Ein Professor von Mering in Halle

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Zuerst veröffentlicht in: EKKEHARD, Familien- und regionalgeschichtliche Forschungen, Hallische Familienforscher "EKKEHARD" e.V., Neue Folge 14 (2007), Heft 2.

 

Manchmal muss man eine Ausnahme machen. Eigentlich schreibe ich nur über meine direkten Vorfahren. Aber meinen Hallischen Freunden vom EKKEHARD zuliebe will ich im Jahr des Stadtjubiläums 2006 eine Hallenser Geschichte bearbeiten. Da ich über meinen einzigen Vorfahren in Halle, den Sanduhrmacher Johann Christoph Wagner[1], noch nichts herausbringen konnte, wähle ich den Medizinprofessor Joseph von Mering. Immerhin ist er mit mir verwandt – ich bin eine geborene von Mering und der Professor ist ein Vetter dritten Grades von meinem Urgroßvater. Vor allem aber gehört er nach Halle: siebzehn Jahre, von 1891 bis 1908, hat er in Halle gewirkt.

Das ist gut bezeugt. Professor Dr. med. Joseph von Mering steht im Großen Brockhaus und im Großen Meyer, in Fischers Biographischem Lexikon wie in der Encyclopedia Britanica. Der Hallenser Professor Rudolph Zaunick hat dem „weltbekannten Leopoldina-Mitglied und hallischen Ordinarius der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg“ 1952 eine differenzierte Würdigung[2] gewidmet. Die Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Halle-Wittenberg vom August 1959 bewahrt ihm ein ehrendes Andenken im Aufsatz über die Geschichte der Medizinischen Poliklinik[3] und 1968 widmet Renate Gärtner von Merings Leben und Wirken in Halle eine Doktorarbeit[4]. Allein neun Nekrologe in wissenschaftlichen Zeitschriften des Jahres 1908[5] sind nachzulesen! Merings Beteiligung bei der Deutung des Diabetes mellitus und seine Arbeiten über die Barbiturate sind in die Medizingeschichte eingegangen. Man findet ihn in den einschlägigen Internet-Artikeln erwähnt. Besonders die Entdeckung des Veronals ist mit seinem Namen verbunden. Aber auch ein zu Beginn des 20. Jahrhunderts beliebtes Lehrbuch der Inneren Medizin hat er herausgegeben.

Wozu dann noch Familienforschung, muss ich mich fragen. In die Diskussion über den Wert seiner Entdeckungen kann ich mich als Nicht-Mediziner nicht einmischen. Wenn ich wenigstens aus seinem persönlichen Nachlass zitieren könnte! Aber Joseph von Merings Nachkommen leben, so weit sie von Mering heißen, in den Vereinigten Staaten. Meine Anfragen bei ihnen haben kein Ergebnis gehabt. Ich bin auf Veröffentlichungen und Akten angewiesen wie jeder andere Biograph auch. Weiß ich irgendetwas besser über diesen Mann, nur weil auch mein Vater, meine Brüder, meine Neffen von Mering heißen?

Vielleicht kann man sagen: als Familienforscherin nähere ich mich dem berühmten Mann mit Humor. Einige Merings kenne ich persönlich, über einige Merings früherer Generationen habe ich geforscht und geschrieben. Ich bin selbst eine Mering. Zwar ehrerbietig, aber doch zutraulich klopfe ich bei ihm an: Wer bist du, Joseph von Mering? Und was hat die Stadt Halle für dich bedeutet?

Joseph von Mering war nämlich beileibe kein gebürtiger Hallenser. Köln ist die Heimatstadt der Merings. Schon 1553 ist der erste nachweisliche Vorfahr dort Bürger geworden[6]. Zwei Domherren, ein Stadtgraf sind der Stolz der Familie. Das Wappen ist zum ersten Mal 1675 bezeugt, ungefähr seit 1700 ist das Adelsprädikat „von“ oder „de“ gebräuchlich. Aber der Untergang des Fürstbistums Köln in den Revolutionszeiten hat die Merings schwer getroffen. Das Ende des alten Reichs war ihre Krise. Wie viel davon an den Zeitläuften, wie viel an ihnen selbst lag, wer kann das sagen? Der Vater von Joseph, Friedrich Everhard von Mering, war jedenfalls 1799 reich geboren und wurde dann ganz arm. Als Regionalhistoriker hat er eifrig über seine Stadt und seine Herkunft geforscht[7], hat Akten transkribiert und drucken lassen, die bis heute im Kölner Raum als Quellenbuch zitiert werden. Erst spät, 1843, entschloss er sich zu heiraten, und zwar seine junge Haushälterin Ursula Schmitz. Darüber schreibt er selbst: „Aber gerade bei diesen Arbeiten und heransteigendem Alter fand ich mich auch sehr allein und ohne Pflege, was mich zur Heirath mit einem braven und fleißigen Mädchen aus dem honetten und katholischen Bürgerstande bestimmte. Der Erfolg hat gezeigt, daß ich nichts mehr zu bedauern Ursache habe, als daß ich diesen Schritt nicht früher getan habe, eingedenk der Worte: ‚Die Menschen unterlassen das Beste, weil sie sich gewöhnlich fragen, was wird die Welt dazu sagen.’“[8]

Die Kölner Welt konnte dazu kaum etwas sagen. Ein adeliges Mädchen hätte man dem armen Privatgelehrten sicher nicht anvertraut. Außerdem warf die Revolution von 1848 ihre Schatten voraus. Auch die bürgerliche Welt war erschüttert, und zum Kölner Klüngel hatten die Merings nie gehört. Vielleicht gab es eine Handvoll Leute, die sich darüber amüsierten, dass der Freiherr von Mering, wie er sich als Herausgeber seiner Bücher nannte, die Tochter eines Kutschers und einer Dienstmagd zur Mutter seiner Kinder machte. Aber seinem einzigen Sohn,[9] am 28. Februar 1849 nach zwei Töchtern geboren, konnte das kaum schaden. Joseph war groß und kräftig genug, um spöttelnde Mitschüler zum Schweigen zu bringen. Als gut begabter Junge brauchte er die Lehrer nicht zu fürchten. Auch wurde der Vater von der Münchner Universität wegen seiner rastlosen Sammler-Tätigkeit mit dem Dr. h. c. geehrt und von der Berliner Akademie der Wissenschaften mit einer Verdienstmedaille ausgezeichnet.

Schlimmer war die Armut. Der Vater starb schon 1861 und die nun vierzigjährige Mutter blieb mit drei Kindern mittellos zurück. Josephs Pate namens Joseph Kaspar von Bianco, der zweite Ehemann seiner Tante Elisabeth Jodoka von Mering, wird wohl über die Stiftungsfonds Kölns dem Jungen den Abschluss des Gymnasiums und das Studium ermöglicht haben. Natürlich sollte der Stipendiat baldmöglichst auf eigenen Füßen stehen! Der Junge, der nichts hatte als seinen alten Namen und einen guten Verstand, warf sich mit ganzer Kraft auf die Wissenschaft. Gleich nach dem Abitur kehrte er der Stadt Köln auf immer den Rücken.

Die Mutter wohnte dann standesgemäß, aber unscheinbar, unter anderen Stiftsdamen im St. Annakloster von Remagen. Sie hat noch erlebt, dass Joseph die Trierer Justizratstochter Maria Fuxius heiratete und sich in Straßburg habilitierte. Ob Ursula von Mering ihre ersten Enkelkinder sah, weiß ich nicht. Sie starb 1882 im Stift und wurde in Remagen beigesetzt. Die beiden Schwestern Josephs blieben ledig.

Man kann es nicht einmal der Kaiserzeit anlasten, dass in den Nachrufen auf Friedrich Joseph von Mering zwar manchmal sein Vater erwähnt wird, aber so gut wie nie seine Mutter. Es ist wohl auch heute kaum üblich. Die Mutter eines bekannten Mannes, der sich durch seine Leistung ausweist – sie gehört doch wie Frau und Kinder ganz ins Private und hat in einer Würdigung seines Lebens nichts zu suchen. Erich Harnack, der älteste Freund des Professors, macht in seinem Nachruf eine Ausnahme: er nennt wenigstens ihren Namen: „Der Vater vermählte sich verhältnismäßig spät mit einer Dame aus dem Bürgerstande (Ursula Schmitz).“ Das ist alles. Denn Harnack fährt fort „Dem Fünfzigjährigen wurde (1849) ein Sohn geboren, der beim Tode des Vaters noch ein Knabe von kaum zwölf Jahren war.“ Söhne werden den Vätern geboren. Und was diese Söhne ihren Müttern verdanken, dass fällt nicht ins Gewicht.

Ursula Schmitz’ Sohn, der Professor von Mering, hat die komplexen Erfahrungen seiner Kindheit kaum jemandem anvertraut. Es scheint, dass er manchmal über seinen Vater, den „Stubengelehrten“ gesprochen hat. Dass er seine Statur habe, muss er selbst erzählt haben – keiner seiner späteren Studien- und Berufskollegen kannte ja den Vater. Und er muss auch erzählt haben, dass er sein Temperament der Mutter verdanke. Woran mag er da gedacht haben?

In den Nachrufen spielt von Merings Kindheit in Köln keine Rolle. Aber alle Freunde und Kollegen betonen seine Originalität. Und manche führen das auf seinen „Geburtsadel“ zurück.

Anders als die meisten, schwieriger, vielseitiger, unbekümmerter erschien er seinen Nachrednern: Das erwähnen der Straßburger Georg Ledderhose wie der Franke Emil Fischer, der Balte Erich Harnack ebenso wie der Hallenser Frese. Eigentlich, scheint mir, passte er nirgends hin: in keine Stadt, in keine Fakultät, in keine Laufbahn. Dadurch war er überall gleich präsent. Seine Neugier kannte keine Grenzen, ebenso wie sein Bewegungsdrang. Er reiste gern, scheute keine Strapaze. So soll der Name für das Barbiturat, das er zusammen mit Emil Fischer entwickelte, 1902 auf einer Reise in Italien entstanden sein. Man hatte in der Firma Merck, die das Medikament herstellen wollte, über den Namen gestritten. Joseph von Mering, „rhythmisiert von dem dahinrollenden Zug, stieg … in Verona aus, ging sofort zur Post, an den Telegraph und gab an Professor Emil Fischer, Berlin, eine Depesche auf: Veronal!“ Diese Anekdote fand ich in der Zeitschrift „Die Gegenwart“ vom 28. Februar 1947, in einem Artikel von Gerhart Stroomann zur Entdeckung des Pankreasdiabetes.[10]

Das Halle von 1891 ist nicht das Halle, in dem ich heute nach den Spuren des Professor von Mering suche. Die Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg damals war eine Universität im Deutschen Kaiserreich. Aber sie war älter als das Kaiserreich und wachte streng über Form und Stil ihrer Herkunft. Andererseits fand im Bereich der Medizinischen Kliniken ein rasanter Ausbau statt. Zu dessen Förderung hatte das Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten in Berlin den außerordentlichen Professor Dr. Joseph von Mering aus Straßburg nach Halle versetzt. Universitätsarchiv Halle, Rep 4 Nr. 848: „Herr Prof. v. Mering ist in heutiger Senatssitzung eingeführt. Derselbe hat den allgemeinen Staatsdienereid rite abgeleistet. Halle a/S, am 20. IV. 91, Bernstein, Rector“. Ohne einen „Allerhöchsten Erlass“ des Kaisers Wilhelms II. wäre das nicht möglich gewesen. Der Kaiser musste genehmigen, dass „bei der Berufung des der katholischen Confession angehörigen Professors Dr. von Mering in die medizinische Fakultät der hiesigen Universität von der Bestimmung in § 4 der Universitätsstatuten vom 24. April 1854 Abstand genommen werde“. Der Paragraph 4 lautete: „Confessioneller Charakter der Universität: Der ursprünglichen Stiftung gemäss sind bei der Universität Halle-Wittenberg nur Lehrer und Beamte evangelischer Confession zuzulassen und anzustellen.“[11]

Nun war von Mering 1891 keineswegs der einzige Katholik unter den Hallischen Professoren. Schließlich bemühte sich das Königshaus seit Friedrich dem Großen um Gleichbehandlung aller christlichen Konfessionen und auch in Halle herrschte ein moderner Wissenschaftsbetrieb. Der Ordinarius für Botanik Gregor Kraus und der Ordinarius für Histologie und vergleichende Anatomie Karl Joseph Eberth waren Katholiken. Eberth wurde 1892 sogar Rektor der Universität.[12] 1895 kam mit Georg Wissowa ein bedeutender katholischer Altphilologe nach Halle. Es gab immer Ausnahmen. Aber Ausnahme bedeutet Minderheit. Und die Minderheit empfindet man auch dann, wenn man vorher in den Landen, wo die eigene Konfession die Mehrheit hatte, kein besonders „treuer Sohn der katholischen Kirche“ gewesen ist.[13]

Den Arbeitsplatz des Professors extraordinarius von Mering beschreibt ein ministerieller Erlass aus Berlin:[14] „… bestelle ich Sie hierdurch in der genannten Fakultät zum Vorstande der Medizinischen Poliklinik mit der Verpflichtung, diese Poliklinik unter der oberen Direktion des Direktors der Medizinischen Klinik zu leiten, den poliklinischen Unterricht zu ertheilen, Vorlesungen über chemische Diagnostik zu halten und das Fach der Hals- und Nasenkrankheiten, sowie im Bedürfnisfalle auch dasjenige der gerichtlichen Medizin zu vertreten. Bezüglich der Stellung des Vorstandes der Medizinischen Poliklinik bestimme ich hierdurch noch: 1. daß der Direktor der Medizinischen Klinik berechtigt bleibt, das poliklinische Material, soweit dies nöthig ist, für die Zwecke der Klinik und zwar in erster Linie heranzuziehen; 2. daß der Vorstand der Poliklinik sein Bestreben darauf zu richten hat, dem Direktor der Klinik sowohl bei der Ausübung der Befugnis zu 1. wie auch sonst überall, wo es das Interesse des Klinischen Unterrichtes erfordert, in sachförderlichster Weise entgegen zu kommen; 3. daß der Vorstand der Poliklinik befugt sein soll, die Annahme und Entlassung der der Poliklinik zu überweisenden Assistenten selbständig in Antrag zu bringen und über die poliklinischen Fonds nach eigenem Ermessen zu verfügen; 4. daß der außerordentliche Professor Dr. Küssner nach wie vor seine klinische Sprechstunde für ambulante Kranke behält."

Der hier oft erwähnte Direktor der Medizinischen Klinik war Prof. Dr. Theodor Weber. Er war der Erneuerer der Medizinischen und der Poliklinik, hatte beide jahrelang gemeinsam geleitet, 1884 den Neubau der Medizinischen Klinik erreicht.[15] Zu seiner Entlastung war der einundvierzigjährige von Mering berufen worden. Natürlich mussten die Befugnisse bei einer Trennung der beiden Kliniken sorgsam festgelegt werden. Die Rücksicht auf Dr. Küssners Sprechstunde erklärte sich daraus, dass der sich selbst Hoffnungen auf die Leitung der Poliklinik gemacht hatte. Wie jeder Zuzügler kam auch Joseph von Mering in ein Geflecht bestehender Beziehungen. Darin musste er sich bewähren.

Ich wage die These: Zur Minderheit zu gehören und sich in unbekannten Verhältnissen zu bewegen, war für Joseph von Mering angenehm. Seine Freunde staunen nachträglich über seinen unruhigen Ausbildungsweg: Bonn, Greifswald, Straßburg, Bad Salzschlirf, Berlin, Leipzig – und die Fächer Physiologische Chemie, Psychiatrie, experimentelle Pathologie, Pharmakologie, Pathologie des Magens, Gerichtsmedizin und Laryngologie. „Wir sehen ihn also bereits, seinen mannigfaltigen Interessen folgend, sehr Vielfältiges unternehmen“, schreibt Erich Harnack im Nachruf. „Von Merings wissenschaftliche Laufbahn war eine sehr komplizierte“, meint Ismar Boas.[16] „Eigenartig wie sein ganzes Wesen war auch sein wissenschaftlicher Werdegang“, so drückt sich sein Nachfolger Adolf Schmidt aus[17]. Manche seiner Kollegen schieben das auf seine Herkunft: „Der Verstorbene war eine eigentümlich komplizierte Natur, ein echter Sohn seiner Heimat, der Rheinlande“, meint Harnack, der ihn schon seit 1873 kannte und 18 Jahre mit ihm an derselben Fakultät gearbeitet hat.[18] „Er war eine Persönlichkeit, ein Mann für sich, keine Alltagsnatur“, schreiben seine Mitarbeiter Hugo Winternitz und Nathan Zuntz.[19] Und Emil Fischer, der berühmte Chemiker, erinnert sich aus seiner Studentenzeit in Bonn: „Von den sonstigen studentischen Bekannten muss ich noch erwähnen Josef von Mering, mit dem zusammen ich später mehrere chemisch-medizinische Arbeiten ausgeführt habe. Er war schon damals ein Original, als echter Sohn Kölns ein Freund des Humors, mit ungewöhnlicher Körperkraft ausgestattet und als gefährlicher Säbelfechter gefürchtet.“[20]

Dieser Mann, als Wissenschaftler und als Mensch schwer einzuordnen, wurde 1891 in Halle sesshaft. Er kam nicht allein. Er hatte in Straßburg, am 17. April 1879, noch vor seiner Habilitation, Maria Fuxius aus Trier geheiratet. Hugo Winternitz und Nathan Zuntz wissen über sie: „Mit ihr, die oft wohltuend die kräftigen Wogen seines Temperamentes zu glätten wusste, einte ihn seit 1879 bis zu seinem Tode ein selten inniges und harmonisches Band.“[21] Das Paar hatte vier Kinder: Martha, jetzt elf Jahre alt, Eugen acht, Frieda fünf und Otto drei Jahre. Der Vater musste für seine Familie in Halle eine passende Wohnung finden – vielleicht war der Bezug dieser Wohnung sogar der Grund, warum er nicht, wie gewünscht, am 1. Januar, sondern erst im April 1891 seinen Dienst antrat. Jedenfalls wohnte die Familie dann an der Alten Promenade 23 im 1. Stock. Das Haus steht noch. Heute ist es Universitätsring 23. Die großen Wohnungen des 19. Jahrhunderts sind 2006 in moderne Zwei- und Dreizimmer-Appartements umgebaut worden. Die Lage des Hauses war damals wie heute gut: nah zur Universität, nah zur Oper und zur Altstadt, und doch mit freiem Blick nach allen Seiten. 660 M Wohngeld jährlich standen einem preußischen Beamten seines Ranges zu. 2700 M Jahreseinkommen war mit dem Posten als außerordentlicher Professor und Direktor der Poliklinik verbunden. Für die Gerichtsmedizin erhielt Mering 900 M jährlich extra.[22]

Sicher wurde von Mering in Halle viel besser bezahlt als in Straßburg, wo er von 1879 bis 1886 als Privatdozent und von 1886 bis 1891 als außerordentlicher Professor besoldet worden war. Aber ob ihm die Stadt, die Universität, die Arbeit auch besser gefiel? Diese müßige Frage stelle ich nicht nur deshalb, weil ich mit ihm verwandt bin. Zaunick bemerkt, dass eine pharmakologische Professur besser zu von Merings Neigungen gepasst hätte. Vorgeschlagen war er für Marburg und Greifswald, aber er hatte den Ruf nicht bekommen. Die medizinische Fakultät Wien nominierte ihn 1898 für den Lehrstuhl für experimentelle Pathologie, aber die österreichische Regierung war nicht einverstanden. In Straßburg hatte er wohl keine Aussichten auf eine volle Professur. So ist das im Leben. Die Universität Halle brauchte einen Kliniker zur Entlastung von Prof. Weber, von Mering brauchte Geld. Die Verhandlungen liefen gut, vielleicht weil Weber und er sich gleich verstanden.[23]

Wenn von Mering den katholischen Assistenten Dr. Aldehoff aus Rietberg in der Poliklinik nicht einstellen konnte, obwohl er in Anstellungsfragen doch souverän sein sollte, hat das also wohl an den Universitäts-Statuten und nicht an Weber gelegen. Der Ausweg war, dass das 1897 gegründete katholische  St. Elisabethkrankenhaus der Grauen Schwestern Dr. Aldehoff einstellte und Mering in diesem Krankenhaus die Leitung der Inneren Abteilung übernahm.[24] Er brachte auch seine Privatpatienten im Elisabethkrankenhaus unter.

Joseph von Mering war sehr arbeitsam. Winternitz und Zuntz berichten: „Als er von Straßburg wegging, konnten sich vier Nachfolger in seine Ämter und Funktionen teilen!“[25] Trotz der Leitung der Poliklinik und der Inneren Abteilung des Elisabethkrankenhauses, neben den Vorlesungen und den gerichtlichen Gutachten setzte er seine Forschungen fort. In vielen Charakteristiken über ihn wird erwähnt, dass er Ermüdung nicht kannte. Er reiste jedes Jahr im Frühjahr und im Herbst nach Bonn und Straßburg, um sich mit seinen alten Freunden über den Stand ihrer Forschungen zu unterhalten.[26] Modern war er in seiner Neigung zum Teamwork, das damals allgemein noch als Schwäche galt. „Dieses Zusammenarbeiten mit anderen Forschern, deren Gedankenrichtung die seinige ergänzten, ist charakteristisch für v. Merings Forschungsweise. Seine Art, wissenschaftlich zu arbeiten, hatte etwas Geniales an sich, er besaß den Findersinn, der dasjenige, worauf es ankommt, sofort erkannte und erfasste. Und in richtiger Erkenntnis seiner Lücken versuchte er nicht allein auf mühsamen Pfaden sein Ziel zu erreichen, sondern nahm die Hilfe anderer, besser für den Weg Gerüsteter, in Anspruch, um schneller zum Ziel zu gelangen.“[27] Dass er ein Lehrbuch der Inneren Medizin herausgab, in dem er selbst nur den Artikel über den Diabetes mellitus geschrieben hatte, brachte ihm den Vorwurf ein, er sei kein Forscher, sondern ein Unternehmer.[28] Winternitz und Zuntz nennen das Lehrbuch hingegen ein „Sammelwerk, das das Prinzip der großen enzyklopädischen Handbücher zum erstenmal auf ein kurzes Lehrbuch übertrug.“ [29] Von Mering versuchte, zusätzliches Geld zu verdienen durch seine Veröffentlichungen, die Entwicklung von Medikamenten und die Herstellung von Nährpräparaten.

1894 wurde er ordentlicher Professor, damit stieg sein Gehalt. 1895 konnte Joseph von Mering daran denken, sich und seiner Familie ein Haus bauen zu lassen, ein großes Haus in der Friedrichstraße.[30] Er beauftragte dazu die Architekten Knoch und Kallmayer[31], damals schon und bis heute ein angesehenes Team. Das Haus steht noch.

Es ist das Gebäude neben der Universitäts-Bibliothek,  August-Bebel-Straße 49. Von 1960 bis 1972 hat es als Entbindungsklinik, von 1972 bis 1996 als Hals-Nasen-Ohren-Klinik gedient. Viele Bürger Halles dürften es kennen, ohne den Namen des Erbauers je gehört zu haben. Dabei ließ Joseph von Mering am schmucken Türmchen das von Mering’sche Familienwappen, die Taube im Schlangenring, unter einer Helmzier anbringen. Bis heute ist das erhalten. Es ist ein Zeugnis dafür, dass der Bauherr sich seines Besitzes in Halle und seines Kölner Adels gleichzeitig freute. Das einzige Haus, das ich sonst mit diesem Wappen geschmückt sah, ist das sehr viel bescheidenere Haus meines Großvaters Carl von Mering in Köln-Rodenkirchen. Er baute es 1911. Auch er wollte sich seiner Herkunft freuen. Allerdings zog der Professor Dr. Joseph von Mering es vor, sich seiner kölnischen Herkunft in Halle zu erfreuen. Um 1905 hatte er einen Ruf in seine Geburtsstadt Köln. Er nahm ihn nicht an.

Der akademische Turnbund Gothia, der das Haus 1930 von des Professors Erben kaufte, frohlockt in seiner Zeitschrift[32] über die gute Lage und die imposante Größe des Domizils: ein Saal von 75 qm, eine sechs Meter lange Veranda, ein schöner Garten mit Springbrunnen. Sein Freund Erich Harnack erklärt Merings Motive so: „Obwohl für seine Person bedürfnislos, war es ihm doch eine Freude, sein Leben im Gegensatz zu seiner unter sehr knappen Verhältnissen verbrachten Jugend auch äußerlich reich ausgestalten zu können, am meisten deshalb, weil er damit den Seinigen eine glänzende Position bieten konnte.“[33] Dass die Deutsche Akademie der Naturforscher, die Leopoldina, der Joseph von Mering schon seit 1887 angehörte,[34] nur wenige Grundstücke entfernt 1903 ihre Bibliothek erbaute, wird er auch genossen haben.

1901 wurde er Nachfolger von Professor Weber als Direktor der Medizinischen Klinik. Die Poliklinik und die Leitung des Elisabethkrankenhauses musste er dazu abgeben. Doch blieb er dem katholischen Krankenhaus weiterhin ehrenamtlich verbunden.[35]

 

1903 wurde Joseph von Mering zum ersten Mal für den Titel „Geheimer Medizinalrat“ vorgeschlagen. Dazu schrieb der Universitätskurator Professor Schrader[36]: „Bei der Beurteilung des Prof. Dr. Frhn v. Mering ist davon auszugehen, daß seine hervorragende wissenschaftliche Bedeutung wie zur Zeit seiner Berufung von Strassburg nach Halle so auch noch heute auf dem Gebiete der medicinischen Chemie sowie der experimentellen Pathologie u. Therapie liegt, auf dem er nach wie vor mit großem Fleiß und Erfolg thätig ist. Neuerdings ist er an einem größeren therapeutischen Werk in Gemeinschaft mit anderen Autoritäten betheiligt, wobei er das Capitel über Magenkrankheiten bearbeitet hat. … Die Verwaltung und der Betrieb in der Klinik sind unter seiner Leitung in jeder Hinsicht expandiert. Auch hat er für deren Ergänzung durch Anschaffung von Apparaten für elektrische Lichtbehandlung und Massage sowie durch Anlegung einer dem Unterricht dienenden Präparaten-Sammlung angemessen gesorgt. Dagegen wird bei ihm ein eingehendes Interesse für die eigentliche Krankenbehandlung bei aller äußeren Freundlichkeit gegen die Patienten vermisst.“

Auch der Freund Erich Harnack meint: „Er war sowohl als Diagnostiker wie als Therapeut nicht das, was man einen geborenen Arzt nennt, wohl aber ein geborener Forscher.“[37] Dagegen setzt die jüngere Generation mit Winternitz und Zuntz: „Als Arzt hat er durch seine Liebenswürdigkeit und die suggestive Kraft seiner Persönlichkeit zum Wohl seiner Patienten gewirkt. Nichts Menschliches war ihm fremd und auch dadurch war er ein guter Arzt.“[38]

Auch die Lehre hat ihm anscheinend zunächst wenig Spaß gemacht. Schrader schreibt: „Was aber schließlich die Hauptsache, seine Lehrthätigkeit, anlangt, so steht ihr Charakter mit dem Vorgesagten in innigem Zusammenhang. Da er ein äußerst gescheuter und allgemein gebildeter Mann ist, auch die Rede beherrscht, so weiß er über alles gewandt zu sprechen und auf den ihm wirklich nahe liegenden Gebieten auch zweifellos hervorragend und fördernd auf seine Schüler zu wirken. Aber seine wissenschaftliche Interessensphäre ist bei aller ihrer Bedeutung eine begrenzte, gehört auch theilweise nur mittelbar dem klinischen Gebiet an, so daß er der ihm als Lehrer der inneren Medizin erwachsenden Hauptaufgabe, praktische Ärzte auszubilden, nicht wahrhaft gerecht werden kann, zumal das bei den Schülern vor allem zu weckende Interesse für eingehende Krankenbehandlung und für den einzelnen Kranken ihm selbst abgeht.“

Dass er den Titel nach diesen kritischen Worten nicht erhielt, scheint verständlich. Aber das soll nicht der Hauptgrund gewesen sein. Es ging um seinen Namen:  Prof. Dr. Freiherr von Mering.

Über Joseph von Merings Einstellung zu seinem Namen überliefert sein Freund Harnack: „Alles hohle Protzentum der Parvenus war ihm in innerster Seele zuwider: da kam sein Geburtsadel, auf den er – mehr demokratisch als aristokratisch veranlagt – sonst keinen besonderen Wert legte, zum Vorschein. Er war ein durchaus moderner Mensch, viel mehr in die Gegenwart und Zukunft als in die Vergangenheit blickend, historische Studien reizten ihn wenig.“[39] Diese Modernität könnte das Erbe seiner Mutter sein. Die historischen Studien des Vaters mochte er ablehnen. Trotzdem nannte er sich immer, wenn es offiziell wurde: Freiherr von Mering.

Für uns Familienforscher ist es eine amüsante und zugleich lehrreiche Geschichte, der Briefwechsel zwischen Halle und Berlin im Jahr 1903[40] und 1905. Der neue Kurator der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg, Professor Meyer, mahnte nämlich am 17. März 1905 die Ernennung in Berlin an.[41]

„Dem beifolgend näher begründeten Antrage darf ich noch hinzufügen, daß die kürzlich erfolgte Verleihung des Charakters als Geheimer Medizinal-Rat an den dienstjüngeren Professor Dr. Veit hier allgemein als eine nicht erklärliche Zurücksetzung des Professors von Mering und von ihm selbst als eine unverdiente Kränkung aufgefasst worden ist. Nachdem sein Verbleiben in Halle feststeht, bitte ich den dringend wünschenswerten Ausgleich herbeizuführen und auch für ihn die Verleihung des erwähnten Charakters Allerhöchsten Orts erwirken zu wollen, wobei ich noch besonders hervorhebe, daß er dem ihm früher weniger nahe liegenden Gebiet des klinischen Unterrichts in den letzten Jahren ein anerkennenswert reges Interesse zuwendet und sich als Lehrer bei Studenten und Assistenten einer steigenden Beliebtheit erfreut.“

Meyer teilt den Ärger des Medizin-Professors. Gerade jetzt, wo von Mering sich entschlossen hat, den Ruf nach Köln abzulehnen, will der Kurator ihn nicht zurückgesetzt sehen. Der Titel „Geheimer Medizinalrat“ könnte ihn nämlich darüber hinwegtrösten, dass die Universität Halle-Wittenberg mehr als 4000 Mark Jahreseinkommen nicht zahlen wird. Der Kurator behauptet gegenüber dem Berliner Minister, dass man „hier allgemein“ – womit sicher die Kollegen an der Universität, eventuell sogar die Stadtväter von Halle gemeint sein sollen – die Ernennung von Prof. Dr. Veit vor dem älteren Kollegen als ungerecht empfinde. Er bittet um schleunige Abhilfe. Den Vorschlag des Kuratoriums, von Mering mit dem Geheimratstitel auszuzeichnen, begründet er neu und fügt noch hinzu, dass Professor von Mering in den letzten Jahren ein beliebter Lehrer geworden sei.

Natürlich kann der Kurator den Minister nicht zwingen, die Ernennung von Merings zum Geheimen Medizinalrat beim Kaiser durchzusetzen. Aber wenigstens will er sich nicht vorwerfen lassen, er habe die Ernennung durch unzureichenden Eifer verhindert.

 

Dabei kommt heraus: Das Berliner Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten kann Titel nur verleihen, wenn das Königliche Heroldsamt zustimmt. Das Heroldsamt aber zögert. Es hat schon dem Vater des Professors abgeschlagen, ihn in das Verzeichnis der Freiherren einzutragen. Der Sohn kann den Geheimrats-Titel nur bekommen, wenn er auf den Freiherrn-Titel verzichtet. Joseph von Mering kann es kaum glauben: „Ich gestatte mir ganz ergebenst mitzutheilen, daß mir im Cultusministerium vertraulich gesagt worden ist, daß meine Ernennung zum Geheimen Medizinalrath auf Widerspruch im Königlichen Heroldsamt gestoßen sei, da ich in unbefugter Weise den Freiherrntitel führe. Mit der Bitte um hochgeneigte Aufklärung verbleibe ich in vorzüglicher Hochachtung Ihr ganz ergebener Professor Dr. J. v. Mering, Director der medizinischen Klinik in Halle.“[42]

Dazu gibt es eine Vorgeschichte: Viele Angehörige der alten Familien im Rheinland hatten während der Besetzung durch die französischen Revolutionstruppen begreiflicherweise ihre Adelsprädikate weggelassen. In der seit 1815 preußischen Rhein-Provinz kam das einer Benachteiligung gegenüber dem übrigen Adel im Staate gleich. 1823 wurde deshalb durch den preußischen König das „Gesetz zur Wiederherstellung des rheinischen Adels“ erlassen. Schon 1826 hatte der Regionalhistoriker Friedrich Everhard von Mering den entsprechenden Antrag gestellt und die zustimmende Urkunde des Königs erhalten[43]. Aber sein Verlangen, sich wie sein Vater Everhard Oswald auch Freiherr nennen zu dürfen, war 1835 abgewiesen worden: „Ich habe Ihr Gesuch um Anerkennung des Freiherrnstandes einer nähern Prüfung unterwerfen lassen, aus dem Mir erstatteten Bericht jedoch ersehen, daß Sie den Anspruch auf diesen Stand durch ein Diplom oder durch andere genügende Documente zu begründen nicht im Stande gewesen sind und, da die zurückfolgenden Papiere die Stelle solcher legaler Beweise nicht vertreten können, so habe Ich es mir versagen müssen, Ihr Gesuch zu bewilligen. Berlin, den 19. Dezember 1835 Friedrich Wilhelm“[44]. Und das galt wie für den Vater auch für den Sohn.

Offenbar fügte sich Joseph von Mering zunächst. Oder der Kurator versprach, dass von Mering sich fügen werde. Jedenfalls erhielt er den Titel: Geheimer Medizinalrath. Jedoch auf den Freiherrn-Titel verzichtete Joseph nicht. Zwar verwendete er ihn nicht in Schreiben an seine Kollegen, in Notizen an Leopoldina-Mitglieder. Das wäre auch nicht vornehm gewesen. Aber Ämtern gegenüber, im Adressbuch oder in den Grundsteuerakten nannte er sich lebenslang Freiherr von Mering[45], vielleicht „weil er damit den Seinigen eine glänzende Position bieten konnte“, vielleicht aus rheinischer Widerspruchslust.

So steht auch über seiner Todesanzeige: Geheimer Medizinalrat Professor Dr. Freiherr Friedrich Joseph von Mering. Was „die Welt“ dazu sagte, war ihm und seiner Familie gleichgültig. Die Universität dagegen formuliert wie immer korrekt:

„Am Sonntag Abend ist der ordentliche Professor

in der medizinischen Fakultät unserer Universität

Herr Geheimer Medizinalrat

Dr. Josef von Mering

nach längerem Leiden im 59. Lebensjahre hier verstorben.

Halle, am 6. Januar 1908

Der Rektor der Universität

Loofs.

Der Überführung der Leiche zum Bahnhof,

der die Beisetzung am Donnerstag Vormittag in Eisenach folgen soll,

wird hier, im Trauerhause, am Mittwoch, den 8. d. Mts., 12 ½ Uhr mittags,

eine Trauerfeier vorangehen.“

Noch einmal fordert Joseph von Mering seine Umgebung heraus. Die Überführung seiner Leiche zum Bahnhof bedeutete nämlich, dass er eingeäschert werden wollte[46].  Dass die Einäscherung vier Tage nach seinem Tod stattfinden konnte, lässt darauf schließen, dass von Mering dem am 7. November 1900 gegründeten Feuerbestattungsverein von Halle angehörte und „bis ins Kleinste alle Anordnungen“[47] getroffen hatte. Zweck dieses Vereins war es laut einer Zeitungsnotiz vom 9. 11. 1900[48]: „1. für die Einführung der fakultativen Feuerbestattung in Preußen zu wirken; 2. die auswärtige Feuerbestattung seiner Mitglieder, welche diese wünschen, so lange in Halle noch kein Krematorium vorhanden ist, unter günstigen Bedingungen zu vermitteln.“ Vielleicht war von Mering schon unter den vierzig Gründungsmitgliedern von 1900. Die Mitgliederlisten des Vereins sind leider erst in späteren Jahren überliefert[49].

1908, als von Mering stirbt, ist die Feuerbestattung in Preußen immer noch nicht erlaubt.[50] Einer Demonstration gegen diese Rückständigkeit muss von Merings Begräbnis gleichgekommen sein. Nach der öffentlichen Trauerfeier in seinem Haus wird sein Sarg aus der Friedrichstraße nicht zu einem der schönen Friedhöfe Halles, sondern zum Bahnhof überführt. Das 1902 von Otto March entworfene Krematorium in Eisenach ist das Ziel von des Professors letzter Reise. Dort wird er am 9. Januar 1908 eingeäschert[51] und seine Urne anschließend im neuen Urnenhain aufgestellt.[52]

Nur einer der acht Nekrologe[53] erwähnt die Tatsache, dass der Direktor der Medizinischen Klinik, Mitglied der Leopoldina, darauf verzichtet, auf dem ehrwürdigen Stadtgottesacker in Halle zu ruhen. Auch die kurze, fast mürrische Anzeige des Rektors Loof verschweigt die Einäscherung. Der Verstorbene brach ein Tabu. Die Freunde Winternitz und Zuntz[54] drücken sich vorsichtig aus: „Die Treue und Festigkeit seiner Gesinnung hat er bis zum Tode bewahrt. Auch die Trauerfeier sollte, das war sein ausdrücklicher Wunsch, klar und offen seine Weltanschauung zum Ausdruck bringen.“ Sein evangelischer Freund Erich Harnack spricht wenigstens aus, dass „kein Priester …  an seinem Sarge amtiert“ habe. Das wäre auch nicht möglich gewesen, trotz Merings treuer Unterstützung  des Krankenhauses der Grauen Elisabeth-Schwestern. Noch bis 1963 war es katholischen Priestern verboten, an Feuerbestattungen mitzuwirken.[55] In Eisenach haben von Merings Freunde als Konfession „evangelisch“ angegeben – vielleicht, um ihn nicht als Atheisten erscheinen zu lassen, vielleicht, um einen evangelischen Geistlichen um eine Segenshandlung zu bitten.[56]

Zum letzten Mal beweist Joseph von Mering, dass er ein Außenseiter ist. Wahrscheinlich hat er es im voraus genossen, noch einmal ein Exempel zu geben. Zur Minderheit zu gehören, bedeutete für ihn eine Auszeichnung. Sein Schüler und Nachfolger Professor Frese beschreibt ihn so:

„Er war alles andere als ein Stubengelehrter; mitten im Leben stehend, noch bis vor kurzem ein Bild kräftigster Männlichkeit, übte seine Persönlichkeit auf jeden, der ihm näher trat, einen unauslöschlichen Eindruck aus. Sein offenes und wahrhaftes Wesen, seine frische rheinländische Art, sein fröhliches Temperament hat ihm auf seinem Lebenswege viele Freunde erworben; wem er einmal sein Vertrauen geschenkt hatte, konnte stets auf seine Hilfsbereitschaft rechnen. Alle feierliche Förmlichkeit lag ihm fern, auch mit dem jüngsten Assistenten verkehrte er in kollegialer Weise, und so kam es, dass er gerade den Jüngeren oft ein freundlicher Berater gewesen ist. Mit seiner Meinung pflegte er nicht hinter dem Berge zu halten, und so mag ein rasches Wort den einen oder anderen verletzt haben; auch konnte es nicht völlig ausbleiben, dass die zielbewusste Energie, mit der er einen einmal gefassten Entschluss zu verfolgen pflegte, mit widerstrebenden Kräften zu kämpfen hatte….“[57]

Der Freund Nathan Zuntz soll es in der Rede am Sarg noch pointierter gesagt haben: „“Sein Herz  (lag) auf der Zunge: der Gedanke, welcher ihn  durchschoss – und langes Überlegen war nicht seine Art – musste heraus, einerlei, ob er angenehm oder unangenehm berührte.“[58]

Mich, eine geborene von Mering, macht diese Charakteristik lächeln. Solches Temperament kommt mir sehr bekannt vor – auch wenn die von Merings, die ich kannte und kenne, längst nicht so bedeutend sind wie der Hallenser Kliniker Geheimer Medizinalrat Professor Dr. Freiherr Joseph Friedrich von Mering.

Wer über einen Menschen schreibt, hat sicher ein Interesse an ihm. Wer über einen lebenden Menschen schreibt, will sich mit ihm auseinandersetzen. Wer über einen Toten schreibt, hat das nicht vorrangig im Visier. Er schreibt gegen das Vergessen.

[1] Ev. Kirchenbuch St. Moritz, 1730 Vater einer ehelichen Tochter, 1740 verstorben

[2] Rudolph Zaunick, Josef  Frh. von Mering als physiologischer Chemiker, experimenteller Pathologe und Arzneimittelforscher in: 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Bd. 2, Halle 1952, S. 525 - 534

[3] Hans-Heinz Eulner und Wolfram Kaiser: Die Geschichte der Medizinischen Universitäts-Poliklinik (II. Medizinische Klinik) in Halle, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg, August 1959

[4] Renate Gärtner, Das Leben und Wirken des Hallenser Klinikers Friedrich Julius Freiherr von Mering, Diss. Halle 1968

[5] Aufgezählt bei Rudolph Zaunick, a.a.O., S. 534

[6] Bürgeraufnahme Köln: 11. 1. 1553 Hynrich Merynck van Coisfelt

[7] Beiträge zur Geschichte der Kölner Verfassung, Köln 1830, Bischöfe u. Erzbischöfe, Köln 1832, Geschichte d. Burgen, Rittergüter, Abteien und Klöster, Köln 1833 u.a.

[8] Friedrich Everhard von Mering, Selbstbiographie, Gewidmet meiner lieben Frau und allen guten Freunden, Köln 1844, S. 16

[9] Laut den Nachrufen, Taufe am 8. 3. 1849 laut Urkunde im Historischen Archiv Köln , Taufnamen: Friedrich Everhard Anton Joseph Julius. Joseph scheint er als seinen Rufnamen bevorzugt zu haben, doch benutzte er gelegentlich auch andere.

[10] Zaunick a.a.O. S. 530, Anmerkung 5, diskutiert die Wahrheit dieser Anekdote. Dass von Mering geschickt darin war, Handelsnamen für die von ihm entwickelten Medikamente und Nährmittel zu erfinden, erwähnen mehrere seiner Nekrologen.

[11] Statuten der Königlich Preussischen Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg 1854

[12] siehe: Audring, Gert, Gelehrtenalltag, Der Briefwechsel zwischen Eduard Meyer und Georg Wissowa (1890 – 1927), Hildesheim 2000

[13] Erich Harnack, Medizinische Klinik 1908, Nr. 5, S. 171

[14] UA Halle: PA 11328

[15] Piechocki, Werner, Die kommunalärztliche Tätigkeit des Klinikers Theodor Weber in Halle während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Beierlein, Christine, 250 Jahre Collegium Clinicum Halense 1717 – 1967, Halle 1967

[16] Archiv für Verdauungskrankheiten, Bd. 14 (1908), S.1

[17] Deutsche Medizinische Wochenschrift 34 (1908), Heft 5, S. 206

[18] Medizinische Klinik Nr.5 (1908), S. 171

[19] Münchner Medizinische Wochenschrift 55 (1908), S. 400

[20] Emil Fischer, Aus meinem Leben, Berlin 1922, S. 55

[21] Münchner Medizinische Wochenschrift 55 (1908), S. 401

[22] UA Halle: PA 11328

[23] Eulner und Kaiser, a.a. O. S. 471: „Mit WEBER arbeitete MERING in harmonischer Weise zusammen, und als WEBER im Jahre 1900 von der Medizinischen Klinik zurücktrat, vollzog sich der Tausch der Lehrstühle reibungslos.“

[24] Genehmigung des Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten vom 28. August 1897 unter UI Nr. 17340 im Archiv des St. Elisabeth-Krankenhauses (in Abschrift)

[25] Münchner Medizinische Wochenschrift 55 (1908), S. 401

[26] Gärtner, a.a.O., S. 11 nach A. Kossel, Verzeichnis der Arbeiten von E. Baumann, 1897

[27] Adolf Schmidt, a.a.O. S. 206

[28] Professor Bernhard Naunyn laut Gerhart Stroomann in der Zeitschrift „Die Gegenwart“ vom 28. Februar 1947, S. 24

[29] a.a.O., S. 402

[30] Adressbuch von Halle 1896, Stadtarchiv Halle

[31] Abbildung des Hauses Friedrichstr. 49 in: Blätter für Architektur und Kunsthandwerk 10, 1887, S. 61, 2, Abbildungen Tafel 85

[32] Akademische Turnbunds-Blätter 1930, Amtsgerichtsrat Arnold, Vorsitzender der ATV Gothia, Halle

[33] Medizinische Klinik Nr. 5 (1908), S. 172

[34] Zaunick, a. a. O., S. 531f: Matrikelnummer 2698

[35] Nach Aussagen und Dokumenten von Herrn Herbert Schmeja, 1999 Leiter der Pflegeschule und Chronist des Krankenhauses St. Elisabeth, Halle

[36] UA Halle: PA 11328, S. 16 – 21

[37] Medizinische Klinik Nr. 5 (1908), S. 173

[38] Münchner Medizinische Wochenschrift 55 (1908), S. 402

[39] Medizinische Klinik Nr. 5 (1908), S. 172

[40] UA Halle: PA 11328

[41] Kopie unter Nr. 891, Universitätsarchiv Halle, Abth. II D, 10 M, Bd. 1

[42] Kopie des Briefes in der Doktorarbeit von Renate Gärtner, a.a.O. S. 30, die ihn in den Dekanatsakten des UA unter dem 27. 3. 1905 gefunden hat.

[43] LHA Koblenz RP, Best. 403, Nr. 9753: Mein Urgroßvater Peter Mering kam erst 1894 um Wiederherstellung seines Adels ein, nachdem sein Bruder Heinrich in Koblenz 1893 damit erfolgreich gewesen war.

[44] LHA Koblenz RP, Best. 403, Nr. 9753: Da diese „Beweise“ dem Antragsteller wieder ausgehändigt wurden, weiß ich leider nicht, wie sie aussahen.

[45] Auch seine Frau ließ sich offenbar gern so nennen, siehe Stadtarchiv Halle, Grundbuch Band 143, Blatt 5060: 10 Januar 1908: Freifrau von Mering, verw. Geheimrätin, Frau Maria von Mering,  wohnhaft Friedrichstr. 49.

[46] Vgl. Norbert Fischer, Vom Gottesacker zum Krematorium, eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, urn:nbn:de:gbv: S.214: „Die Einäscherung wurde als ökonomische Lösung der Raumprobleme auf städtischen Friedhöfen propagiert.“ S. 228: „Bei den Feuerbestattungsanhängern handelte es sich um einen spezifischen Kreis innerhalb des gebildeten Bürgertums, der offensiv auf die gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen reagierte …. Insbesondere Mediziner engagierten sich … für den Bau von Krematorien; nicht zufällig sprachen sich die internationalen medizinischen Kongresse 1869 in Florenz und 1871 in London für die Einführung der Feuerbestattung aus.“

[47] Adolf Schmidt, a.a.O. S. 207

[48] Stadtarchiv Halle, Saale-Zeitung Nr. 527, Halle, Freitag, 9. November 1900

[49] Stadtarchiv Halle, Feuerbestattungsverein, Abt. II Nr. 5

[50] Norbert Fischer, a.a.O. S. 227: „Mit Preußen schuf der mit Abstand wichtigste Teilstaat erst 1911 eine entsprechende gesetzliche Basis. Dabei wurde der Betrieb eines Krematoriums weder Privatpersonen noch vereinen, sondern nur Kommunen oder Kirchengemeinden gestattet.“

[51] Diese Kenntnis verdanke ich Dr. Reinhold Brunner: Stadtarchiv Eisenach 11-686-11, Bd. 2: Einäscherungen lfd. Nr. 387, Nr. 2 des Jahres 1908 (per e-mail vom 13.10.2006)

[52] nach Dr. Reinhold Brunner, Stadtarchiv Eisenach, 11-686-12, Bd.1 im „Verzeichnis der im städtischen Krematorium eingeäscherten Leichname“ findet sich in der Rubrik „Verbleib der Asche“ folgender Eintrag: „am 9. 1. 08 auf neuem Urnenhain aufgestellt“. (per e-mail vom 13.10.2006)

[53] der von Adolf Schmidt, Deutsche Medizinische Wochenschrift 34, 1908, Heft 5, S. 207

[54] Münchener medizinische Wochenschrift 55, 1908, S. 402

[55] Norbert Fischer, a.a.O., S. 217: „Die katholische Kirche erließ 1886 ein Verbot (das übrigens bis 1963 bestehen blieb): Das Heilige Offizium untersagte die Teilnahme von Kirchendienern an einer Feuerbestattung ebenso wie das Spenden von Sterbesakramenten für eine Person, die eine Feuerbestattung wünschte …“

[56] Norbert Fischer, a.a.O., S. 217: „Die evangelische Kirche der altpreußischen Union verbot zunächst jede amtliche Mitwirkung von Geistlichen an einer Feuerbestattung … Aber in anderen Landeskirchen gab es durchaus auch liberalere Positionen – so tolerierten die Sachsen-Coburg-Gothaer, badische, hamburgische und würtembergische Landeskirche bald die Beteiligung von Geistlichen an Einäscherungen. Auch traten protestantische Amtsträger öffentlich für die Feuerbestattung ein.“

[57] Sonderabdruck aus der Berliner klin. Wochenschrift, 1908, Nr. 4 unter UA Halle: PA 11328

[58] Adolf Schmidt, Deutsche Medizinische Wochenschrift 34, 1908, Heft 5, S. 206