Auch eine Frau um 1800

Oft raten mir interessierte Freundinnen, die Biographien bekannter oder gar berühmter Frauen heranzuziehen, wenn ich über meine Vorfahrinnen schreiben will. Da finde man so vieles über den Alltag von Frauen der damaligen Zeit, z. B. über Frauen um 1800 gebe es eine Menge in Carola Sterns lesenswerten Lebensbildern der Dorothea Schlegel oder der Rahel von Varnhagen.

Aber meine Vorfahrin Anna Maria Ziemer ist 1773 nicht in Berlin oder Göttingen geboren, sondern in Kirchheimbolanden in der Pfalz, nicht als Tochter eines gebildeten Kaufmanns oder gar eines Professors, sondern als Tochter eines Beständers, das heißt, des Pächters eines städtischen Bauerngutes, und sie wurde nicht in der Welt des liberalen Judentums oder im Umkreis einer Universität erzogen, sondern in einer kleinen Residenzstadt. Wie weit können Zeitgenossen voneinander entfernt sein! Dass sie kein Genie war, bleibt da noch unberücksichtigt.

Anna Maria ist von ihrer Mutter Maria Susanna Adam her eine Kirchheimbolanderin. Adams gibt es im 18. Jahrhundert viele in der Stadt. Schon um 1700 ist Henrich Adam Hafner- oder Häffnermeister in Kirchheim. Die Hafner stellen Gebrauchsgeschirr aus Ton her, das in keinem Haushalt fehlen darf. Zwei seiner Söhne, Johann Christoph und Johann Friedrich, sind wie der Vater Bürger und Häffner in Kirchheimbolanden. Christoph scheint etwas erfolgreicher zu sein als Friedrich: er wohnt in der Oberstadt, ist Ratsverwandter, hat einen Kirchsenior zum Schwiegervater. Aber auch Friedrich hat sein Auskommen in der neuen Vorstadt. Sein Schwiegervater Johann Konrad Häßer ist ebenfalls Bürger in Kirchheim und sein Schwager Häßer ist Wagner in der Stadt. Als Friedrichs jüngste Tochter wird Maria Susanna am 19. 2. 1732 geboren. Sie heiratet am 18. 12. 1759 Johann Wilhelm Ziemer von der Heyd.

Die Ziemers sind fremd in Kirchheimbolanden. Woher sie kamen, weiß ich nicht. Der Leithof auf der Heyd ist ein städtisches Bauerngut, das Johann Wilhelm mit einem älteren Verwandten, vielleicht seinem Vater, als "Beständer" bearbeitet. Beständer besaßen Zugvieh und Werkzeug. Sie pachteten Haus und Hof gegen Naturallieferungen an den Eigentümer. Die Mengen wurden vertraglich festgeschrieben. Gute Beständer blieben oft ihr Lebtag, auch die Witwen mit Söhnen oder Schwiegersöhnen konnten solche Verträge erneuern.

Johann Wilhelm Ziemer, Anna Marias Vater, ist nicht ganz so ausdauernd. Als sein Vater oder Onkel Johann Peter Ziemer 1762 fast 70jährig stirbt, gibt er den Hof auf und findet Arbeit und Wohnung auf der "Kohlhütte". Das ist vielleicht eine Kokerei, wo aus Braunkohle Koks gebrannt wird. Dort werden seine mittleren Kinder geboren.

Als aber meine Vorfahrin Anna Maria Ziemer 1773 geboren wird - sie ist das jüngste Kind und ihre Mutter ist schon 41 Jahre alt - , wird als Geburtsort Kirchheim angegeben, nicht mehr die Kohlhütte. Ihr Vater, drei Jahre jünger als die Mutter, ist Bürger der Stadt. Um diese Zeit hält sich der Fürst von Nassau-Weilburg gern in seinem neuen Schloß in Kirchheim auf, die Stadt blüht, vielleicht hat Johann Wilhelm Ziemer im Umkreis des fürstlichen Hofes eine Anstellung gefunden.

Anna Maria Ziemer lernt lesen und schreiben - zumindest wird sie später sauber ihren Namen unter ihre Heiratsurkunde setzen, was ihre älteren Schwestern nicht können. Wieviel sie lesen kann und vor allem, was ihr Lesestoff ist, kann man nicht wissen. Die Bibel käme in Frage. Anna Maria wird ordentlich lutherisch konfirmiert. Doch spielt sich gerade vor ihrer Einschulung der "ABC-Buch-Krieg" von 1777 ab. Fürst Carl von Nassau-Weilburg wollte als aufgeklärter Fürst ein überkonfessionales Schulbuch einführen. Vor allem die lutherische Mehrheit der Bevölkerung fürchtete dadurch an Einfluß zu verlieren, vermutet Wilhelm Kreutz - oder man fühlte sich auch nur "überfahren", wie wir heute sagen, weil der Fürst zwar "alles für das Volk, aber nichts durch das Volk" machen wollte. Es kommt zu "gewalttätigen Protesten". Dabei ist Kirchheim nicht stocklutherisch. Es gibt Katholiken und seit 1735 auch eine reformierte Gemeinde. Wird Toleranz zu Anna Marias Rüstzeug für ein schwieriges Leben gehören?

Kirchheim ist heute noch ein hübsches Städtchen. Damals, als Anna Maria Ziemer aufwuchs, war es mit dem noch neuen barocken Schloß, der Orangerie, mit den damals modernen, heute so stilvollen Kirchen, den schmucken Kavaliers- und Bürgerhäusern und der alten Stadtbefestigung sicher ein angenehmer Ort. Die Anwesenheit des Hofstaats sorgte auch für kulturelle Anregungen. 1778 spielte Mozart auf der Orgel. Kirchheim um 1790, als Anna Maria 17 Jahre alt ist, erfreut sich einer charmanten Behäbigkeit.

Aber dann kommt's. Zunächst habe man in Kirchheimbolanden die französische Revolution kaum wahrgenommen, schreibt Wilhelm Kreutz. Sicher habe man davon in Zeitungen gelesen, sicher habe man werbende Flugschriften deutscher Revolutionäre gesehen, sicher habe man von rebellierenden pfälzischen Dörflern, die ihre "alten Rechte" auf den Gemeindewald gegen ihre Fürsten geltend machten, gehört. Aber bis zum Winter 1792 bleibt Kirchheimbolanden ruhig. Dann kommt der französische Revolutionsgeneral Custine.

Immer wieder lese ich in den lokalen Geschichtsbildern der linksrheinischen Orte, wie die "Befreiung vom alten Joch" mißlang. Es wundert mich als Kind von Krieg und Nachkrieg nicht. Wie kann ein Heer befreien? Kreutz schreibt von "Besatzungspraxis". Vom 4. Oktober 1792 bis zum Februar 1793 rissen die Requirierungen in der Gegend um Kirchheimbolanden nicht ab. Custine hatte 45 000 Mann durch den Winter zu bringen. Obwohl sich um die Jahreswende 1792/3 achtundzwanzig "Constitutionsagenten" um den Ratsbürgermeister Johann Daniel Kalbfuß in Kirchheim geschart hatten, erfolgte die Wahlkampagne für ein demokratisches Parlament des Rheinlands viel zu spät, "um gegen die verwurzelte Anhänglichkeit der Bürger gegenüber ihrem Regenten ankommen zu können". War es Anhänglichkeit an den Regenten? Mir scheint, die Adams und die Ziemers sahen keinen Grund, den Schwärmern zu trauen, die sich mit einem General verbündeten.

In diesem unruhigen Januar 1793 stirbt Johann Wilhelm Ziemer, Anna Marias Vater, der Bürger von Kirchheim. Gerade in diesen schlimmen Zeiten bleibt die Mutter mit vier jungen Töchtern allein. Der Sohn scheint früh das Elternhaus verlassen zu haben. Er steht nicht in den Konfirmationslisten, aber auch sein Tod ist nicht vermerkt. Von diesem einzigen Bruder Anna Marias habe ich außer seinem Taufeintrag nie eine weitere Nachricht gefunden.

Kurz nach der konstituierenden Sitzung des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents am 17. März 1793 in Mainz erobern die Allierten, Preußen und Österreicher, das linksrheinische Land zurück. Doch noch vor dem Winter kommen die Franzosen wieder, diesmal ganz offen als Eroberer. Der "Plünderwinter" 1793/4 ergeht über die Pfalz. Kirchheimbolanden soll eine "Brandschatzungssumme" von 90000 Gulden zahlen, was es trotz aller Mühe nicht kann. Der junge Fürst ist geflohen. Dann kommen, ab Mai 1794, wieder die Preußen. Auch sie requirieren. Die Nordpfalz ist "Hauptkriegsschauplatz." Ich weiß nicht genau, wie das aussieht, aber ich kann mir denken, dass die vier Töchter Ziemer viel Angst ausstehen müssen.

"Besondere Bedeutung erlangte Kirchheimbolanden als vorübergehendes Hauptquartier der preußischen Armee, ja, im Sommer 1794 erhellte noch einmal der Glanz einer zuendegehenden Epoche das barocke Schloß. Am 20. Juni 1794 begannen hier die Verhandlungen von Möllendorfs mit den Bevollmächtigten Englands und Hollands über die Erfüllung des gegenseitigen Subsidienvertrags." Von Möllendorf heißt der preußische Feldmarschall.

Wie gern möchte ich wissen, ob sich in Möllendorfs Begleitung ein Bataillon "Berliner Husaren" befand! Anna Maria Ziemer ist in diesem Sommer 21 Jahre alt. Wenn sie nicht schon verliebt ist - jetzt könnte sie sich verlieben: in einen 20jährigen Husaren namens Franz Joseph Caspar von Mering. Was meine Phantasie mir vorgaukelt: er ist blessiert, und sie pflegt ihn gesund. Ein anderer Soldat stellt ihr nach, und der adlige Husar rettet sie. Seine Augen sind braun, seine Stirn ist hoch, sein Haar und Bart sind schwarz, 5 Fuß 6 Zoll ist er groß. Das weiß ich aus einer Polizeibeschreibung.

Aber sonst weiß ich gar nichts. Nichts, als dass die beiden am 14. 3. 1799, also 5 Jahre später, in Kirchheimbolanden vor dem Bürgermeister Kalbfuß als Zivilstandsbeamten der französischen Regierung heiraten. Da ist Anna Maria im 8. Monat schwanger.

Was ich aus Büchern weiß: Die Franzosen sind in die Pfalz zurückgekommen, weil die Preußen wichtigere Sorgen in Polen hatten. Es geht drunter und drüber. Der Freiheitsbaum wird gepflanzt und wieder abgebrochen. Anna Maria und ihre Schwestern hungern oder verdienen sich etwas. Im Januar 1797 stirbt die Mutter, 65 Jahre alt. Es ist eine der letzten Eintragungen im Kirchenbuch, ehe die Franzosen es zugunsten der "Civilregister" schließen. Seit dem 4. November 1797 gehört Kirchheimbolanden zur "Fränkischen Republik", und es gilt der revolutionäre Kalender.

Es gibt diese anonyme Klatschgeschichte über Franz Joseph Caspar von Mering in den Andernacher Akten im Landesarchiv in Koblenz. Da ist Mering bei den Husaren in Berlin und "entführt" dort eine "Bürgers- oder Soldatenfrau" mit Kind und kommt mit ihr nach Mainz-Kastel, wo er sie verläßt, um Arbeit in Kirchheimbolanden zu suchen. Er ist Trinker. Sie wird immer seine "Beyschläferin" genant. Sie verfolgt ihn sein ganzes Leben lang mit den Kindern, die er ihr macht. Immer versucht er von ihr los zu kommen, aber sie gibt keine Ruhe, obwohl er sie betrügt. Schließlich verrät sie ihn 1821 in Dierdorf aus Rache, und er verliert seinen letzten Job.

Mag die Klatschgeschichte manches Richtige über Franz Joseph Caspar von Mering enthalten - zum Beispiel die Tatsache, dass er 1816 wegen passiver Bestechung verurteilt wird - Anna Maria Ziemer tut sie Unrecht. Selbst wenn sie 1794 nicht dem Mering, sondern einem andern Soldaten nach Berlin gefolgt sein sollte, hat sie 1799 doch ihn und keinen andern in Kirchheimbolanden geheiratet. Dass die beiden sich mit der zivilen Trauung zufrieden gaben, ist kein Wunder. Der Mering ist katholisch, Anna Maria ist lutherisch. Es ist eben Revolution! Dass bei den Geburtseinträgen ihrer Kinder nie jemand von der Familie Adam als Zeuge auftaucht, zeigt, wie weit sie sich von ihren Ursprüngen entfernt hat. Was die Klatschgeschichte höhnisch vermerkt, dass die beiden die Frechheit hatten, sich später in Kopenhagen als Ehepaar auszugeben, ist aber doch ihr gutes Recht.

Dass die Verhältnisse in Kirchheimbolanden 1799, als die beiden heiraten, nicht stabil sind, sieht man an Anna Marias Schwestern. Alle drei sind noch unverheiratet, obwohl die älteste schon 38 Jahre zählt. Maria Elisabeth, die zweitjüngste, heiratet fast gleichzeitig mit Anna Maria. Ihr Mann wird der Tagelöhner Schottler, der auf dem Leithof wohnt. Sie stirbt ein gutes Jahr später, vielleicht während einer Schwangerschaft. Die zweitälteste, Maria Charlotte, hat im August 1800 ein uneheliches Kind, das kurz nach der Geburt stirbt. Sie selbst stirbt nur 18 Tage später. Die älteste heiratet 1801 den Mann ihrer jüngeren Schwester, den Tagelöhner Schottler, und kehrt damit auf den Leithof zurück, auf dem sie geboren ist. Sie bleibt kinderlos und stirbt 1809. Anna Maria hat alle ihre Geschwister verloren.

Franz und Anna Maria Mering betreiben eine Brandweinwirtschaft in der Oberstadt. Auch das sieht nicht nach stabilen Verhältnissen aus. Schon möglich, dass die ganze Gesellschaft, die Töchter Ziemer und ihre Freunde, die Trau- und Geburtszeugen, all diese jungen Leute zwischen 25 und 35 Jahren im verarmten Kirchheimbolanden ein leichtsinniges Volk waren. Franz ist so früh verwaist, er ist so lange bei den Husaren gewesen - vielleicht ist er etwas verwildert? Trotzdem heiratet er Anna Maria, als sie ein Kind erwartet. Ist das das Katholische an ihm? Und überzeugt er dadurch Anna Maria, so dass sie einwilligt, ihre Kinder katholisch taufen zu lassen, jedenfalls in Kopenhagen, weit weg von zu Haus?

Die schnelle Aufeinanderfolge der Geburten (1799, 1800, 1803, 1807, 1810, 1811, 1812 1816) macht unwahrscheinlich, dass die beiden seit ihrer Eheschließung viel getrennt waren. Vielleicht war er wirklich Trinker und betrog sie. Sie blieb bei ihm. Nennt man das "verfolgen"? Noch zwei Tage vor ihrem Tod gebiert Anna Maria das jüngste Kind ihres Mannes. Da ist sie 42 Jahre alt. Am 7. Februar 1816 stirbt sie in Speyer. Wer auch immer den Mering 1821 verraten hat - sie war es nicht. Sie hat nicht einmal seine Verurteilung mehr erlebt. Vielleicht ist er auch erst nach ihrem Tod wirklich zum Trinker geworden.

Dass sie mit ihm nach Dänemark geht, wird wohl hauptsächlich an den elenden Verhältnissen in Kirchheim liegen. Wahrscheinlich sind die Versprechungen des Werbers hoch. Aber vielleicht hat Anna Maria auch das Gerede der immer noch zahlreichen Adams in Kirchheimbolanden gründlich satt. Und die Franzosen sind Feinde für Franz Mering, der sein "von" verschweigen muss, der vielleicht auch sein elterliches Vermögen verloren hat durch die Besetzung von Kastel. Auswanderungspläne hatten damals viele arme Leute in der Pfalz, lese ich in den Akten.

Die lange Reise bis nach Kopenhagen durch das immer noch unruhige Deutschland ist sicher schwer, noch dazu mit einem Säugling, der kleinen Johannetta. Das erste Kind, auch eine Johannetta, ist kurz nach der Geburt gestorben. Ich kenne keine Parallele zu Franz Merings Entschluß. Aber Dänemark stellt in diesen Jahren ein großes Heer auf, Deutsch ist in diesem Heer Verkehrssprache, da die Militärakademie in Kiel liegt. Der Kronprinz Friedrich selbst spricht mehr Deutsch als Dänisch. Seine Frau und seine Minister sind Deutsche.

Trotzdem ist die Entscheidung der Merings falsch. Dänemark gerät zwischen alle Fronten, nach der Völkerschlacht von Leipzig ist es von allen Staaten verlassen und bankrott. Die Gehälter der Beamten und Soldaten werden in wertlosem Papier bezahlt. Silber darf nicht ausgeführt werden. Ausländer müssen das Land verlassen. Ich habe guten Grund anzunehmen, dass die Familie Mering Ende 1813 oder im Frühjahr 1814 ohne einen Pfennig aus Dänemark abreist, mit sechs kleinen Kindern, die Zwillinge gerade ein Jahr alt.

Ach, Anna Maria, welches Elend! Wenn das deine Mutter wüßte! Ich weiß nicht, wem von allen meinen Vorfahrinnen die napoleonischen Kriege so übel mitgespielt haben wie dir. Trotzdem steht dir das Ärgste noch bevor.

Ich habe im Straßenmuseum in Germersheim einen Plan vom Straßennetz der Pfalz gesehen. Bauinspektor Spatz vom Straßen- und Flußbauamt Speyer hat ihn 1814 gezeichnet, um eine neue Straßenwärter-Einteilung vorzuschlagen. Napoleon hatte viele Straßen und Brücken gebaut, Inspektor Spatz möchte dieses System auch unter neuen Verhältnissen - noch hat die Pfalz nur eine vorläufige Verwaltung - pflegen und erhalten. Ab Sommer 1815 gehört die Pfalz zu Bayern. Neben den Straßenwärtern werden "Chausseebereuter" eingestellt, wohl eine Art Straßenpolizei, beritten, vielleicht auch bewaffnet. Und, nach allem, was das Straßenmuseum Germersheim hergibt, schlecht bezahlt. Einer von diesen Chausseebereutern, an der Straße von Speyer nach Oppersheim, wird der entlassene dänische Feldwebel Frantz Mering.

Die Geschichte seines Falls muß gesondert erzählt werden. Genug, im November 1815 macht er sich strafbar im Amt durch passive Bestechung. Wie mag Anna Maria davon erfahren haben? Haben es andere ihr hinterbracht? Hat Franz es ihr selbst erzählt? Hat er, wie vor Gericht, auch vor ihr seine Unschuld beteuert? Das Geld hat er wohl kaum nach Hause gebracht, aber vielleicht Nahrungsmittel und Süßigkeiten für die Kinder. Anna Maria ist wieder einmal schwanger. In Ungewißheit und Kummer gebiert sie am 5. Februar 1816 ihr neuntes Kind. Schon zu diesem Zeitpunkt wird ihre tapfere Älteste Johannetta die Versorgerin der sechs lebenden Geschwister sein. Anna Maria erholt sich nicht mehr von dieser Geburt. Aus dem Arresthaus in Speyer schreibt Franz Mering am 9. November 1816 an seinen Vetter, den ehemaligen Hofgerichtspräsidenten von Köln, den sogenannten "Freiherrn" Friedrich Caspar von Mering: "Meine Frau ist aus Gram gestorben". Das geschah am 7. Februar 1816 in der Wormser Straße in Speyer, Haus 249, im gelben Quartier, nach Angaben ihres Mannes morgens um 6 Uhr.

Die Wormser Straße in Speyer heute, das rotgestrichene Haus steht an der Stelle, wo das Miethaus Nr. 249, in dem die Familie Mering wohnte, gestanden haben muss. Im Hintergrund sieht man das Altpörtel, einen Stadttorturm, der damals als Arresthaus diente.

Diese Todesstunde ist ein Skandal, wenn der Oberbürgermeister Claus, der den Sterbeact aufsetzt, sich nicht verhört hat. Denn gerade an diesem 7. Februar nachmittags um 5 Uhr kommt Franz Mering ins Oberbürgermeisteramt, das als Standesamt fungiert, und meldet die Geburt seiner jüngsten Tochter Maria Mering. Sie sei vorgestern nacht um elf Uhr geboren, gibt er zu Protokoll. Warum meldet er nicht zugleich mit der Geburt der Tochter auch den am frühen Morgen des 7. erfolgten Tod der Frau? Weiß er es nicht? Ist er seither nicht zu Hause gewesen? Hat er auf die Geburt seines jüngsten Kindes getrunken, anstatt sich um seine Frau zu kümmern? oder hatte er Hausverbot bei Anna Maria? Wer mag bei ihr gewesen sein in ihrer letzten Stunde? Nicht Franz Mering - sonst hätte er schwerlich vor dem Oberbürgermeister ihren Tod verschweigen können.

Anna Maria Mering wird lutherisch begraben, in der Konfession, in der sie getauft, konfirmiert und erzogen ist. Alle ihre Kinder sind römisch-katholisch. Ob es ihr leid darum war, ist nicht mehr zu erforschen.

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