Ahrensburg, den 2.Januar 2021
Mein lieber Sohn,
ob du dabei warst an jenem Abend 1969 in Izmir-Bornova, im Haus der Wildermanns? Dabei waren die Bilgins, der kunstsinnige Architekt Ziya und seine deutsche Frau Henny, dabei waren Klaerens, der deutsche Tabakhändler Harald und seine Frau Marion und noch jemand aus dem Goethe-Institut, glaube ich, jemand türkisches, denn ich erinnere mich an das Gefühl: Was mögen die Türken denken? Und dann könnte doch Ziya nicht der einzige Türke an diesem Abend gewesen sein.
Jedenfalls setzte sich Dr. Wildermann, der eine russische Mutter und ein schäumendes Temperament hatte, nach dem schönen Abendessen ans Klavier und stimmte das Lied vom Prinzen Eugen an – nicht das anonyme Volkslied von der „Brucken dass man konnt hinüberrucken“, sondern das Lied von Ferdinand Freiligrath, vertont von Carl Loewe „Hey, das klang wie Ungewitter weit ins Türkenlager hin.“ Dein lieber Vater sang begeistert mit – ich kannte das Lied gar nicht! Und ich fühlte mich – vielleicht zum erstem Mal - auf der Schnittstelle zwischen Türken und Deutschen, auf der ich mich bis heute so oft fühle. Das verlorene Osmanische Reich und das verlorene Deutsche Reich – mächtige Gefühle, Erinnerungen von Menschen, die die Erben großer Ideen von Pracht und Einfluss sind.
Auf dieser Schnittstelle habe ich mich wieder befunden am 30. Dezember 2020 bei meinem 1. Zoom-Meeting. Es ging von Familia Austria aus, der ausgezeichneten Vereinigung österreichischer Familienforscher, die eine ganze Anzahl sehr kompetenter Genealogen beschäftigt. Herr Günter Ofner und Frau Fennes haben mir verschiedentlich bei schwierigen Toten Punkten geholfen, ihre statements zu Taufen von Juden z.B., zur Aufstellung von Kaiserlichen und Reichstruppen, zum dänischen Census etc. waren für mich von unschätzbarem Wert.
Nun also Zoom-Meeting statt Vorträgen in Wien: was für eine Chance für die alte Frau in Schleswig-Holstein! Herr Ofner, selber ein älterer Mann, war mit dem Medium auch noch nicht so recht vertraut, aber er hatte jüngere Assistenten. 118 Menschen nahmen teil. Herr Ofner wollte alle einzeln begrüßen. Wir konnten gegenseitig unsere kleinen Passbilder sehen. Ich guckte im Gegensatz zu den andern im Halbseitenprofil. Denn ich schaute auf den Monitor, den du mir besorgt hast, die Kamera aber war im Surface. Die Begrüßung dauerte eine Stunde.
Das Thema waren die Türken vor Wien 1683. Wir beide, du und ich, haben das 1972 oder 1973 in Izmir gelernt für deine Geschichtsarbeit in der 4. oder 5. Klasse der Hakimiyeti-Milliye-Ilkokulu. Ich erinnere mich deutlich an Kara Mustafa Paşa. Du auch?
Herrn Ofner ging es nur nebenbei um die Türken, obwohl er prächtige Bilder von ihnen dabei hatte und Knabenlese, Janitscharen, Hilfstruppenkontingente,
Kriegsführungsprinzipien und -ziele gut erklärte. Wir Genealogen sind keine Geisteswissenschaftler, eher Ingenieure, Handwerker, wir sind am Realen, am Praktischen interessiert und am Leben der kleinen Leute. Und Herrn Ofner ging es auch nicht um die Schlacht am Kahlenberg, die die Befreiung für Wien brachte, sondern um die Verheerung des platten Landes, der kleinen Städte und Burgen, die dem eigentlichen Krieg vorausgingen. Und er war auf der Suche nach landrätlichen Verlustlisten und Kirchenbüchern, die die Namen der Ermordeten und in die Sklaverei Verschleppten, die Namen der völlig verwüsteten Dörfer und Einzelhöfe überliefern. Und auch nach den Listen derer, die nach dieser Verwüstung immigrierten und die Dörfer wieder aufbauten.
Herr Ofner ist Österreicher. Die meisten Teilnehmer des Meetings waren auch Österreicher, mit konkreten Interessen an einzelnen Orten Niederösterreichs. Sie wussten, wo sie hingehörten. Die Habsburger waren ihr Kaiserhaus. Die Bekämpfung der Ungarischen Adligen, der Kuruzen, die gern evangelisch sein wollten und deswegen aufständisch wurden, war ihnen bekannt oder egal. Die Türken feindlich-fremd, zum Glück am Ende besiegt.
Ich habe sechs Jahre in der Weltstadt Istanbul gelebt, habe morgens und abends von meiner Wohnung über das goldene Horn auf den alten Serail geblickt, bin in den Pavillons und Gärten, in den Moscheen und Museen spazieren gegangen. 12 Jahre insgesamt habe ich in engem Kontakt mit Türken gelebt, bin Freundin und Lehrerin gewesen. Auf der anderen Seite bin ich die Nachfahrin von evangelischen Schlesiern, die vor der Dragoner-Rekatholisierung der Habsburger nach dem 30jährigen Krieg aus Niederschlesien nach Polen geflohen sind. Ich kann da nicht so eindeutig sein. Aber natürlich umso aufmerksamer.
Dass Wien damals nicht türkisch wurde, war durchaus auch in meinem Interesse. Das schönste Semester meines Studiums habe ich im Sommer 1959 in Wien verbracht. Ich kannte den Palais des Prinzen Eugen, die Wiener Hofburg und am besten die Wiener Oper und das Burgtheater. Ich liebte das Theaterwissenschaftliche Institut. Dass Wien nicht osmanisch werde, wünschten ebenso unsere Vorfahren um 1683. Auch wenn die Kölner sich nicht beteiligt haben an der Verteidigung, aus Angst vor Ludwig XIV., der den Fall von Wien betrieb. Der Domherr Dr. Henrich Mering, der Medizinprofessor Theodor Mering in Köln haben sicher um Wien gebangt, auch wohl Türkensteuer bezahlt, um verschwiegen bairische Truppen zu unterstützen. Und der Windmüller Heinrich Schurtzmann und der Schmied Martin Majunke in Kobylin, der Hutmacher Johann Nitsche und der Windmüller Georg Eydtner in Lissa, beides Städtchen in Großpolen, waren auch auf der Seite der Wiener. Denn ihr König Jan III. Sobieski war derjenige, der schließlich half, Wien zu befreien, auch wenn seine Hilfstruppen, die Kosaken, wieder viele Dörfer Niederösterreichs brandschatzten.
Aktiv eingetreten ist unsere Familie erst in den 6. Türkenkrieg, in der Person von Johann Friedrich von Mering, „zeitlebens gewesener kaiserlich königlicher Hauptmann“. Er hat als Mitglied des Deutschen Infanterie-Regiments 1717 unter Prinz Eugen Belgrad mit eingenommen. Aber das wusste ich damals in Bornova, am Klavier von Dr. Wildermann stehend, neben deinem fröhlich singenden Vater, noch gar nicht.
Deine Mutter