Mein Kriegsende
Mein Kriegsende fing an am 11. September 1944. Ich war am 29. Juli gerade 6 Jahre alt geworden und im August zum ersten Mal zur Schule gegangen. Da setzte sich meine Mutter mit uns drei Kindern auf den Rasen und sagte uns, dass unser Vater nie zurückkehren werde - er sei jetzt im Himmel. Der Himmel über uns war blau mit weißen Wolken. Ich schaute hinauf. Unsere Mutter weinte. Ich weinte abends im Bett: Nie wieder wird mein lieber Vater die Schaukel in der Scheune für mich anschieben, nie wieder werde ich unter seinem Schreibtisch zwischen seinen Knien sitzen, nie wieder an seiner Hand durch das Dorf Heusweiler gehen und dann zwischen seinen Knöcheln hockend warten, bis er als Pfarrer das Gespräch mit einem Passanten beendet. Von nun an fehlte im Abendgebet die Bitte: "Lass Vati bald heimkommen." Kriegsende.
Am 6. Dezember war wieder ein Kriegsende: aus dem schon der Front nahen und unter ständigem Alarm ächzenden Saargebiet reiste unsere Mutter mit uns drei Kindern nach Marburg/Lahn zu ihren Eltern, aus dem geräumigen Pfarrhaus mit seinem ständigen Verkehr an bekannten und unbekannten Menschen in die Drei-Zimmer-Wohnung in einem Mietshaus. 37 Stunden waren wir von Saarbrücken bis Marburg unterwegs, in völlig überfüllten Zügen, oft durch die Fenster hineingehoben - wo wir dann angstvoll warteten, ob unsere Mutter durch die Tür nachkomme. Die Bahnhöfe beschädigt, einmal standen wir im völlig abgedunkelten Zug im Wald - sogar der Heizkessel wurde ausgemacht - und sahen die "Christbäume" der Amerikaner über Kassel, dessen Bahnhof in dieser Nacht fürchterlich zerstört wurde. In Marburg ging ich noch einmal 3 Wochen zur Schule - und träumte auf dem Heimweg, ich würde meinen Vater treffen und ihn an der Hand zu meiner Mutter bringen. Aber dann fingen auch in Marburg die Alarme an - und der Keller war viel schlechter als der in Heusweiler. Flüchtlinge trafen ein, das Haus füllte sich, 21 Erwachsene und 11 Kinder. Der Bahnhof war nur 1000 m entfernt, die Einschläge ringsum.
Im März war wieder ein Kriegsende: Nachdem das Nachbarhaus am Ortenberg vollständig zerstört war und im unserm Haus alle Fenster zerbrochen, liefen wir ca 15 km durch den Wald in unser Evakuierungsquartier beim Bauern Lauch in Allna. Wir wurden mit Bratkartoffeln freundlich empfangen: Man hatte vom Dorf aus den Gasmeiler brennen sehen und gedacht: Heute kommen unsere Leute. Wir erhielten das Elternschlafzimmer im 1. Stock und ein kleines Kämmerchen. Unsere Mutter arbeitete auf dem Hof mit, dafür bekamen wir Essen. An Alarm kann ich mich dort nicht erinnern, aber an den Dorfbackofen, wo alle Familien ihr Brot und ihren Kuchen backten.
Und dann endlich war es soweit: Am 8. Mai kam die Nachricht von der bedingungslosen Kapitulation. Meine Mutter setzte sich wieder mit uns ins Gras: "Es ist Frieden - von nun an braucht ihr keine Angst mehr vor Flugzeugen zu haben!" Ich sah hinauf in den Maihimmel: er war blau mit weißen Wolken.