nie finden: die Kirchenbücher von Hartenstein sind beim Brand des dortigen Schlosses vernichtet worden.

Das erste Kind des Schusters Hans Francke II und der Margarethe Trenckman heißt wieder Anna, wie die Mutter des Mannes. Die alte Meistersfrau Anna Francke scheint ein Jahr vor der Eheschließung gestorben zu sein. Vielleicht hat sie bis dahin dem Schusterhaushalt vorgestanden? Vielleicht hat ihretwegen der Sohn nicht früher zu heiraten gewagt? Oder ist diese "Hanß Franckin" die erste Frau meines Vorfahren, des Schusters? Jedenfalls gibt es seit dem 20. August 1600 wieder eine Anna im Hause Francke. Sie überlebt die Kinderkrankheiten und wächst zu einem jungen Mädchen heran.

Kann sein, daß Anna schön ist. 18jährig heiratet sie den Setzer und Buchdrucker Hans Hornschuh. Diese Zunft gilt als besonders gebildet und selbstbewußt. Deswegen stelle ich mir vor, daß eine Schusterstochter schön sein muß, um von einem Buchdrucker zur Ehe begehrt zu werden. Aber das ist vielleicht Unsinn! Eher muß sie besonders tüchtig und praktisch gewesen sein, denn viel spricht dafür, daß der Buchdrucker Hornschuh ein Witwer mit einer Schar Kinder war, als er Annas Eltern um die Hand der Tochter bat.

Ich weiß nichts über Kinder aus dieser ersten Ehe der vielleicht schönen Anna. Ich weiß nur, daß sie vor 1634 verwitwet. Und daß sie noch einmal heiratet, diesmal nicht einen älteren, sondern einen um 10 Jahre jüngeren Mann, den 24jährigen Windenmacher Christoph Bender. Diese Tatsache hat mich noch einmal gedrängt zu glauben, daß Anna schön war. Aber vielleicht wählte auch Christoph in ihr die fröhliche Unermüdlichkeit, die Tüchtigkeit, die Klugheit? Der Kölner Ratsherr Weinsberg hat mir in seiner Autobiographie gezeigt, daß Männer der Renaissance solche Fähigkeiten bei Frauen durchaus zu würdigen wußten.

Christoph ist wie sein Vater Hans Bender Windenmacher. Nach den alten Zunftdarstellungen ist es ein besonders vielseitiger und gesuchter Beruf, da er Winden für sehr verschiedene Zwecke herstellt, von der einfachen Winde, die den Ledereimer aus dem Brunnen zieht, bis zu der Winde, mit der man die Armbrust spannt, von den Winden, die im Bergbau die Lasten bewegen, bis zu denen, mit deren Hilfe man Präzisionsbohrungen vornimmt. Als Material kommen Holz, Leder und Stahl zur Verwendung, doch die wichtigsten Teile der Winde sind die metallenen, weswegen das Windenmacherhandwerk ursprünglich zur Schmiedezunft gehörte. Der Vater Hans Bender hat sein Handwerk in Frankfurt am Main gelernt und dann 1606 in den Windenmacherbetrieb Reichelt in Leipzig eingeheiratet. Auch er war schon von Hause aus ein Städter!

Christoph Bender, unser Vorfahr, wird 1610 in Leipzig getauft. Er hat noch einen drei Jahre älteren Bruder, der heißt Jacob. Auch der ist Windenmacher. Ob die Brüder sich die väterliche Werkstatt teilen, ob einer einen neuen Betrieb eröffnet - ich weiß es nicht. Zwischen den Brüdern herrscht offenbar Einvernehmen. Jacob hat 1629 geheiratet, die Tochter eines Salzmeisters aus Frankenhausen, und Christoph heiratet 1634 seine Anna. Bei ihren Kindern sind sie sich gegenseitig immer Paten. (Das habe ich nur gelesen, bei dem großen Zeitdruck konnte ich die Geburten von Jacobs Frau Gertrud nicht abschreiben.) Trotzdem hat der Ältere wahrscheinlich das Übergewicht.

Die 34jährige Anna Hornschuh, geb. Francke, ist sicher nicht die Erbin der Buchdruckerei ihres Mannes. Sonst hätte sie wieder einen Buchdrucker heiraten müssen. Vielmehr ist ein Magister Johann Hornschuh Pate bei ihrem ersten und einzigen Kind aus der Ehe mit Christoph Bender. Und das kann eigentlich bei der Gleichheit des Vornamens (wieder ein Hans!) kein Bruder ihres ersten Mannes, sondern nur ein Sohn aus einer früheren Ehe des Setzers Hans Hornschuh sein. Und, so nehme ich an, er ist der Erbe der Druckerwerkstatt. Die leiblichen Kinder der schönen Anna sind (falls es sie gibt) noch zu jung für den Magistertitel.

Anna Bender hat nun zum dritten Mal die Zunft gewechselt. Von der väterlichen Schusterwerkstatt ist sie in die Buchdruckerei ihres ersten Mannes gekommen, jetzt steht sie einem Windenmacherbetrieb als Meistersfrau vor. Diese Flexibilität erscheint mir städtisch. Aber sie gehört wohl auch zur Umbruchszeit der Renaissance. Wir haben von den Zünften ein viel zu statisches Bild, weil wir sie nach den Jahren kurz vor ihrer Auflösung beurteilen, wo besonders ihre Starrheit zum Angriffspunkt wurde. In Leipzig jedenfalls, das beweist die Familiengeschichte, haben die Meister keineswegs nur innerhalb der Zunft nach ihrer Ehefrau gesucht!

Anna Bender, geb. Francke, verw. Hornschuh stirbt vor 1650. Da heiratet ihr so viel jüngerer Mann ein zweites Mal. Er wird noch ein drittes Mal heiraten und aus beiden Ehen mehrere Kinder haben. Mit Anna bleibt es bei dem einzigen Sohn: Johannes Bender, getauft am 26. Januar 1636. Das ist mitten im 30jährigen Krieg. Fünfmal wird Leipzig belagert und fünfmal wird es besetzt. Was für schwere Zeiten hat die Windenmachersippe Bender durchzustehen!

Winden sind auch Kriegswerkzeuge, sowohl bei der Belagerung wie bei der Verteidigung einer Stadt. Die Windenmacherei ist im Krieg ein Rüstungsbetrieb. Deswegen vielleicht sind beide Brüder Bender in Leipzig geschont worden und haben den Krieg überlebt. Ob Anna Bender die Friedensglocken noch hat läuten hören? Ihr Leben läßt mir allzu viele Fragen offen.

Aber eins muß noch festgehalten werden: die Städterin Anna Bender, geb. Francke, verw. Hornschuh gehört einer evangelischen Stadtbevölkerung an. Nürnberg, Frankfurt, Leipzig - das sind Städte, die sich früh der Reformation zugewandt und die daran festgehalten haben. Der evangelische Schuster Francke kommt um 1545 aus Nürnberg, der evangelische Windenmacher Bender kommt um 1600 aus Frankfurt am Main nach Leipzig. So kurz nach der Reformation ist das nicht gleichgültig. Noch ist die alte Universalität des Glaubens nicht ganz zerbrochen. Bei der Taufe eines Kindes aber legen sich die Eltern fest, welchem Bekenntnis sie näher stehen. Luther regte die evangelischen Pfarrer an, die Taufen in Kirchenbüchern zu vermerken. Sonst hätte man nicht gewußt, wer evangelisch war. Nur deswegen kenne ich meine Vorfahren Bender und Francke überhaupt! Denn in Leipzig gibt es Kirchenbücher, die so weit zurückreichen.

Der 30jährige Krieg ist die Feuerprobe. Das Ehepaar Bender/Francke steht ihn auf evangelischer Seite durch. Und der Frieden von Münster und Osnabrück erkennt Leipzig als evangelische Stadt an. So bleibt auch die Universität dort evangelisch. Johannes Bender, der Städterin Sohn, kann evangelische Theologie studieren und Pfarrer der lutherischen Kirchenprovinz Sachsen werden.

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