Reformationszeit

Im Jahr 2017 feiern wir 500 Jahre Reformation. Für eine Familie ist das ein noch größerer Zeitraum als für die Geschichte eines Volkes. Wo mögen sich die Menschen, von denen wir abstammen, 1517 befunden haben? Personen kann ich nicht benennen, aber doch einige Orte.

Die Merings befanden sich vermutlich noch in Coesfeld, die Allendorfs in Sachsen (der erste greifbare ist aus Apolda!), die Eberhardts in Thüringen und die Liebschers ebenfalls in Sachsen. Frauenstämme der Merings befanden sich in Lothringen, dem Trierer Erzbistum und dem Jülisch-Bergischen, Frauenstämme der Eberhardts im Hessischen, für die Liebschers war Sachsen groß genug – sie fanden ihre Frauen in den verschiedenen Spielarten Sachsens: in Sachsen-Anhalt, dem Mansfelder Land. Von den Allendorfs weiß ich noch zu wenig. Das alles sind Vaters Vorfahrenstämme.

Wo Mutters Vorfahren Liebert, zum Teil auch die Behns die Reformation erlebten, ist nur abstrakt zu sagen: sie erlebten sie in Ländern, in denen es nach dem 30jährigen Krieg unmöglich war, evangelisch zu bleiben. Sie haben alle einen Grundstamm, der zum Glaubensflüchtling wurde. Damit will ich sie nicht zu Märtyrern machen. Sie wanderten aus dem deutschen Sprachgebiet nach Polen aus, und dabei können wirtschaftliche Gründe sehr wohl eine wichtige Rolle gespielt haben. Trotzdem gehört ein Entschluss dazu. Und ein solcher Entschluss hat mit Lebenseinstellungen zu tun. Das Gefühl, sein Bekenntnis in der gewohnten Umgebung nicht leben zu können, festigt den Entschluss. Die Familie entscheidet sich auszuwandern.

Oft war dies Auswandern verboten, zumindest mit Hindernissen belegt. Die Deutschmanns, die Springsguts, die Schurzmanns, die Patzkes, die Lieberts, die Zytowskis und die Kleibers – um nur einige zu nennen – sind trotzdem ausgewandert: nach Thorn, nach Lissa, nach Kobylin in Großpolen. Und dort haben sie sich evangelischen deutschsprachigen Gemeinden angeschlossen und bis zur zweiten polnischen Teilung als "Wohnpolen" im Königreich Polen gelebt, waren also gewiss zweisprachig. Sie litten oft unter dem Druck der katholischen polnischen Mehrheit, blieben aber eisern wohnen, was meiner Ansicht nach zeigt, dass sie Druck schon aus der Heimat kannten und "Überlebensstrategien" entwickelt hatten. Minderheiten sind so. Dass nach 1793 auch preußische Untertanen, die der König zur Entwicklung der neuen Provinzen sandte, in die Exil-Familien einheirateten – die Behns, die Ehlerts – ändert nicht viel. Auch sie hatten die Heimat verlassen, orientierten sich neu. Unsere Mutter stammt aus Minderheiten, unser Vater aus Mehrheiten. Ob das in den Genen verankert wird? Und ob es bewirkte, dass unsere Mutter fast eher und fast feuriger zur Bekennenden Kirche gehörte als Vati?

1547 entscheidet der Rat der Stadt Köln, dass Köln eine katholische Stadt ist. Von da an konnten Evangelische nicht Bürger der Stadt werden, denen, die es schon waren, wurde das Bürgerrecht entzogen. Dass Hynrich Merinck 1553 das Bürgerrecht bekam, ist also ein Beweis dafür, dass er offiziell Katholik war. Gedanken sind frei. Er heiratete mit unserer Ahnfrau Christina von Monheim in eine Familie, die viele Protestanten aufwies und von der einige nach Düsseldorf auswanderten, wo man unter brandenburgischer Herrschaft evangelisch sein durfte. In seinem Testament 1579 bestimmt er allein seine Ehefrau zur Erzieherin seiner Kinder. Wollte sie die Kinder evangelisch aufziehen und ist das nur gescheitert durch ihren frühen Tod? Wo ist überliefert, dass die Kinder "in der Schaafenstraße" erzogen wurden? War das ein Kloster? Jedenfalls sind die Söhne Bürger und Studenten an der katholischen Universität, die Töchter heiraten in Kölner Familien, also sind sie bestimmt Katholiken. Und das bleiben sie auch, sogar durch die Napoleonischen Zeiten hindurch, bis 1870, bis zur Reichsgründung sozusagen. Da aber trifft Peter von Mering, ein junger Stuckateur, in Koblenz die Glaserstochter Philippine Allendorf. Sie ist ein wenig älter als er, eine schöne Frau. Ihr Vater kommt aus dem rein evangelischen Artern am Kyffhäuser, aber ihre Mutter ist vielleicht noch wichtiger. Philippine Zimmermann ist die Nachfahrin von evangelischen Handwerkern aus Bacharach. Und Bacharach ist eine der ganz wenigen Gemeinden im Rheinland, die die Rekatholisierung des 17. und 18. Jahrhunderts überdauert hat. Auch hier gibt es Minderheitenerfahrung. Peter von Mering will Philippine Allendorf heiraten, aber sie tut es nur, wenn er ihr verspricht, dass die gemeinsamen Kinder evangelisch erzogen werden. Das führt dazu, dass sie auch "nur" evangelisch getraut werden können – mit ganz wenigen Zeugen in der Vorstadtkirche von Koblenz-Pfaffendorf. Von da an gehören auch unsere Merings zur Minderheit: evangelische Merings gibt es sonst nicht, ein evangelischer Mering in Köln hat es nicht leicht, obwohl oder weil Köln zu Preußen gehört und in Köln-Ehrenfeld eine schöne evangelische Kirche in preußischem Stil gebaut wird, wo die Kinder der Merings evangelische Partner kennen lernen können. Dort lernt Carl von Mering, unser Großvater, seine Clara Eberhardt, die in Deutz geborene Thüringerin, kennen. Seine Schwiegermutter wird die Pfarrerstochter Johanna Liebscher. Und unser Vater wird nach den Domherren Mering der erste evangelische Pfarrer von Mering.

Johanna Liebschers Vorfahren sind so weit nachweislich wie die Merings. Sie reichen ins Reformationszeitalter zurück, werden mit der Mehrheit gemeinsam evangelisch. Johann Krause ist schon 1550 evangelischer Pfarrer in Hettstedt in der Grafschaft Mansfeld. Um 1600 sind die Seilers Pfarrer in Eisleben. Natürlich wüsste ich gern den Namen des Mönchs oder katholischen Priesters, der sich verheiratete und unser Ahnherr wurde. Der Graf von Mansfeld gründete noch 1530 ein Augustinereremitenkloster in seiner Bergbaustadt Eisleben-Neustadt. Damit zog er sich Johann Staupitz und Martin Luther als Visitatoren geradezu ins Haus. Das Kloster wurde bald aufgehoben, evangelische Predigt, das Abendmahl in beiderlei Gestalt waren angesagt, auch im Schloss. Die Bevölkerung bestand aus Bergleuten – keine ansässige, sondern zugewanderte, unruhige und selbstbewusste Bevölkerung. Das sind die Mutterstämme der Liebschers. Sie stammen aus dem Kernland der Reformation. Der älteste greifbare Namensträger Liebscher ist Sattler in der Bergbaustadt Neugeising im Erzgebirge, hat 1687 in Dippoldiswalde seine Frau, die Tochter seines Lehrherrn, geheiratet. Die wiederum hat eine Großmutter aus dem Elsaß! Und einen Stiefvater aus Kyrn an der Nahe. Es scheint, dass der Dreißigjährige Krieg sie mit ihren Eltern nach Sachsen verschlagen hat. Also auch in Vaters Familie Minderheiten? Sind wir schon durch die Gene protestantisch?

 

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