Überlegungen während der Arbeit

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Christa Lippold, geb. von Mering: Familiengeschichte

Zuerst veröffentlicht in: EKKEHARD, Familien-und regionalgeschichtliche Forschungen, Hallische Familienforscher "EKKEHARD" e.V. Neue Folge 7 (2000), Heft 3, S. 52

Zweitens veröffentlicht in: Mitteilungen der Westdeutschen Gesellschaft für Familienkunde, Bd. 42, Jg. 93 Heft 4, Oktober - Dezember 2005, S. 107

I. Einer meiner Nachbarn wollte mir gerne etwas Gutes tun. Und er kopierte mir aus dem Internet ein Genealogisches Programm. Cumberland Family Tree heißt das Programm und nach allem, was ich sehen kann, gehört der Autor derselben Kirche der Heiligen der Letzten Tage an, zu denen auch die Leute in der Wartenau 20 in Hamburg zählen, bei denen ich schon seit Monaten Kirchenbuchfilme durchsuche.

Der Autor von Cumberland Family Tree nennt sich Ira Johan Lund, ist natürlich Amerikaner, aber mit norwegischem Hintergrund, und hat, damit er die Nuancen seines Programms zeigen kann, eine Amerikanerin, die aus China stammt, zur Frau. Da ich keine andern Programme kenne, ist die Beurteilung für mich schwer. Ich sehe aber, daß es gegenüber dem, was ich mir selbst an Methoden erarbeitet habe, einige Vorteile bietet. Der größte scheint mir zu sein, daß die Regeln formuliert sind. Wenn ich meine Forschung niederlege, kann ein anderer an Hand dieser Regeln fortfahren. Das ist bei meinem sehr persönlichen Vorgehen, wo so vieles auf meinem Gedächtnis beruht, nur bedingt möglich.

Eins fällt mir sehr auf: Ira Johan Lund erweckt den Eindruck, als sei er am Gelingen meines Stammbaums persönlich interessiert. Und so rät er: Verliere nie dein Ziel aus den Augen! Bedenke immer, was du erreichen möchtest, und konzipiere deine Forschung dementsprechend.

Das ist ein wichtiger Rat. Gerade auf einem so dilettantischen Gebiet wie dem der Genealogie wird man leicht von einer Tendenz fortgerissen, die sich zufällig auftut. Eigentlich ist eben alles neu, alles spannend. Guck mal hier! guck mal da! Aber so kann nichts Ganzes entstehen. Man verzettelt nicht nur seine Kräfte, sondern verliert auch den Durchblick. Davor kann auch das Programm nicht schützen, ist es doch selbst im besten Fall nur ein gut verknüpfter Zettelkasten. Die Linie, die Idee, die Deutung sind Sache des Forschers. Und das heißt vor allem: die Beschränkung der zahlreichen Möglichkeiten auf ein Ergebnis ist meine Sache.

Kann das Programm mir helfen, mich zu begrenzen? Seine Stereotypie erinnert mich vielleicht mehr als meine bunten Pläne daran, daß Daten nicht alles sind. Seine hölzerne Berichtsform zeigt mir, wie ungenießbar eine Biographie ohne Anteilnahme ist. Andererseits weiß ich ja, daß nur detailierte Kenntnisse eine Familiengeschichte sichern. Und daß nur der Nachweis, das die von mir beschriebene Person mein Vorfahr oder meine Vorfahrin ist, meinen Nachempfindungen ihres Lebens Interesse verschafft. Denn weder ich noch meine Vorfahren sind bedeutend. Daß die Schreibende und der Beschriebene aber verwandt sind - was immer Verwandtschaft sein mag - gibt den Worten jenen Hauch von Authentizität, den auch Briefe haben.

Ich habe mir das Programm gekauft. Ich arbeite in letzter Zeit selten damit, da ich viel spannendere Arbeit habe: Geschichten schreiben. Aber es kommt auch wieder die Phase des Sammelns. Dann, denke ich, wird es seinen Wert erweisen. Die beiden Kaufleute, die sich gelegentlich mit mir über Familienforschung austauschen, wundern sich, daß ich so inkonsequent bin.

II. Jetzt habe ich schon eine ganze Reihe von Geschichten geschrieben. Einige davon können sogar als "fertig" gelten, da ich von mir aus zu dem Thema keine weiteren Nachforschungen mehr treiben werde. Allerdings können auch ungesucht immer noch Tatsachen und Daten zum Vorschein kommen, die mich dann zwingen, die Geschichte neu zu konzipieren. Einige Geschichten sind "unfertig", weil wichtige Fragen offen bleiben mußten. Manche werden wohl "unfertig" in diesem Sinne bleiben.

Gemäß dem guten Rat von Ira Johan Lund frage ich mich nun noch einmal: Was möchtest du erreichen?

Um numerische Rekorde geht es mir nicht. Die stolze Zahl der Daten, die Menge der verwandten Personen, die weit zurückreichenden Jahreszahlen: Dinge, nach denen andere mich oft fragen, sind bestimmt nicht mein Ziel. Ja, könnte ich die Familiengeschichte komprimieren auf wenige Daten und Wesenszüge, wäre ich damit meinem Vorhaben näher.

Will ich herausarbeiten, was Familie ist? Das könnte ein Ziel sein, aber es wird unerreichbar bleiben. Der oft lachend vorgebrachte Einwand gegen Familienforschung: "Am Ende ist doch jeder Mensch mit jedem Menschen verwandt", ist richtig. Schon drei Geschwister entfernen sich unaufhaltsam voneinander durch die Sippen, in die sie einheiraten. Umgekehrt steht eine angeheiratete Verwandte dem Herzen oft näher als eine Schwester. Und die sich gar nicht fortpflanzen, die Onkel und Tanten? Bedeuten nicht häufig gerade sie "Familie" für die andern?

So wichtig es sein mag, ein Ziel zu haben: leicht könnte dies Ziel dazu führen, die Daten zu manipulieren. Das neugierige "Guck mal hier! guck mal da!", das kindliche Staunen über unverhoffte Funde, das vorurteillose Studieren von Akten, das Eingehen auf unerwartete Eigenschaften der Vorfahren und ihrer Schwäger, die Akzeptanz auch beschämender Ergebnisse: das müssen Möglichkeiten meiner Studien bleiben. Wenn ich die beschneide, verfalle ich einer Familienideologie.

III. Meine Familiengeschichte besteht aus den Lebensgeschichten meiner Vorfahren. Dadurch ist sie Geschichte. Gerade weil meine Vorfahren "gewöhnliche" Leute waren, unauffällig unter ihren Zeitgenossen, nie "voll", aber immer ausreichend "im Trend" ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft, gerade darum bilden sie Geschichte ab. Und da sie alle in Deutschland geboren wurden und meist auch dort heirateten, wenn auch von Lothringen bis Ostpreußen verteilt, bilden sie deutsche Geschichte ab.

Historiker, die sich berufsmäßig mit Geschichte befassen, stehen vor demselben Problem wie der Familienforscher. Die Einzelheiten der Geschichte sind unzählige, sie alle darzustellen, bedeutet Chaos. Chaos verwirrt, ist inkommensurabel. Daher muß man Linien ziehen, Schneisen in den Wald der Daten schlagen, um sichten zu können. Aber man darf nicht behaupten, diese Schneise bilde die Natur ab. Sie ist mein persönlicher Weg durch das Dickicht der Wirklichkeit.

IV. Mein Ziel bleibt das Nachdenken über Wirklichkeit und wie sie sich im menschlichen Leben erfahren läßt. Dabei spiegele ich meine Lebenserfahrungen in die Daten von Vorfahren und probiere, was dabei herauskommt. Die dabei entstehenden Schatten und Schlaglichter muß ich nicht retuschieren. Sie gehören zur Familiengeschichte dazu.

Familie ist der Zusammenhang von Menschen, die wissen, daß sie verwandt sind. Wie sie das feststellen, welche Kriterien sie dabei anwenden, ist nicht so wichtig. Es gibt viele Menschen, die sich über ihre Verwandtschaft beklagen. Wer keine Verwandten hat, klagt aber auch. Die Verwandtschaft ist unser Sitz im Leben. An Großvaters und Tantes Charakter macht das Kind seine ersten psychologischen Studien, indem es die beiden mit Vater und Mutter vergleicht. Das gilt sicher auch für das adoptierte Kind. Der Vergleich mit der Nachbarin gibt längst nicht so viel her. Aus der Betrachtung von Familie entsteht Menschenkenntnis.

V. Stammbäume haben etwas Beruhigendes, fand meine betagte Mutter. Das empfinde ich auch so. Geboren, verheiratet, gestorben - ein Leben hakt sich ans andere, jeder hat seinen Teil am Dasein, die Unterschiede scheinen gering im Vergleich mit dem ewig Wiederkehrenden: geboren, verheiratet, gestorben. Und immer mindestens ein Kind, das den Stammbaum erhält!

Man kann Stammbäume aber auch als beunruhigend empfinden. Die früh verstorbenen Geschwister der Vorfahren oder die Kinderlosen sind da nur ein Aspekt. Viel beunruhigender ist doch die Beschränkung auf das biologische Überleben der Sippe bis auf mich, fern von jeder Rücksicht auf Glück, Geist oder Sittlichkeit. Im Stammbaum zählt allein der fortpflanzungsfähige Nachkomme. Wie der zustande kommt, ist vom Prinzip her gleichgültig - obwohl viele Genealogen, wenn ihnen die Art der Zeugung nicht paßt, anfangen zu mogeln. Der Einzelne scheint für den Stammbaum gleichgültig. Belohnt wird nicht Liebe, sondern die Zuchtwahl. Deshalb hat die Familienforschung unter den Nationalsozialisten solchen Aufschwung und weite Verbreitung erlebt. Eine biologistische Auffassung vom Menschen unterdrückte die Persönlichkeit. Deine Sippe ist alles.

Diesen Fehler möchte ich vermeiden. Lebensglück und -unglück, Geist, Sittlichkeit und Schuld sollen in meiner Familiengeschichte nicht unbeachtet bleiben. Gerade weil der Einzelne dem allgemeinen Prinzip des Werdens und Vergehens unterliegt, möchte ich seine Besonderheit aufspüren. Die Besonderheit der Sonderlinge - aber gerade auch die Besonderheit derer, die angepaßt und unauffällig erscheinen.

VI. "Dein Sohn, deine Nichten und Neffen können sich freuen!" sagen manchmal Freunde oder Freundinnen, wenn ich ihnen eine Anekdote aus meiner Familiengeschichte erzähle. Ob sie sich wirklich eines Tages darüber freuen werden? Ich bin mir nicht so sicher.

Auf die nachfolgende Generation wirkt zuallererst die Person der Erzählerin. Ich bin ein schwieriger Mensch, das weiß ich selbst. Einerseits wahre ich die Konvention, andererseits neige ich dazu, sie in Frage zu stellen. Meine intensive Anteilnahme an andern wird zwar nicht bezweifelt, glaube ich, aber es ist oft eine verwunderte Anteilnahme. Und meine Familiengeschichte wird von den jungen Menschen vielleicht als ein Kanon von Forderungen gelesen.

Dabei ist das nicht mein Ziel. Ich sehe deutlich und will das in der Erzählung nicht verwischen, daß das Leben unsrer Vorfahren kein beispielhaftes war. Aber vielleicht ist es gerade das, was die nächste Generation mit Schweigen quittiert? Daß ich so wenig unsere Herkunft verherrliche. Bin ich zu kühl? Und daß ich so viele Daten verarbeite. Bin ich zu pedantisch? Soll ich meine Erzählweise also ändern, geschwätziger werden, betulicher, mich anbiedern?

Der Enkel wegen will ich das nicht. Sie werden mich nicht mehr so gut kennen. Deswegen wird ihnen meine Person weder wichtig sein noch im Wege stehen. Ihre Neugier will ich befriedigen, wie ich meine befriedige: mit möglichst vielen Daten. Daß keine meiner Enkelinnen, keine meiner Großnichten und -neffen und keins meiner Urenkelkinder sich für Familiengeschichte interessieren wird, ist auch in Rechnung zu nehmen. Warum sollte ich mich aber dann nach denjenigen richten, denen mein Wissensdurst fremd ist?

Lob und Tadel sollen mich nicht verwirren. Etwas Ordentliches will ich machen. Es gibt keine Muster für dies Vorhaben - richtiger gesagt, ich habe die Muster schon verworfen. Ich habe eine Vorstellung vom Ganzen. Der strebe ich nach.

VII. Unweigerlich drängt sich dem Familienforscher nach einer Weile der Gedanke auf: Was tust du da eigentlich? Wer sich öfter mit andern Genealogen austauscht, fragt sich das vielleicht weniger. Der Eifer der andern und das Gruppengefühl tragen über manche Skepsis hinweg. Aber wer den Zeitaufwand, die Kosten, die Abwendung von alltäglichen und praktischen Dingen, die Belästigung fremder Menschen, ja, die Vernachlässigung von Verwandten und Freunden um der Familienforschung willen nicht als selbstverständlich ansieht, der muß doch ab und zu innehalten und sich fragen: Was tust du da eigentlich?

Das ist nicht die Frage, ob es sich lohnt. Die ist leicht beantwortet: natürlich nicht. Ein noch so sorgfältiger Stammbaum bringt nichts ein, die Familiengeschichte ist oft langweilig. Weder Ruhm noch Geld sind dabei zu verdienen. Das ist von vornherein akzeptiert.

Das ist auch nicht die Frage, ob es Spaß macht. Auch die ist leicht beantwortet: natürlich. Es macht Spaß, Archivreisen zu konzipieren, selten geöffnete Akten umzublättern, diese Akten mit Hilfe gedruckter Quellen in ihr historisches Umfeld einzuordnen, mit völlig unbekannten Menschen über die soziale und politische Vergangenheit ihrer Heimat, die zufällig die Heimat eines Vorfahrenstammes ist, zu sprechen, das Klima fremder Orte als etwas Urvertrautes zu genießen und "Geheimnisse aufzudecken".

Wenn ich bei der Familienforschung nicht etwas herstellen könnte, möchte ich nicht Genealoge sein. Oft beschleicht mich bei der Betrachtung vielgliedriger Werke, seien es alte Stickereien, schön geschnitzte Truhen oder harmonisch angelegte Gärten die Vorstellung: an solch einem Werk arbeitest du auch. Dann werde ich mir aber gleich bewußt, daß es nicht in meiner Macht liegt, die Einzelheiten der Familiengeschichte frei zu stilisieren. Diese Geschichte ist ja schon vorhanden - eine Kette von Generationen - und es gibt Urkunden, die das bezeugen. Es gibt Linien des Erfolgs, der Tradition, des fortgesetzten Wandels - aber oft brechen sie plötzlich und ohne jede Erklärung ab. Manchmal setzt auch ein rohes politisches Ereignis einer sinnreichen Entwicklung ein jähes Ende. Ich habe wenig Spielraum für Ästhetik. Will ich Schönheit, wozu auch die Dramatik rechnet, so sind die Tatsachen spröde und langweilig. Sind sie aber gelegentlich an- und aufregend, so ist das nicht mein Verdienst. Habe ich mich mit meiner Familiengeschichte übernommen? Habe ich für meinen Wunsch, etwas zu machen, ein ganz ungeeignetes Terrain und ein schlechtes Material gewählt?

In solchen Zweifeln habe ich nach neueren Grundsatzdiskussionen unter Historikern gesucht. Und dabei viel Bestätigung für meine Arbeit gefunden.

Zuerst stieß ich auf die Aufsätze von Natalie Zemon Davis. Ihre freie Art, mit Urkunden und Akten umzugehen, faszinierte mich. Anscheinend gab es keine Frage, die zu einfach, und keine, die zu gewagt für sie war. Auf der Suche nach weiteren Arbeiten von ihr fand ich zwei Wagenbach-Taschenbücher von 1986 und 1990, in denen sie jeweils einen Aufsatz beigesteuert hatte. Nun aber waren ihre Aufsätze für mich schon wieder weniger interessant als die der andern Autoren: vor allem Arnaldo Momigliano und Paul Veyne, außerdem Claude Levy-Strauss und, anscheinend der geistige Vater dieser Richtung, Lucien Febvre. Doch auch die Herausgeber halfen mir weiter.

In diesen Bänden erfuhr ich nun, daß zumindest einige Historiker Bedenken tragen, wenn es heißt, man könne aus der geschriebenen Geschichte fürs Leben lernen. Und ich wurde daran erinnert, daß die Geschichte unter die Künste zählt - die Muse Clio! - und nicht unter die Wissenschaften. Und ich konnte mich identifizieren mit dem frechen Satz von Paul Veyne: "Es ist interessanter, Historiker zu sein als Geschichtsbücher zu lesen." Das trifft's. In meiner Familiengeschichte bin ich Historiker ohne Konkurrenz. Ich muß nicht alles wissen. Die Muse Clio mit ihrem Griffel sammelt, setzt Akzente, Betonungen, verteilt Gewicht und Bedeutung. Unter ihrer Leitung schaffe ich etwas, was es vorher nicht gab. Und das aus einem Stoff, der wie der Ton des Töpfers und der Stein des Bildhauers seine eigene Konsistenz, seine nicht zu mißachtenden Gesetze mitbringt. Die Quellen sind die Hauptsache. Trotzdem ist das Ergebnis mein Werk. Familiengeschichte.