Vermutungen über Pierre Henry

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Zuerst veröffentlicht in: EKKEHARD, Familien- und regionalgeschichtl. Forschungen, Hallische Familienforscher, Neue Folge 6 (1999) Heft 4, S. 101ff

Das Geheimnis seiner Herkunft

Wahrscheinlich werde ich nie wissen, wer er wirklich war. Sein Name, Pierre Henry, der auf mich in der Heiratsurkunde seiner Tochter Catherine[1] so echt französisch wirkte, ist viel­leicht nur eine Anpassung an die Verhältnisse seiner Lebenszeit. Peter Henrich oder Henrici hat er viel­leicht geheißen - zumindest sein Vater oder Großvater könnten noch den Famili­ennamen Heinrich geführt haben. Andererseits können auch sie sich schon Henry genannt haben, denn sehr wahrscheinlich waren sie Lothringer. Der Vater soll Jean Henry geheißen und in "Kirche" gewohnt haben. Das gibt Pierre in seiner Heiratsurkunde[2] an.

Nach diesem Ort "Kirche", der im "Departement de la Moselle" liegen soll, habe ich schon sehr gesucht. Die Familien- und Heimatforscher von Saarlouis haben dies "Kirche" als "Kirsch-les-Sierck" verstanden[3] - und tatsächlich, das paßt gut. Es liegt im Moseltal,  nicht weit von Saarlouis, es ist ein Bauerndorf, wie noch heute sichtbar, so könnte  Pierre Henrys Bruder  Laurent dort 1802 "cultivateur" gewesen sein, womöglich auf dem Hof des schon verstorbenen Vaters Jean. Was nicht paßt, ist, daß ich im sehr sorgfältig und in lesbarem La­tein ge­führten Kirchenbuch des Dorfes[4] die Geburt von Pierre Henry nicht finden kann.

Laut Heiratsurkunde soll er am 19. Oktober 1772  geboren sein. Aber in dem ganzen Jahr ist dort kein Petrus getauft worden. Von 1769 - 1775 kein Peter Henry! Weder die mütterli­che Familie Dupont noch die väterlichen Henrys kommen in den Jahren zwischen 1760 und 1785 im Kirchenbuch vor. Dabei ist die Liste der Familiennamen im Kirchen­buch nicht groß. Kirche muß um 1772 ein überschaubares Dorf gewe­sen sein. Und Pastor Dräger war ein ordentlicher Mann. Hat Pierre Henry also gelogen? Und hat er seinen Bruder veranlaßt,  ihn darin vor den Eltern seiner Braut zu unterstützen? Ja, war es überhaupt sein Bruder?

Wenn man erst anfängt zu zweifeln, steht plötzlich alles zur Disposition. Pierre Henry ist mein Vorfahr gewesen, aber schon seine Tochter hat ihn nicht viel zu Gesicht bekommen. Er war bei seiner Heirat "en Service chez le Général Daultanne". Auch das kann vieles be­deuten. War er ein Bauernsohn, wie der bäuerliche Bruder nahelegt anzunehmen, so könnte er "Bursche" beim General gewesen sein, eine Art Kammerdiener, zuständig für alles Per­sönliche von der Unterwäsche bis zum Reitpferd. Allerdings ist 1802 die Revolution noch nicht vorbei. Das Heer ist auch für den einfachen Mann bis in die höchsten Stellungen durchlässig. So wird Pierre Henry schon 1807 in der Ge­burtsur­kunde seiner Tochter in Mainz "officier du Genie attaché à la grande armée" ge­nannt. Vielleicht stand der 30jährige Bräutigam 1802 in einem Dienstverhältnis zum General Daul­tanne, das dem eines Ad­jutan­ten nahekam? Möglich wäre es, wenn wir annehmen, daß Pierre Henry von Kind an zwei­sprachig war. Dann könnte er sich einem Mann wie Daultanne, der aus dem Vaucluse stammte und wahrscheinlich nicht Deutsch konnte[5], vor einem Deutschlandfeldzug empfoh­len haben. Doch muß es später auch eine persönliche Vertrautheit zwischen den beiden Be­rufssoldaten gegeben haben. Die letzte Nachricht über Pierre Henry, die ich bis jetzt habe, die Erwähnung im Sterbe­akt seiner Frau 1818[6], lautet: "Homme de Con­fiance du Général Daultanne".

Auch Akten lügen. Der Beamte "faisant les fonctions d'officier public de L'état Civil" ist nicht allwissend. Die Familien geben sich ihm gegenüber gern als besser aus, als sie sind. Dazu gehören Übertreibungen hinsichtlich der beruflichen Stellung von Verwandten ebenso wie das Verschweigen von zerbrochenen Beziehungen. Sogar bewußte Mystifikationen soll es geben. Wie soll man dem nachkommen? Dieser Vorfahr, dem ich da nachspüre, hat 150 Jahre vor mir gelebt, in den Revoluti­onskriegen und den Napoleonischen Zeiten. Er war Soldat, Offizier.


 

Der General Daultanne

Sein Vor­gesetzter, der Brigade­general Daultanne, ist selbst ein relativ un­bekannter unter den Generälen der napoleonischen Ära[7]. Seit seinem 17. Lebensjahr beim Militär, hat er schon der Monarchie gedient[8]. Seit 1791 steht er im Dienst der Revolution. 1793 kommt er zur Armée de la Moselle als "adjoint aux adjudants généraux". In dieser Zeit könnte der junge Moselländer Pierre Henry ihm zugeteilt worden sein. Es folgen wilde Ver­setzungen, manchmal mehrmals in einem Jahr, dabei wird Daultanne fast jedesmal befördert. Seit dem 20. November 1801 ist Daultanne Kommandant in Saarlouis. Wenige Monate hat sein "Diener" Pierre Henry Zeit, die junge Françoise Blandin für sich zu gewinnen. Als die beiden jungen Leute am 14. 9. 1802 in Saarlouis heiraten, ist Napoleon seit März Konsul auf Lebenszeit. Ob die beiden für den Kriegshelden schwärmen? Daultanne seinerseits hat bei Hohenlinden unter Moreau gekämpft. Moreau ist ein Gegner Napoleons - und auch Daultanne scheint als solcher zu gelten. Jedenfalls wird er vor dem Prozeß gegen Moreau 1804 von seinem Dienst entbunden. Doch am 1. Dezember 1805 wird Daultanne Chef des Stabes von General Davout, kämpft mit bei Austerlitz und Auerstedt[9], bei der Davouts Drit­tes Korps hohen Ruhm[10] und Davout selbst den Titel eines "Herzogs von Auerstedt" ge­winnt. Sehr wahrscheinlich ist Daultanne und damit auch sein Adjutant am 25. Oktober 1806 dabei, als die von Na­poleon ausge­zeichnete Dritte Armee als erste der französischen Armeen in Berlin einziehen darf[11].

 


 

Begegnung in Kemberg

Auf diesem Weg von Jena nach Berlin kommt Marschall Davout selbst mit einem Teil des Dritten Korps durch Kemberg[12]. Die Offiziere logieren in den Bürgerhäusern um den Marktplatz, Davout im Haus des Accise-Einnehmers Groß. Dabei könnten zwei meiner Vorfahren einander begegnet sein: Der napoleonische Offizier Pierre Henry als Quartierma­cher für den Chef des Stabes Daultanne[13] und der Kemberger Bürgermei­ster Friedrich Au­gust Nat­husius in seiner Eigenschaft als Vertreter der Landstadt. Der Nat­husius ist zehn Jahre älter als der Offizier[14]. Mit welchen Augen mögen sie sich betrachtet ha­ben! Selbst wenn Henry als Lothringer Deutsch sprach - ihre Verständigung war schlecht. Der eine for­derte, der an­dere mußte notgedrungen gehorchen. Und in beiden steckt etwas von mir! Denn beiden Männern wird im Juli darauf, im Jahr 1807 eine Tochter geboren werden, von der sie jetzt noch nichts wissen: dem Offizier eine Catherine am 10. 7. 1807 in Mainz und dem Bürger­meister eine Berta Florentine am 15. 7. 1807 in Kemberg, beides Vorfahrinnen von mir. Beide im Oktober 1806 gezeugt, die eine in requirierter Unterkunft, die andere im Bürgermeisters­hause, die eine katholisch getauft und die andere evangelisch-lutherisch, die eine wächst vaterlos in Garnisonen auf, die andre in einem gebildeten Elternhaus (die Bil­dung ihrer Mutter wird noch von deren Enkelinnen ge­rühmt). Einander so unbekannt, so fremd, als lebten sie auf ver­schiedenen Sternen. In Kemberg könnten ihre Väter eine kurze Stunde miteinander über die Modalitäten der Einquartierung verhandelt haben -  aber erst hundert Jahre später werden sie zu Verwandten, wenn meine Großeltern von Mering in Köln heiraten[15].

Ob Pierre Henry seine Frau immer bei sich hatte auf dem Feldzug in Deutschland?[16] Oder hat er sie nach dem Sieg bei Auerstedt nach Berlin nachkommen lassen? Urlaub, sie in einer Garnison zu besuchen, hat er sicher nicht bekommen. In den Tagebüchern der Napoleoni­schen Kriege, die ich gelesen habe, ist nie von Urlauben die Rede. Am 25. Oktober zog das Dritte Korps in Berlin ein, am 28. Oktober hielt Napoleon eine Parade dieses Korps ab und schon am 2. November mußte General Daultanne von Berlin aus in den Polenfeldzug rüc­ken. Kaum annehmbar, daß er da seinen homme de confiance, den Pionier-Offizier Pierre Henry, habe entbehren wollen.

 


 

Krieg gegen Russland

Bei Pultusk, nördlich von Warschau, kommt am 27. 12. 1806[17] Daultannes große Stunde. Aus Marschall Davout's "Opèrations du 3.me Corps 1806 -1807"[18] geht hervor und der eng­lische Geschichtsschreiber Rogers[19] erzählt es ausführlich, wie Daultanne den Befehl sei­ner Vorgesetzten in die Tat umsetzte, das V. Korps zu unterstüt­zen und die Russen aus Pultusk zu ver­treiben. Für mich als Laien ist aus den Zusammenfas­sungen meines Gewährsmanns Rogers, die sich auf meh­rere Autoren stützen[20], schwer zu verstehen, wie eindeutig die Be­fehlslage war und was an eige­ner Entscheidung dem General Daultanne blieb. Deutlich wird, daß er nach Ansicht der be­trachtenden Militärs seine Auf­gabe gut gelöst hat. Und wenn ich auf Seite 262 unten lese, daß am Abend eines langen winterlichen Kampftages mit starkem Schneetreiben und hefti­gem Wind ein Adjutant vom Gefechtsstand des V. Korps zu Daultanne herüberkommt mit der Nachricht, der Marschall Lannes wolle noch einmal an­greifen und Daultanne solle se­kundieren, und der Text dann fortfährt: "Nachdem eine Stun­de ereignislos vergangen war, schickte Daultanne einen Offi­zier zum V. Korps herüber, um nach der Ursache zu forschen. Er meldete, daß das V. Korps auf seine Ausgangsstellungen zurückgegangen sei. Daraufhin nahm auch Daultanne seine vorderste Linie zurück ... " Dann denke ich, dieser Offizier, der da in der Winternacht in fremdem Gelände auf Pa­trouille reitet und heil zurückkehrt, sei mein Vorfahr Pierre Henry gewesen.

Den ganzen Winter kämpft das Dritte Korps gegen Rußland, ja der Feldzug dauert bis Mitte Juni. Am 19. Juni wird zwischen Napoleon, Zar Alexander von Rußland und dem König von Preußen ein Waf­fenstillstand ausgehandelt. Da stand Napoleons Armee noch in Polen. Seit Juli ist Daultanne Gouverneur von Warschau. Ob Pierre Henry dort erfahren hat, daß ihm am 10. Juli in Mainz eine Tochter geboren wurde?

 


 

Krieg gegen Spanien

Die zweite Hälfte des Jahres 1807 geht für das Napoleonische Heer ruhig vorbei. Vielleicht konnte der junge Vater seine Familie besuchen. Erst im März 1808 beginnt der Einmarsch der Franzosen in Spanien, und erst in der zweiten Hälfte dieses Jahres geht Daultanne, zum Baron des Kaiserreichs ernannt, mit Napoleon auf den neuen Kriegsschauplatz[21]. Als Napo­leon sich 1809 eilig zum Krieg gegen Österreich auf­macht, läßt er einen Teil des Heeres in Spanien zurück. Es folgt der Gueril­lakrieg, dessen Grauen Francesco de Goya in "De­sastres de la guerra" schildert. Die fran­zösische Besatzungsarmee muß inmitten einer feindlichen Bevölkerung gegen englische und provinzialspanische Trup­pen kämpfen.

In den zeitgenössischen Schilderungen dieses Spanischen Krieges, die aus den Tagebüchern oder Erinnerungen deutscher Offiziere stammen, ist mir einmal Daultanne begegnet[22]: Wil­helm Krieg von Hochfelden, damals noch Capitaine, erzählt von der erneuten Einnahme Madrids durch die Franzosen 1812, nachdem schon einmal 1807 und dann unter Napoleon 1808 Joseph, der Bruder Napoleons, als König der Spanier dort inthronisiert worden ist. Das vielsprachige französische Heer, unter ihm die Badenser, haben in Madrid Garnison be­zogen. "Der König be­wohn­te wieder sein [Madrider] Schloß, die Minister und das spanische Hofpersonal ka­men von Valencia (wohin sie mit dem König vor Wellington geflohen waren) in Madrid an. Marschall Jourdan als Major-General führte das Kommando der Armeen; zum Chef des Ge­neral-Stabs wurde Ge­neral Drouet ernannt, der den 21. Dezember anlangte. Die Gouver­neursstelle versah der würdige General Daultanne; mehrere Divisions-Generale be­zogen ihre Quartiere in Madrid; sie lebten groß und verschwenderisch, glänzende Bälle wurden ab­wechselnd gegeben, wobei jedesmal Joseph erschien ... ...  Die französischen Truppen unter Joseph lagen nun ganz ruhig und erholten sich von ihren Strapazen ... So war denn endlich auch das Jahr 1812 unter vielen Müheseligkeiten vorübergegangen; das schöne Königreich Andalusien und andere mittägliche Provinzen wieder in Feindes Gewalt; ... Sämtliche Regi­menter waren durch Ab­gang aller Art geschwächt, mußten noch überdies starke Caders nach Frankreich abschicken ....Die Nachrichten übrigens, die wir über den französischen Feldzug gegen Rußland im Stillen erhielten, waren nicht dazu geeignet, uns gute Erfolge für das Jahr 1813 hoffen zu lassen; wir sahen vielmehr voraus, daß wir wahr­scheinlich Spanien in Kurzem gänzlich räumen würden ..." Und etwas später[23]: "Marschall Soult erhielt seine Abberufung nach Paris  ... indessen mußte wegen der in Rußland erlitte­nen Niederlage die französische Nord-Armee aus Spanien eiligst auf Wagen nach Deutsch­land abgesandt wer­den und es giengen im Ganzen wenigstens 50 000 Mann von den spani­schen Armee-Korps ab. Am Hof in Madrid war alles in großer Bestürzung, Joseph traf An­stalten, seine Haupt­stadt zu verlassen ... Die Generale erhielten Befehl, sich nach diesen und jenen Distrikten hinzuwenden, um das Letzte zu erpressen, auch unser Chef, der General D'armagnac, erhielt zu diesem Behuf einige Aufträge ... das Regiment Baden kam den 7. März [1813] von Val­demoro und Aranjuez nach Madrid und setzte sei­nen Marsch nach Foncarral fort, wo es übernachtete; der General, die Stabsoffiziere und einige Capitai­nes des Regiments speisten bei Daultanne[24]; nach der Tafel besuchten wir un­sern frühern Comman­danten, den braven General Leval ..." Aus dem unwillkürlichen "wir" ist zu schlie­ßen, daß Hochfelden bei die­sem Abschiedsessen bei Daultanne in Madrid dabeigewesen ist. Er hat ihn also persönlich gekannt und sein Ausdruck "würdig", den er von allen Generalen nur ihm beilegt, scheint seine Achtung vor dem schon älteren Militär auszudrücken. Ich weiß nun, daß die Biogra­phie Beauchamps recht hat, wenn sie meint, daß Daultanne in Spanien kämpfte.

Spanien bleibt bis 1814 Kriegsschauplatz. Und Daultanne soll ebensolange in Spanien ge­blieben sein. Obwohl er am 28. September 1813 ermächtigt wurde, in Pension zu gehen[25], blieb er bei der Armee, zuletzt, 1813 und 1814 unter dem Befehl des General Harispe, mit dem er die letzte Bastion, die Pyrenäen, gegen Wellington verteidigte. Wenn Pierre Henry immer treu­lich im Dienst Daul­tannes stand, hat er nicht am Rußland­feldzug Napoleons teil­nehmen müssen. Er hat, möchte man meinen, mehr die Hitze als die Kälte in seinen vielen Jahren Kriegsdienst erfahren.

 


 

Daultanne im Dienst der Bourbonen

Ebenso wie die anderen Generäle wird Daultanne anstandslos vom Regime der Bourbonen über­nommen, als Napoleon 1814 abdankt, ja, er wird Generalinspekteur der Infanterie und zum Marquis erhoben. Er erhält den Orden St. Louis. Im April 1815 ist Daultanne Chef des General­stabes unter dem Herzog von Angoulème, der den Oberbefehl über die royalisti­schen Trup­pen gegen den von Elba zurückgekehrten Napoleon hat. Der Herzog muß als Bourbone die Verteidigung des Königs übernehmen. Aber er ist kein Heerführer, schreibt M. Capéfique[26]. Deswegen wohl hat man ihm den erfahrenen Soldaten Daultanne beigege­ben. Und Pierre Henry ist auf diese Weise auch wieder im Dienst? Wahrscheinlich.

Soult, der Marschall aus dem Spanischen Krieg, ist königlicher Kriegsminister in Paris. Vielleicht hat er Daultanne diesen Posten vermittelt. Die "Spanier" könnten für den Charme  Napoleons weniger empfänglich sein als andere Offiziere. Sie fühlten sich von ihm im Stich gelassen, zu lange haben sie allein auf recht verlorenem Posten gekämpft, mußten die je­weils besten Truppen 1812 für den Rußlandfeldzug und 1813 für die Völkerschlacht bei Leipzig abgeben.

Daultanne jedenfalls läuft nicht zu seinem alten Feld­herrn und Kaiser über, als ganze Regi­menter aus den royalistischen Truppen zu Napoleon übergehen, wobei er vielleicht an Mo­reau denkt, seinen alten Chef, der bei Dresden gegen Napoleon gekämpft hat und, schwer verwundet, inzwischen verstorben ist. Der Herzog von An­goulème erwähnt Daultanne zweimal in Briefen. Das eine Mal zu Anfang der 100 Tage in einem Brief an seine Frau vom 30. 3. 1815[27]: "Ich bin sehr zufrieden mit Daultanne; er verrichtet sein Geschäft sehr gut, ist immer lustig und verträgt sich gut mit Maix, der jetzt mein guter Kopf ist ..."  Das zweite Mal erwähnt er ihn in dem Bericht über seine Kapitulation vor Na­poleons General Gilly. Dieser Bericht ist in Cadiz verfaßt, Mitte April 1815[28]. Der Herzog schildert dem König in Gent und seinen Ministern aus dem Exil das Scheitern seiner Mis­sion. Er erklärt, daß er das Restheer, das ihm nach den Schlachten und den Überläufen noch blieb, nicht im Stich gelas­sen habe. ".... ich sendete den General d'Aultanne, Chef mei­nes Generalstabes, zu dem Ge­neral Gilly nach Pont-Saint-Esprit, um mit demselben eine Über­einkunft abzuschließen, wo­durch mir mit meinem Korps der Durchzug über Pont-Saint-Esprit und der Rückzug an die Durance gesichert würde. Am 8. ten setzte ich mich wieder in Marsch." Darauf fallen ein Drittel des 10. Linienregiments und die Artillerie von ihm ab. Der Herzog fährt wörtlich fort: "General d'Aultanne traf in Pont-Saint-Esprit den Obersten Saint-Laurent vom 10. Jä­gerregiment, mit welchem er übereinkam, daß ich, vom 10. Linien­regiment geleitet, meinen Rückzug nach Marseille nehmen sollte. Allein General Gilly ver­weigerte die Bestätigung des Vertrags. Diese Nachricht erhielt ich zu Pierrelette, und da man General d'Aultanne als Ge­fangenen zurückbehielt, so schickte ich den Baron von Da­mas, Unterchef meines General­stabes, an den General Gilly ab ..." Der Herzog von An­goulème gerät dann selbst noch 6 Tage in Gefangenschaft, weil Napoleon die Kronjuwe­len erpressen will. Ob der Herzog den General Daultanne dabei wiedersah? Wahrscheinlich nicht. Man wird die hochrangigen Ge­fangenen wohl getrennt verwahrt haben. Damas ver­handelt mit dem General Grouchy. Der Herzog und Damas reisen nach Spanien aus. Was aus Daultanne wird, schreibt Angoulème nicht. Nach dem französischen Lexikon Militaire, dessen Namen mir mein Gewährsmann Eric Dau­bard verschwieg, wurde d'Aultanne am 10. April 1815 nach Paris gerufen. Dort erwartete ihn Napoleon. Was haben die beiden Männer miteinander geredet? Hat Napoleon dem alten General geschmeichelt, ihm ein Angebot gemacht? Hat er ihn beschimpft? Das Ergebnis je­denfalls steht fest: D'Aultanne wurde abgesetzt, aus den Listen der Armee gestri­chen und unter Bewachung nach Grenoble gesandt. Und Pierre Henry? Wenn er 1818 "Hommes de Confiance" des Generals genannt wird, muß er d'Aultanne in dieser schwieri­gen Lage ei­gentlich begleitet haben! Dann, so kann ich folgern, war mein Vorfahr nicht in Waterloo.

 


 

Daultanne geht in Pension

Nach Napoleons Sturz wendet sich das Blatt. D'Aultanne wird Commandant der 7. Divisi­on, im August wird er in seinen militärischen Rang wieder eingesetzt, man bietet ihm das Kommando über die 2. Division an. Doch nun hat der 56jährige genug.  Er fordert seine Pensionierung und erhält sie auch. Daultanne kehrt nach Paris zurück, wo er sich 1816, in dem Jahr, in dem seine Biographie gedruckt wird, auch aufhält. Er steht nicht auf der Pro­scriptionsliste für bonapartistische Offiziere. Und er muß nicht ins Ausland fliehen. Deswe­gen wird Pierre Henry auch kein "soldat laboureur" sein, wie es sie zwischen 1815 und 1819 so viele gab: entlassene Soldaten, die als Landarbeiter ihr Leben fristeten - eine Demüti­gung, die offenbar tief empfunden wurde. Deshalb kann 1818 die Familie von Pierre Henry mit Selbstbe­wußtsein dem Bürgermeister von Meung-sur-Loire erklären, der Mann der ver­storbenen Françoise Josephe Henry sei "homme de confi­ance de général Daul­tanne". Eric Daubard, mein treuer Helfer bei Fragen, die das französische Militär betreffen, meint, "homme de confiance" sei kein militärischer Titel, es bedeute eher etwas wie "Sekretär". Das leuchtet ein. Auch der pensionierte General hat noch ein Büro, braucht Schreib- und Botendienste und betraut damit seinen Pierre Henry, den Genossen langer Kriegsjahre. So hat mein Vorfahr, jetzt 46 Jahre alt und Wit­wer, Arbeit und Brot.

 


 

Geheimnis bis ans Ende

Nach der vagen Aussage der Heiratsurkunde seiner Tochter Catherine, die sich jetzt, als Preußin, Catha­rina nennt, ist Pierre Henry auch 1828 noch am Leben, Ingenieur-Offizier und, was er auch bei ihrer Geburt schon war, ab­wesend. Am 7. Januar 1828 ist General Daultanne auf seinen Gütern in seiner Heimat Valréas gestorben. Ist Pierre Henry bei ihm bis zuletzt? Und ver­paßt dadurch die Hochzeit seiner einzigen noch lebenden ehelichen Tochter am 18. Februar in Saarlouis?

Hat Pierre Henry den General Daultanne mehr als seine Familie geliebt? Hat das Soldatenle­ben ihn Frau und Kindern gänzlich entfremdet? War er ein Haudegen? Oder eher ein Mann wie Heinrich Christian Teudt, ein Mann, der sich in alles zu schicken weiß und seinem Vor­ge­setzten ohne viel Kritik gehorcht, wenn auch manchmal über die Unbequem­lichkeiten des Adjutantenpostens seufzend? Hat er die Möglichkei­ten des Offiziers, die ihm viel­leicht nicht an der Wiege gesungen waren, hoch geschätzt? Hat seine Begabung ihn ins Corps du Génie geführt oder einfach der Bedarf an Ingenieuren? Und was an Greueln hat er gesehen - oder auch selbst verübt?

Gotthilf Theodor von Faber hat in seinem Buch über die Revolutionsarmee[29] den französi­schen Soldaten von 1792 bis 1806 als Zeitgenosse geschildert. Mag auch vieles et­was über­trieben sein: Faber ist überzeugt, daß die Armee vom General bis zum einfachen Solda­ten ein Berufsethos hatte, das mit der großen Selbständigkeit des einzelnen in diesem Heer zu­sammenhing. Hier wurde einem die Verantwortung für sich selbst nicht abgenom­men, hier wurden zwar Befehle im großen gegeben, aber die Ausführung im Detail dem Soldaten überlassen. Es gab keine entehrenden Strafen für kleine Vergehen, dafür aber den Tod für große. Es gab viel Entbehrungen, wenig Fürsorge fürs leibliche Wohl, aber An­er­kennung, Kameradschaft und Raum zur Entfaltung von Fähigkeiten. Schließlich war jeder Rang für den Tüchtigen erreichbar.

Ins Heer der Zweiten Restauration ließ sich Daultanne nicht mehr übernehmen. So ist ver­mutlich auch Pierre Henry nicht mehr aktiver Soldat gewesen, sondern hat seinem Herrn noch 1819 auf Kommandantenposten in St. Louis bei Basel im Großherzogtum Baden ge­dient.  Hat er seine Enkelkinder Mering in Saarlouis oder Koblenz je gesehen? Beim Tod von Daultanne ist Pierre Henry 56 Jahre alt. Ob er in Valréas, der Heimat seines Chefs, auch selbst begraben wurde?

 



[1] Zivilstandsregister von Saarlouis, 18. 2. 1828

[2] Zivilstandsregister von Saarlouis, 14. 9. 1802

[3] Wallraff'sche Kartei im Kreisarchiv von Saarlouis, ihr folgt Gernot Karge in seinen Computerausdrucken.

[4] Kirchenbuch von Kirsch-les-Sierck, auf Mikrofilm in den Archives Départementales in Metz

[5] geboren als Joseph-Augustin Fournier de Loysonville am 18. 8. 1759 in Valréas (Vaucluse) nach dem Lexikon Militaire, S. 291f

[6] Zivilstandsregister von Meung-sur-Loire vom 28. Februar 1818
[7] siehe Carle Vernet, Campagnes des Français sous le Consulat et l'Émpire, Album des cinquante-deux ba­tailles et cent portraits de maréchaux, géneraux et personnages les plus illustres ..., Paris , um 1820, das Daultanne nirgends erwähnt.

[8] Siehe seine Biographie in A. de Beauchamps, Biographie moderne a-c, 2me ed. 3. tom. 1816 und in dem Lexikon Militaire, S. 291f.

[9] Brigadegeneral Daultanne, Chef des Generalstabes unter General Davout in der Schlacht bei Auerstädt 1806, gefunden in: Die Generale der französischen Republik und des Kaiserreichs, v.d. Verf. der Soldaten der Republik und des Kaiserreichs, Leipzig 1847, S. 232

[10] Anschaulich geschildert in H.C.B. Rogers, Die Armee Napoleons, Stuttgart 1976, S. 218ff

[11] Rogers a.a.O., S. 242ff.

[12] siehe Rogers, der den Übergang über die Elbe bei Torgau und Napoleons Quartier "bei Wittenberg" er­wähnt und Akten der Stadt Kemberg, bearbeitet von Carl Elbe in "Anno dazumal, Kriegsnöte in der Fran­zosen-Zeit 1806 und 1813", Kemberg o.Datum

[13] Daß die Adjutanten die Quartiermacher waren, entnehme ich den "Tagebüchern und Briefen des schaum­burg-lippischen Hauptmanns Heinrich Christian Teudt aus den Napoleonischen Kriegen 1803 - 1813", be­arb. v. F. Verdenhalven, Rinteln 1985

[14] geboren 20. 12. 1762 in Baruth als Sohn des General-Accise-Einnehmers Heinrich Wilhelm Nathusius dort

[15] Meine Großeltern Clara Eberhardt und Carl von Mering heirateten am 9. Sept. 1907. Clara ist die Uren­kelin von Berta Nathusius und Carl ist der Enkel Catherine Henrys.

[16] nach Gernot Karge in Saarlouis soll das auch in napoleonischen Feldzügen noch vorgekommen sein - bis nach Rußland seien Frauen und Kinder dem Heer gefolgt. Literarische Belege für das Mitführen oder Nachkommenlassen von Familienangehörigen zu napoleonischer Zeit finden sich in Ina Seidel, Das Wunschkind und in Bozena Nèmková, Die Großmutter.

[17] Rogers, a.a.O., S.260ff samt den dort angegebenen Quellen

[18] Dienstlicher Bericht des Marschalls Davout, hrsg. 1896 von seinem Neffen General Davout, Herzog von Auerstedt

[19] Rogers a.a.O., S. 260ff

[20] u.a. auf Sir Robert Wilson, The Russian Army and the Campaigne in Poland, 1810, zusammengestellt nach russischen Aufzeichnungen.

[21] laut Daultannes Biographie, siehe Fußnote 6, laut Lexikon ......, s. 291 erhält er die Ordre, sich nach Bayonne zu begeben, am 9. September 1808 und wird am 12. September "aide-major général de l'armée d'Espagne". Es gibt natürlich keinerlei Beweis dafür, daß Pierre Henry mit Daultanne nach Spanien ging.

[22] In: Geschichtliche Darstellung sämtl. Begebenheiten und Kriegsvorfälle der Grosherzogl. Badischen Truppen in Spanien von 1808 bis Ende 1815 in Verbindung der allgemein bedeutenden Ereignisse der Rheinischen Bundes-Division in der französischen Gesamt Armee, bearb. v. Wilhelm Krieg v. Hochfelden, Major, Freiburg 1822, S. 181 - 185

[23] Hochfelden, a.a.O., S. 184

[24] Nach dem Lexikon .... ist Daultanne seit dem November 1812 "commandeur de l'ordre de Charles-Frédéric de Bade". Das erklärt, warum die badischen Offiziere bei Daultanne zum Abschied speisen.

[25] laut Lexikon ...., S. 292

[26] in seinem sehr kenntnisreichen Buch: Geschichte der 100 Tage, dt. Carlsruhe u. Freiburg 1843

[27] Capéfique, a.a.O., I. Teil, S. 286, Brief aus Pont-Saint-Esprit an die Herzogin von Angoulème, die in Bordeaux ist.

[28] Capéfique, a.a.O., II. Teil, S.64

[29] Gotthilf Theodor von Faber, Bemerkungen über die Französische Armee der neuesten Zeit oder der Epo­che von 1792 bis 1807, Königsberg, 1808

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