Der Rotgerber

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Johan Deutzman, geboren ca. 1655, gestorben 1724 in Thorn

Er hat es nie verstanden, woher seine Probleme kamen. Probleme mit den Polen – klar, das konnte man haben. Die Polen hatten eine andere Sprache, eine andere Gesellschaft, sie hatten ihren Adel, die Schlachta, und daneben abhängige Bauern. Unweigerlich gab es da für einen deutschen Bürger und Handwerksmeister Probleme. Das verstand er. Auch Probleme mit der katholischen Kirche – klar, die hatte man immer, wenn man gut lutherisch war. Die musste man sogar haben! Dieser papistische Gottesdienst, die vielen Heiligen, der Prunk der Priesterkleidung, die Bilder und Altäre – wenn man dagegen war, hatte man natürlich Probleme. Und da die Polen meistens Katholiken waren und da sie im Lande die Mehrheit waren, da das Königreich ein polnisches Königreich war, musste man damit rechnen, mit den ganz normalen Problemen. Das war selbstverständlich und das konnte er, Johann Deutzschman, ganz gut.

Ja, er kam mit den Polen klar, sowohl wenn er bei Metzgern Häute aufkaufte oder bei Bauern Eichenrinde zur Lohe als auch wenn er Schustern, Sattlern und Riemern das zugerichtete Leder verhandelte. Ja, das verstand er. Sogar mit den Juden stand er sich leidlich, obwohl die nun wirklich schwierige Leute sind und durchaus gelegentlich versuchten, ihn reinzulegen, wenn sie ihm Halbgares von zweifelhafter Herkunft anboten. Aber nein, mit denen wurde er schließlich doch handelseinig und sogar ganz heiter, wenn er ihre Ware lange genug geprüft hatte und sie das ehrliche Geld sahen, mit dem er bezahlte. Aber die Probleme mit seinen eignen Leuten, deutschsprachig, lutherisch, zünftig wie er, die verstand er nicht. Und trotzdem nahmen sie kein Ende. Dabei war er davon überzeugt, dass er fleißiger, hilfsbereiter und vor allem erfindungsreicher war als die andern deutschstämmigen evangelischen Gerbermeister in Thorn, die Carle, Gawitz, Meyer, Pfund, Schneider, Kircheißen, Zimmer oder wie sie heißen mochten. Eigentlich hätte er selber Grund gehabt, mit den Kollegen unzufrieden zu sein, weil sie so engstirnig waren, so krittelig und träge dabei. Aber über ihn beklagten sie sich, hängten ihm alle Schuld an, keine Meisterquartalssitzung vor offener Zunftlade gab es, in der er sich nicht hätte verteidigen müssen. Oft wurden ausgerechnet über ihn von den Zunftelterleuten Strafen verhängt, und er musste in vorgeschriebener Form um Gnade bitten, damit die Zahlung halbiert wurde wie’s Brauch war. Nein, das war unbegreiflich! Es hatte schon in seiner Lehrzeit angefangen, 1673 oder 1674 war das, er war ein Bursche von 14 Jahren. Der Meister Paul Kircheisen hatte einfach keinen Mut, ein Experiment mit neuen Gerbereistoffen zu machen, brach vorzeitig ab, was der Lehrling neugierig angefangen hatte, hatte natürlich Schaden am Leder und schmiss den Johann Deutzschman wütend aus dem Hause – und Eine Ehrbare Zunft gab dem Meister Kircheisen Recht, anstatt seine, des doch lernwilligen Jungen, Partei zu ergreifen! Da mussten erst Herr Schwanitz und Herr Blömbel, zwei Ratsherren sich für ihn verbürgen, dass sie jeden Schaden, den er verursachen werde, bezahlen wollten, nur damit er 1675 aufs neue als Lehrling angenommen und eingeschrieben wurde. Eine solche Regelung ist für keinen andern Lehrling in den Jahren zwischen 1675 und 1700 getroffen worden!Ins Buch der „Rothgerber Meisterquartale“ von Thorn wurde sorgfältig eingetragen und ist dort bis heute nachzulesen:

Anno 1675 d. 6. 9br. hatt Paulus Kircheisen seinen Lehrjungen Hanß Deütschman zum andermahl in Lehr angenohmen auff sein umbständiges auch seiner Zeugen begeren erhalten bei E.E. Zunfft auff 2 Jahr angenohmen worden, auch sämtliche Nahmen ins buch ein schreiben verordent. Die bürgen seind der Ehrbahre Johann Schwanitz u. Georg Blömbel welche in beysein der gantzen E.E. Zunfft bey offt üblicher laden Versprochen so fern er seinem Meister Schaden zufügen möchte sie als schonloß bürgen sich versprochen.

Natürlich musste er sich nun fügen, auch wenn er wenig lernte, hart arbeiten, auch wenn man ihn ausnutzte, und wurde endlich 1678 freigesprochen. Im Buch der Rothgerber Meisterquartale steht:

1678 d. 7. Febr. hat Paul Kircheisen seinen Lehrjungen Johann Deutschman, dieweil niemandt nichts erhebliches außsetzn wißen von seinen Lehrjahren loßgesprochen, hat auch 3 g einschreibgelt gegeben.

Johann ging gleich danach auf Wanderschaft. Es schien, als ob niemand in Thorn das bedaure.Die Jahre in der Fremde waren interessant, oft wild, manchmal hart – der Dreißigjährige Krieg wirkte noch nach. Aber in der Rotgerberei in deutschen Landen sah er überall die alten Regeln und überall denselben Zunftzwang. Technisch Neues zeichnete sich nicht ab und die unzünftigen Betriebe, die er kennen lernte, hatten auch keine besseren Ergebnisse am Leder. So schwenkte er denn wieder ein auf den Weg des Ehrbaren Handwercks und zugleich bekam er Sehnsucht nach seiner Heimat, der schönen Stadt Thorn in Polen.

Anno 1682 d. 13. October Ist vor E. Erbr. Zunfft erschienen der Erbr. Gesell Hanß Deutschman und gemeldet wie daß er gesonnen wehre allhier Meister zu werden und denen Artickulen ein genug zu thun.

Mit den „Artikeln“ meinte er die Vorschriften der Gerberzunft. Man war nicht dagegen, offenbar wusste man ihn doch zu schätzen. Vielleicht hatte man schon Anzeichen dafür, dass Johann Wachschlager, ein Mann aus den alten deutschstämmigen Geschlechtern in der Thorner Altstadt, geneigt schien, dem Johann Deutzschman seine Tochter Anna zur Frau zu geben. Doch dann gab es wieder die gewohnten, für Hanß Deutschman unerklärlichen Schwierigkeiten. Kein Thorner Gerbermeister mochte Deutzschman für das vorgeschriebene Mutjahr bei sich arbeiten lassen.

Weil dan in denselben (den Zunftartikeln) enthalten daß er bey einem Meister daß jar arbeiten muß, Ihn auch ein Meister verschaffet, weil sich aber sein gewesener Meister einge….. streites halber über Ihn beschweret hat, deßweg In auch kein Meister annehmen wollen, als ist ihm von der Erbr. Zunfft zuerkandt worden, daß jahr Zu verwandern, doch mit dem Bedinge, daß hinfür keiner darauf fußen soll.

Johann Deutzschman verstand sehr gut, dass es sich dabei wieder um eine Ausnahmeregelung für ihn persönlich handelte. Er verstand, dass man sich bemühte, ihm gerecht zu werden, man hatte ihm ja auch schon einen Meister „verschaffet“, aber dann wollte keiner der Meister mit ihm zusammenarbeiten. Sein gewesener Meister hat sich über ihn beschwert, eingerissenen Streites halber. Wer wusste schon, worüber der Streit entstanden war! Paul Kircheisen war ein alter, sehr angesehener Rotgerbermeister in Thorn-Neustadt[1]. Schon sein Vater war in Thorn Rotgerber gewesen. Wenn er sich über ihn, Johann Deutzschman, beschwert hatte, so war das schwerwiegend. Trotzdem wiesen ihn die Elterleute nicht etwa ab. Trauten sie ihm zu, dass aus ihm ein guter Meister werden könnte? Brauchten sie gerade jetzt, 1682, junge Meister in Einer Ehrbaren Zunft? Jedenfalls boten sie eine ungewöhnliche Lösung an zur Durchführung des Mutjahres, das nach den Zunftartikeln unbedingt zwischen der Wanderschaft und der Anfertigung des Meisterstücks liegen musste. Und diese Lösung sollte keine Präzedenzkraft für andere Gesellen haben. Johann Deutzschman nahm an.Offenbar wanderte er nicht weit weg. Schon im Juli des darauf folgenden Jahres befindet er sich mitten in der Meisterprüfung. Und gleich gibt es wieder Ärger: obwohl er doch weiß, dass er während der Prüfungszeit nicht mit Leder handeln darf, tut er es. Man kann es ihm nachweisen und er muss Strafe zahlen.

Anno 1683 d. 3. July Hat es sich begeben, daß dem Hanß Deutschmann in wehrender Prüffung deß leder einKauffeß untersaget worden, weil er sich aber deßen nicht enthalten undt ihm solches erwiesen Werg als hat man Ihm bey der ersten Prüffung Straff aberkandt 8 Gr. und weil er aber um Gnade gebetten als ist 4 Gr. Zurück gekehret worden.

Johann Deutzschman bittet um Gnade. Das tut er jedes Mal, wenn er von Einer Ehrbaren Zunft getadelt wird. Es fällt ihm offenbar nicht schwer. Natürlich ist diese Bitte um Gnade keine Schande, sie ist vollkommen ritualisiert und gehört zu den Gewohnheiten der Quartalssitzungen der Meister. Die Strafen werden offenbar von vornherein höher angesetzt, damit man sie nach gezeigter Reue erniedrigen kann. Im Gegenteil fühlt sich die Zunft irritiert, fast bekümmert, wenn der Getadelte, sei er nun Geselle oder Meister, nicht um Gnade bitten will. 1702 ist ein solcher Fall im Zunftbuch über den Meister Hanß Barthel Heldt vermerkt: weil er aber die Straffe mit vielen Widerwillen erleget und umb keine gnedige Straffe gebedten, hatt eine E. Zunfft die Helffte von dem gelde denen Armen im Spitale laßen außtheilen.

So wie Meister Barthel verhält sich Johann Deutzschman niemals. So oft ihm eine Strafe zuerkannt wird, so oft bittet er um Gnade. Und nie vergeblich. Jedesmal erreicht er eine Minderung des Strafgeldes. Fast möchte man meinen: er tut, was er für richtig hält, auch wenn es den Zunftartikeln widerspricht. Aber er ist nicht rechthaberisch. Das gute Verhältnis zur Zunft ist ihm wichtig. So unterwirft er sich dem Urteil der Elterleute und bittet um Gnade. Nach diesem früh eingeübten Muster geht seine Meisterprüfung über die Bühne – nicht ganz glatt, das würde nicht zu Johann Deutzschman passen, aber doch im üblichen Zeitrahmen.

Anno 83 Ist dem Hanß Deutschmann nach dem Er seine Muthgroschen erleget undt die erste Einmuttung laut Artikuln gepflogen das Meisterstück gegeben worden.

Das Meisterstück ist wirklich ein „Stück“, nämlich eine rohe Rindshaut. Die Innung kauft sie und gibt sie dem Meisteranwärter. Sie begutachtet dann die einzelnen Schritte der Gerbung. Und das Ergebnis, das fertige Leder, gehört ihr. Für diesen Vorgang sind Prüfungsgelder zu zahlen.

Ao 83 d. 5. October hat ein erbr. Zunfft das Michaels Quartal gehalten …Anno 1683 d, 5. October hat Hanß Deutschman die andere Einmuttung gepflog. und seinen Muttgroßen erleget. Ao 1684 d. 9. Martiy Ist daß Mittfasten Quartall gehalten ….In diesem Quartal hat Hanß Deutschmann den dritten Muttgroßen erleget undt weil er es versehen, in dem Er in diesem Quartale nicht sich lassen einwerben, als hat er solches biß auff das Johannis Quartal vorspahen müßen. …..darauff den 7. Aprill hat Hanß Deutschmann sein Meisterstück der Erbr. Zunfft in augenschein gebracht, welche ihm bewilliget ins dritte loh zu bringen.

Die dritte Lohe ist die letzte. Die komplizierten chemischen Vorgänge beim Gerben waren nicht analysiert. Meistergenerationen hatten durch Versuch und Irrtum Rezepturen gewonnen. Die wurden sorgfältig gehütet und nur innerhalb der Zunft weitergegeben. Johann Deutzschmann wird jetzt, 1684, auch in die letzten Geheimnisse eingeweiht. Dazu muss er sich „einwerben“ lassen von zwei zünftigen Meistern.

Anno 1684 Ultimo Juny hat ein Erbr. Zunfft das Johann Quartal gehalten….In diesem Quartal hat Hanß Deutschmann sich einwerben laßen durch Johann Kirgeise und Baltzereidt Meyer, nach dem die erbr. Zunfft auff Ihme nichts zusprech do auß als hat Er sein Meisterrecht erlegt 100 R, nachdem er Gnade gebetten ist ihme 50 R zurück gegeben. Undt ihme von E. Erbr. Zunfft so wolle der ein Kauff des Lohes als auch Leders unttersaget worden biß auff das Künfftige Quartale, da als dan Zur auffweisung seines abgetrockenten und fertig gemachten Meisterstücks Er zum Vollkommenen Meister soll angenommen werden.Anno 1684 d. 10. October Ist daß Michael Quartal gehalten …..In diesem Quartal hat Hanß Deutschman sein Meisterstück auffgewiesen und nachdem großen unfleiß dabey beffung, als hat Ihm E. erbr. Zunfft Straff aberkandt 50 R weil er aber umb gnade gebetten, ist ihm 10 zurück gekehret. Und nachdem Er vermöge den neuen Artikeln daß sein gelfen, ist er zu einem Vollkommenen Meister auff und angenommen doch mit dem bedinge daß er innerhalb von 14 Tagen daß Bürgerrecht erlangen soll und sich gäntzlich des einkauffs und Kauffes enthalte, daß Einschreib hat er erleget 1 Rth.

Am 10. Oktober 1684 ist also Johann Deutzschman trotz unvollkommenen Meisterstücks als vollkommener Rotgerbermeister anerkannt worden. Ob er es geschafft hat, schon vierzehn Tage später Bürger der Thorner Neustadt zu werden, steht nicht im Zunftbuch, aber er wird es noch im gleichen Jahr. Und am 6. Februar 1685 heiratet der junge Meister die Jungfrau Anna Wachschlager, deren Vater schon verstorben ist. Im Kirchenbuch wird eingetragen:

1685 Februarius 6: Hanß Deutzmann, Ein rothgärber mit Jungfr. Anna, johan Wachschlagers nachgelaßenen Tochter.

Auch die Heirat entspricht Zunftbrauch. Ein Meister soll das Bürgerrecht besitzen und verheiratet sein. Johann Deutzschman ist kein Sonderling. Er tut, was üblich ist. Er tut es jedenfalls dann, wenn er einsehen kann, dass es nützt. Er hat seinen eigenen Kopf, er hat ihn zum Denken. Und er entscheidet mitunter instinktiv.

1685 Johann Quartal … In diesem Quartal ist Hanß Deutschman angeklaget, daß er zwey Fuder rinde vor dem Thore gedungen, welches Ihm auch erwießen, als ist ihm Straffe aberkandt 6 R weil er aber umb gnade gebetten ist Ihm 3 zurück gekehret.In diesem Quartal ist Hanß Deutschman angeklagt, daß er seinen gesellen geschimpfet.

Vor dem Stadttor privat zwei Fuder Rinde zu kaufen, ist natürlich unzünftig. Die Eichenrinde für die Gerblohe kauft die Zunft auf dem offenen Markt der Neustadt, das muss sie, das verlangt das Marktrecht der Stadt. Dann mahlt sie die Rinde zu Lohe in der gemeinsamen Lohmühle und verteilt sie an die Meisterbetriebe nach ausgehandeltem Schlüssel. Hanß Deutzschman tut da etwas, was, wie er sehr wohl weiß, gegen alle Regeln ist. Und er verhält sich wie üblich: Als man ihm seine Übertretung nachweist, bittet er um Gnade und erhält sie. Man denkt dabei, dass die privat eingekaufte Lohe die drei Reichstaler Strafe womöglich wert war. Und man denkt auch, dass die Zunft den Bedarf ihrer Meister an Lohe vielleicht rechtmäßig auf dem Markt gar nicht decken konnte, doch musste ihr – und auch Hanß Deutschman – an einem guten Verhältnis zum Rat der Stadt immer gelegen sein. Warum hat Hannß Deutschman auf demselben Meisterquartal seinen Gesellen beleidigt? Hat der etwa den Lohekauf verpfiffen?Ich habe nicht alle die Anlässe abschreiben können, bei denen Johann Deutzschman seiner Zunft Ärger bereitete und von ihr gestraft wurde. Er ist sehr viel häufiger aufgefallen als alle andern Meister, ein impulsiver, eigenwilliger Mann, aber geschäftstüchtig. Das muss sogar Eine ehrbare Zunft anerkennen. 1701 wählt sie ihn zum Eltermann. Michel Schneider wird „Kumpan“, das heißt Stellvertreter. Wie sich später zeigt, ist er ein ausgesprochen milder Charakter. Die Zunft weiß, was sie tut. Wenn der heftige Hanß der Eltermann ist, muss der sanfte Michel Kumpan sein. Ins Meisterquartalsbuch schreibt mein Vorfahr Deutschman tief befriedigt mit eigener energischer Hand:

Anno 1701 d. 29. Juli sein Elterleute geholet worden und ist zum Eltermann gewelet worden Johan Deutschman und Michel Schneider CompanAnno 1701 d. 19. 8br. Ist das Michael Quartal gehalten worden …In diesem Quartal habe ich wohlen Joh: Deutschman meinen Lehrjungen Andres Johnas seiner Lehrjahren freysprechen, weilen aber seiner lehrjahren Strackte auß wahren, hatt eine E. Zunfft gesprochen, er solte noch 14 Tage warten. …

Nach der Zunftregel führt der Eltermann das Zunftbuch. Johann hat eine gute, leserliche Schrift und er drückt sich prägnant aus. Er schreibt: In diesem Quartal habe ich wohlen Joh: Deutschman meinen Lehrjungen Andres Johnas seiner Lehrjahren freysprechen.

Hanß Deutschman spricht von sich in der ersten Person. Das ist ganz und gar unüblich, passt aber gut zu dem, was wir schon von ihm wissen. Daneben zeigt der Absatz, dass auch der Eltermann nur primus inter pares ist, er kann nicht seinen Lehrjungen freisprechen wie er will. Die Zunft ist demokratisch organisiert – wenn die Versammelten gegen den Eltermann entscheiden, muss er sich fügen. Das heißt aber nicht, dass man den Eltermann bei offener Lade Lügen strafen kann! Der Geselle Jacob Wendel Müller, der das im Juli 1702 wagt, „sündigt gröblich“ und erhält keine Gnade beim Strafmaß. Den Unterschied zwischen „gröblicher“ und lässlicher Sünde zeichnet der folgende Eintrag im Zunftbuch nach:

Anno 1702 d. 17. Juli ist Jacob Wendel Müller von Braunschweig vor einem Ehrbaren Werck 6 gr. Straffehlig aberkannt weilen ehr Mr. Heldten zum begrebnis gefolget, weilen er aber umb gnade gebethen ist ihm 3 pf zurück gegeben worden. Dito ist er eben gestraffet worden umb 6 gr. Weilen er den Elterman Johann Deutschman bey offener lade hatt liegen strafen heißen, weilen er so greblich gesindiget, ist ihm keine gnade widerfahren.

Der Geselle Jacob Wendel Müller aus Braunschweig ist offenbar an einem Arbeitstag ohne Erlaubnis zum Begräbnis von Meister Johann Barthel Heldt gegangen. Wer zu einem Meister-Begräbnis mitgehen durfte und dann auch musste, bestimmten die Zunftregeln. Der Geselle Müller gehörte diesmal nicht dazu. Er wird gestraft, kann aber um Gnade bitten. Den Eltermann in der offiziellen Zunftversammlung „bei offener Lade“ Lügen zu strafen hingegen ist unverzeihlich. Unser Vorfahr ist vielleicht so empfindlich, weil ihm im April dieses Jahres seine Hausfrau Anna, geborene Wachschlager, gestorben ist. Im „gewelb“ der Sankt Katharinenkirche vor den Mauern der Neustadt hat man sie beigesetzt. Die älteste Tochter Regina ist zwar schon sechzehn Jahre alt, aber Philipp ist erst zwölf, Anna Dorothea neun und Maria, meine Vorfahrin, nur sechs Jahre alt. Ohne Hausfrau kann er nicht bleiben, das ist klar, alles würde rückwärts gehen, im Haushalt und auch im Handwerk. Es ist eine Zeit der Krise. Seinem zupackenden Wesen entsprechend befindet sich Johann jetzt, drei Monate nach dem Tod der Frau, durchaus in der Phase der Brautschau. Aber leicht fällt es ihm nicht. Freunde und Verwandte beraten ihn. Maria Strewig ist es schließlich, die er erwählt und die seine Werbung annimmt, wieder eine Frau aus den alten Thorner Geschlechtern, Tochter des Fleischers Hendrich Strewig, der den Titel „Herr“ trägt, weil er Gerichtsschöppe ist, Witwe des sehr geachteten Hammermeisters Peter Wentzel aus Leibitz, der im April 1700 gestorben ist. Im Oktober 1702 werden die beiden, Witwe und Witwer, kopuliert. Ihre leiblichen Kinder, soweit sie leben, bringt Maria mit ins Rotgerberhaus: Jacob, der etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt sein muss, sehr wahrscheinlich Maria, die vielleicht als Dorothea 1687 im Taufbuch steht, vielleicht aber auch später in Leibitz getauft wurde, ganz gewiß ihr jüngstes, Gottfried Wentzel, erst drei Jahre alt. Johann Deutzschmans Haus füllt sich. Zwei Gesellen und ein Lehrling, eine oder zwei Mägde gehören sowieso ständig dazu. Das daneben für die vielerlei Arbeiten in einem großen Haushalt auch Tagelöhner nötig sind, versteht sich von selbst. In dies von Menschen wimmelnde Haus nimmt der Eltermann Deutschman 1703 das Buch „Rothgerber Meisterquartale“ mit. Die Stadt Thorn wird von den Schweden belagert. Das Buch erscheint ihm in seinem Hause besser gesichert als im Gerbhof, dem Zunftlokal bei der Ruine der Kreuzritterburg. Aber damit hat er doch einen Fehler begangen.

„1704 11. August … Noch ist gemeldet worden, daß in diesem Buch etliche Blätter sind verklebet worden, niemand anderes aber als Johann Deutschmann das buch bey sich gehabet, worauf er geantwortet er wüßte von der Sache gar nichts, er hette es zwar auf dem Fenster liegen laßen. Ob etwan seine Frau darüber kommen undt es verklebet, wehr Ihm unwißent, darauf E. Ehrb. gesprochen: daß buch wehre Ihm als einem Eltermann vertraut undt nicht der Fraun, erkannte Ihm als Straffe 12 gr. Weil Er aber umb Gnade gebetten ist ihm 6 gr. zurückgegeben.“

Ich habe dieses Buch im Staatsarchiv von Torun ehrfürchtig in Händen gehalten. Ich habe aus ihm die obigen Zeilen und viel andere sorgfältig abgeschrieben. Das Buch ist wirklich köstlich, aus dem Jahr 1626, in feines Leder gebunden. Das Papier ist heute noch so schön griffig wie damals, die mit dem Gänsekiel geschriebenen Buchstaben scharf und deutlich, die Tinte nicht verblasst. Nur die Schrift ist manchmal ungelenk, der Stil schwerfällig und manchmal vieldeutig, Dass in diesem wunderschönen Buch jemand einige Seiten „verklebt“ hat, ist wirklich unerhört. Es ist sonst nie vorgekommen! Ich ärgere mich heute noch bei dem Gedanken, obwohl man den Schaden offenbar beheben konnte. Mein Vorfahr Johann Deutschman als Eltermann war der einzige, der 1703 das Buch mit nach Hause hatte nehmen können. Und was sagt mein Vorfahr auf den Vorwurf, er habe das Buch verdorben? „…. Er wüsste von der Sache nichts, er hätte es zwar auf dem Fenster liegen lassen. Ob etwan seine Frau darüber kommen und es verklebet, wär ihm unwissend.“ Fast muss ich lachen. Johann, Johann! Du weißt dir doch immer zu helfen! Du weißt, wie man unter Männern Punkte macht. Und auch vor meinen Augen erscheint das Bild der tüchtigen Marianna, die, unwiderstehlich angezogen von dem feinen Buch auf dem Fensterbrett der Kammer, mit Händen, die von irgendeiner Hausarbeit beschmutzt sind, ein paar Seiten umblättert. Sie ist erst seit kurzem Ehefrau eines zünftigen Meisters; denn die Hammerschmiede ihres ersten Mannes war zwar einzigartig, aber kein Zunftbetrieb. Sie ist neugierig. Vielleicht konnte sie sogar lesen, denn ihr Vater Henrich Streuwig war ein reicher Fleischhauer. So klug war Johann Deutschman! Dreihundert Jahre nach der Feststellung des Schadens am Buch führt er die Chronistin seines Lebens auf die Fährte der Vorurteile! Frauenneugier und Ungeschick im Umgang mit Büchern sind notorisch. Er hofft, alle, die Zeitgenossen wie die Nachfahrin, werden verständnisvoll schmunzeln. Eine Ehrbare Zunft von Thorn 1704 aber lässt sich nicht beirren. Sie entscheidet, ihm als Elterman habe man das Buch anvertraut und nicht der Frau, und verdonnert ihn zu 12 Groschen Strafe. Johann bleibt nichts übrig, als zum Zeichen seiner Reue um Gnade zu bitten, damit er wenigstens die Hälfte des Geldes zurückerhält. Wundert er sich immer noch über seine Probleme mit seinen Berufskollegen? Fühlt er sich wieder ungerecht behandelt? Immerhin vergehen fast zwei Jahre, bevor Hans Deutschmann wieder auffällt im Zunftbuch.

1706 Anno 1706 d. 31. Marcij ist Meister Hannß Deutschmann zum Quartal vorbottet worden und ist frewentlicher weiße anderweit weggefahren ….

Das ist schlimm: Entboten - durch Boten eingeladen - zum Meisterquartal und freventlicher Weise woanders hingefahren! Dabei befindet sich Thorn mitten im Nordischen Krieg. Die schwedischen Truppen Karls XII. haben Thorn schon 1704 nach einjähriger Belagerung eingenommen. Seither reißen die Einquartierungen nicht ab. Die Stimmung in der Stadt ist gespannt, Handel und Wandel sind teils gestört, teils hektisch. Wohin mag Meister Hans gefahren sein?

1708 St. Johann Quartal In diesem Quartal ist gemeldet worden, daß aus Hanß Deutschmans Hauße ein Schoß nach einem Hunde geschehen und der Hund verreckt ist, als hat Meister Hanß Deutschmann gesagt, daß ihn ein polßscher Kerl geschoschen hat, welchen er auch gestellet und der Kerl ausgesaget, daß er ihn erschoschen hat.

1708 herrscht in Thorn die Pest. Da wird gemeldet, dass aus Deutschmans Haus ein Schuss auf die Gasse geschehen sei und einen Hund tödlich getroffen habe. Dass ein zünftiger Meister aus seinem Haus auf die Straße schießt, mag es auch nur einem Hunde gelten, gleicht in der allgemeinen Nervosität einem Spiel mit dem Feuer. Hans Deutschman muss sich verantworten. Er tut es nach bewährtem Muster: der leichtfertige Schütze, sagt er, war ein „polßscher Kerl“, ein junger Mann ohne Namen und Titel, der sich im Hause Deutschmans aufhielt. Hans bringt den polnischen Jungen mit und der sagt aus, ja, er habe auf den Hund geschossen. Damit ist die Sache erledigt, nicht einmal eine Strafe wird verhängt. Offenbar geht es nicht um Schadenersatz für den Hund, auch nicht um die Gefährdung etwaiger Passanten, auch nicht um den Besitz der Waffe, es geht einfach um den Schuss aus dem Haus, der sich nicht mit der Meisterwürde verträgt. Ein „polßscher Kerl“ hingegen kann sich solch einen Streich erlauben. Jedenfalls für die Zunft ist die Sache damit erledigt. Trotzdem ist es ein böses Omen. Das Zunftbuch hat für Politik keine Kategorien, ebenso wenig wie das Kirchenbuch. Nur Andeutungen finden sich: der polßsche Kerl, der aus Deutschmans Haus auf einen Hund schießt, die vorzeitige Lossprechung des einzigen Sohnes von Johann Deutschman, die Unregelmäßigkeit der Meisterquartale:

Weil auch in wehrender pest Zeit die Quartälle richtig nicht konnten gehalten werden, als hat Christian Pfund den Michael undt Sanktvalentinischen Muttgroschen nämlich 6 R auf einmahl erleget. 1709 d. 24. Juni …. In diesem Quartal hat Johann Deutschmann seinen Sohn loßgesprochen und zwar solchen gestalten, weil er seine völlige Jahre noch nicht erreichet, verspricht er, mit der Zeit selbten vor E. Erb. Gewerck zu stellen nur wegen leben undt sterbens halben bette er solches zu Conotiren. Welches auch E. Erb. Gewerck angenommen, hat 3 R. einschreiben erleget, sein Nahme Philieb Deutschman.

Philipp Deutschman, geboren 1690, lernt beim Vater das Rotgerberhandwerk, 1709 ist er neunzehn Jahre alt. Es ist kurz nach der Pest von 1708, kurz vor der Pest von 1710. Der Krieg dauert an, die Stadt ist verarmt, die Menschen sind verzagt. Sogar Johann Deutschman denkt ans Sterben. Er möchte, dass sein Sohn Geselle ist, „lebens und sterbens halben“. Und so zahlt er im voraus das Einschreibgeld und spricht die Formel des Lossprechens, auch wenn er weiß, dass sein Sohn noch nicht ausgelernt hat. Ein Ehrbares Gewerk akzeptiert diese merkwürdige Lossprechung. Der Name Philipp Deutschman wird ins Zunftbuch geschrieben, er liest sich wie Viellieb – man spürt förmlich die Zuneigung des Vaters. Johann Deutschman ist jetzt etwa 49 Jahre alt. Er versucht sein Haus zu bestellen. Er verheiratet seine verwitwete Tochter Regina Marquard zum zweiten Mal und die Stieftochter Maria Wentzel zum ersten Mal. Deren Mann wird der Bürger und Nadler Daniel Fischer. Zu versorgen sind nun noch die Tochter Susanna aus zweiter Ehe, dann zwei Stiefsöhne, der Gerbergeselle Jacob Wentzel und der kleine Gottfried Wentzel. Die Familie Deutschman überlebt auch die zweite Pestepidemie 1710, obwohl insgesamt in der Stadt 2000 Menschen gestorben sein sollen. Im Mittelalter hieß es, Gerber seien gegen die Pest immun. Klöster siedelten sich sogar dieses vermeintlichen Schutzes wegen in der Nähe von Gerbereien an. Am Mangel an Ratten kann es nicht liegen, im Gegenteil, die abgeschabten Fleischreste müssten Ratten anziehen. Aber vielleicht ist der Pestfloh geruchsempfindlich? Vertreibt ihn der Gestank der Häute und Lohen? Wie dem auch sei, die Rotgerberfamilie in Thorn überlebt zweimal die Pest. Und Johann Deutschmans Gerberei schlägt sich durch Krieg und Nachkrieg. Im Zunftbuch lese ich:

1712 Ich Johan Deütschman, nehme von E E Zunfft sieben Jauche Sohßen leder zum außarbeiten, es verspricht mir E E Zunfft von Stück gl 54 dargegen verspreche ich derselbe Wohl auszuarbeiten, wo solches so geschehe, daß ich dieselbe E E Zunfft bezahle welches eigenhendig unterschreibe Ao 1712 13 Jpden 18. Marcii hat Deutschman diese leder gezahlet der Zunfft.

Was mögen „Jauchesoßen-Leder“ sein? Wahrscheinlich halbfertige Ware, die man unter frischem Mist „geschwellt“ hat, vielleicht auch halbverdorbene Ware. Johann Deutschman erbietet sich, sieben Leder, die der Zunft gehören, „auszuarbeiten“. Manchmal heißt dieser Vorgang auch „zurichten“. Auf jeden Fall wird damit das Leder gebrauchsfertig. Wahrscheinlich kann Deutschman aus Mangel an Kapital kein Geld vorstrecken, er bleibt es der Zunft schuldig, bis er die fertigen Leder verkauft hat. Der Vertrag darüber wird wörtlich ins Zunftbuch geschrieben. Es findet sich kein ähnlicher Vorgang dieser Art. Am 18. März 1712 hat Deutschman richtig bezahlt, das heißt wohl auch, er hat die zugerichteten Lederstücke weiterverkauft. Hingegen bleibt Deutschmans Schwiegersohn Trüncks der Zunft Geld schuldig. Deswegen kann er auch den auf ihn fallenden Anteil an Lohe nicht erhalten. Auch in diesem Fall sinnt Hanß Deutschman auf einen Ausweg:

Anno 1713 d. 12. Juny ist die Ehrbahre Zunfft zusammengetreten, als hat sich Meister Hanß Deutschmann erbothen, daß er vor seinen Eidam als George Trüncks daß gelt waß er der Erbahren Zunfft schuldig ist vor ihn zahle auf solche weise, daß er das Loh was auf ihn fallen thut nehmen wiel, sollte er es aber wollen vor sich als nemlich der George Trüncks daß lö wieder vor sich behalten so soll er zuvor seine Schuld der Erbahren Zunfft zustellen so soll ihm das lo gefolget werden, soll er es aber dem Meister Hanß Deutschman solches zu laßen als hat sich Meister Hanß Deutschman erbotten von jedem Sack ein 6 gl der Zunfft nutzen geben wie auch der Meister Martin Gebhart weil er damal ist Meister worden und hat kein gelt zum einkauff des lo gegeben.

Das wertvolle Recht auf Lohe bleibt sozusagen in der Familie, der Schwiegersohn kann jederzeit seinen Anteil erhalten, wenn er wieder zahlungsfähig ist. Sonst kann der Schwiegervater ihn nutzen. Dafür will er die Zunft am Gewinn beteiligen. Klaus Schlottau weist darauf hin, dass eingekaufte Häute erst nach durchschnittlich drei Jahren fertig gegerbt waren und verkauft werden konnten. Deswegen brauchte der Gerber im Vergleich zu andern Handwerksmeistern viel Kapital. Hanß Deutschmann will dem jungen Meister helfen, natürlich nicht, ohne auch seinen eigenen Nutzen zu bedenken. Er führt den Präzedenzfall des Meisters Martin Gebhard an. Daran wird deutlich, dass die Zunft Bedenken hat, seinen Vorschlag anzunehmen. Mein Vorfahr ist wie im Fall der „Jauchesoßen“-Leder ein Mann, der von seinen Zunftgenossen flexible Entscheidungen verlangt. Er ist anstrengend und scheut keine Auseinandersetzung. Macht er auch seinen Töchtern das Leben schwer?Im Heiratsregister der Thorner Neustädtischen Kirche Zur Heiligen Dreifaltigkeit steht:

Anno 1714Jacob Wentzel, Bürger und Kupfferschmidt allhier mit Jungfrau Maria des Ehrbaren Johann Deutschmanns, Bürgers, Loh- und Roth Gerbers allhier Eheleibl. Tochter. Sind copulirt d. 27. Sept. t: p. Dn. 17. p. Trinit:NB. Diese beyde junge Eheleute waren zusammen gebrachte Sünder.

Warum hat Jacob Wentzel Maria nicht beizeiten geheiratet? Schließlich kannte er sie doch seit Kindertagen, seit seine Mutter 1702 den Vater von Maria heiratete? Als Bürger und Kupferschmied brachte er alle Voraussetzungen mit, um bei Hanß Deutschman um Maria werben zu dürfen. Hat Hanß sich wieder einmal stur gestellt? Hatte er eine andere Verbindung im Sinn? Oder betrachtete er Jacob, den Sohn seiner zweiten Frau Maria, als Bruder seiner Tochter und wollte sie ihm deswegen nicht geben? Wahrscheinlich haben diese beiden jungen „Sünder“ eine ganze Menge Ärger gehabt, ehe sie endlich „copulirt“ wurden? Der Pfarrer nennt Maria „Jungfrau“. Ihr war nichts nachzuweisen. Und er nennt den starrköpfigen Brautvater „ehrbar“. Der Satz von den „zusammen gebrachten Sündern“ klingt nicht böswillig, sondern zufrieden, als hätte der Pfarrer zusammengefügt, was zusammen gehört. Weil zwei junge Menschen im gleichen Haushalt aufwachsen, sind sie ja noch keine Geschwister! Ihre Ehe ist beständig, 38 Jahre währt sie, das ist für den Barock eine lange Zeit. Ich hoffe, dass ihr Zusammenleben nach damaligen Erwartungen glücklich war. Beim ersten Kind von Maria und Jacob Wentzel 1715 ist die Großmutter „Frau Maria, Johann Deutschmanns Hausfrau“, Patin, beim zweiten Kind 1718 der Großvater. Die Ehe der jungen Leute ist offenbar akzeptiert. Aber Maria und Jacob müssen zuerst Leid miteinander teilen, diese beiden ersten Töchterlein sterben. Die dritte Tochter erst wird erwachsen, sie wird unsere nächste Vorfahrin: Dorothea Wentzel, geboren 1720 in der Thorner Neustadt.Ihr Großvater hat inzwischen schon wieder eine Anklage provoziert. Im Zunftbuch steht:

Ao 1719 d. 17. July bey gehaltenem Quartal hat Mstr. Samuel Zimmer Mstr Hanß Deutschman angeklaget, wie er sich unterstanden die unziemlichen Worte in seinem Hauße herforzubringen neulichen er hette zweymahl erlich geheyratet, er hette keine frau geheyratet deren Vater außgestrichen undt in der Kuhhaut außgeführet worden, weil er aber keinen genennet als hat seiner Wohl Edlen Herrlichkeit der Wercks Herr wie auch eine gantze Erb. Zunfft Straff aberkannt 15 rth welche er erlegen müßen.

Wie komplex sind berufliche und persönliche Beziehungen! Das Buch der „Rothgerber Meisterquartale“ von Thorn zeichnet viele davon nach. Der junge Meister Samuel Zimmer, ähnlich aufbrausend wie Johann Deutschman, aber nicht so geschmeidig, macht selbst den schlechten Ruf seines Schwiegervaters bekannt, indem er Hanß verklagt. Nachher kann er den Namen der verleumderischen Person aus dem Deutschmanschen Hause nicht nennen. So muss er Strafe zahlen. Urkundlich wird, wie stolz Hanß Deutschman auf die vornehme Herkunft seiner beiden Frauen ist. Wie er sich damit brüstet!Es erstaunt mich immer wieder, wie viel Nachrichten sich über meinen Vorfahren erhalten haben, über fast drei Jahrhunderte hinweg. Dabei war er doch kein bedeutender Mensch! Dass er Johannes, Johann oder Hans hieß, zeigt seine Normalität an. Deutzman, auch Duytzman, Deutzschman oder Deutschman mag schlicht „der Deutsche“ bedeuten, und seinem Vater oder Großvater zugelegt worden sein, als der sich zuerst unter polnischen Menschen ansiedelte. Es kann aber auch heißen: der Mann aus Deutz. Dann wäre sein Vorfahr aus der Schwesterstadt von Köln am Rhein gekommen und die andern Zuwanderer in Thorn hätten den ersten seines Stammes auf diese Weise bezeichnet. „Adam Deutzman“ und „Johann Deutschman seelig“ werden im Kirchenbuch erwähnt. In welchem verwandtschaftlichen Verhältnis sie zu meinem Vorfahren standen, ist nicht überliefert. Das Kirchenbuch beginnt abrupt, wie aus dem Nichts, nie erwähnt es die Herkunft eines Bräutigams oder Taufvaters. Unsere Vorfahren im Osten, ob in Thorn, in Leszno oder in Kobylin, ob in Rastenburg oder Uderwangen bei Königsberg, sind alle irgendwo ausgewandert, aus Armut, wegen religiöser oder strafrechtlicher Verfolgung, aus Lust auf Abenteuer, aus Hoffnung auf Gewinn. Woher sie kamen, war offenbar für ihr Leben dort nicht wichtig – so wurde es nicht überliefert. Wichtig war aber das Fortkommen der folgenden Generation. Es wurde auf alle Weise, auch durch Urkunden, gesichert. Während die „zusammengebrachten Sünder“ Jacob und Maria dem Vater Freude machen, bereitet Tochter Reginas Ehe Hans Deutschman Sorgen. George Trüncks ist ein nachlässiger Gerber, das zeigt sich schon während der Meisterprüfung, 1713 hat er Schulden, 1716 wird er zwar noch „Erb. Meister“ genannt und ihm ein junger Meisteranwärter zugewiesen, aber 1717 steht im Kirchenbuch bei der Taufe seines 3. Kindes „(jam absens ob furorem uxoris) – „schon abwesend wegen der Wut seiner Frau“, d.h. es ist öffentlich bekannt, dass die Ehe schlecht geht. Seit 1718 ist George Trüncks oder Trincks meistens außerhalb von Thorn tätig, 1720 verlässt er endgültig die Stadt, gibt dabei leichtfertiger Weise den Schlüssel der Gesellenlade seinem einundzwanzigjährigen Lehrjungen Gottfried Wentzel, dem Stiefsohn Johann Deutschmanns. Aber Gottfried ist verlässlich. Er gibt den Schlüssel ordentlich bei seinem Stiefbruder Philipp Deutschman ab!1722 wird festgestellt, dass „Georg Trincksen seine Ehegattin Regina Trincksen nun mehro von Zeit 4 Jahren deserirt“ hat, also ein „Desertor in Matrimonio“ ist. Regina, als echte Deutschman-Tochter, ist entschlossen, die Gerberei mit Hilfe von Gesellen weiterzuführen. Doch ist eine verlassene Frau keine Witwe. Die Zunftartikel sehen diesen Fall nicht vor. Mitglieder der Zunft mögen sogar vermuten, dass ihr Mann in Sayda eine Art Filiale aufgemacht hat, dass also unter seinem Namen zwei Gerbereien laufen, was unzünftig ist. Von daher fühlen sich Gesellen, die bei Regina arbeiten, „unehrlich“.Die Einzelheiten des Streites sind nicht ins Zunftbuch geschrieben, lassen sich aber anhand des Schlichtungsbescheides erkennen. Da heißt es:

In diesem Quartal hat E. Erb. Zunfft in Beysein Ihr W. E. HE Daniel Theophilus Weer Holtz alß verordneter Urtels Herrn dem Königl. Decret zufolge die so lange Zeit schwebende Streitigkeit zwischen einer Erb. Zunft und der verlassenen Frau Trincksen Gentzlich gehoben und diesem Zufolge hat oberwehnte Trincksen denen Gesellen Ihren Ehrlichen Nahmen erklärt, die Gesellen hergegen haben bey Ihr Umbgeschaut; Ihro W. E. HE haben der Trincksen Zufolge dem Königl. Decret Aufferlegt sich friedlich und schiedlich auffzuführen und keinen anlaß zu weiteren Streitigkeiten, Jemanden so wol von Meistern und gesellen zu geben. Denen Verordneten Herrn Elterbrüdern und sämtlichen Meistern und Gesellen Ihr gebührender Ehr Respeckt und Gehorsam leisten denen vorgeschriebenen Artulken und schlüssen einer Erb. Zunfft in allen ein volles genüge Zu thun.

Das königliche Dekret hätte ich gerne gesehen! Wer mag August den Starken bewogen haben, Regina Trincksen zu ermöglichen, dass sie denen Gesellen Ihren Ehrlichen Nahmen erklärt? Der unschlüssige „Urtelsherr“ Wehrholz, der um den Zunftfrieden besorgte Rat der Stadt, die Rotgerberzunft selber? Oder steckt dahinter wieder Hanß Deutschman, der Mann der unkonventionellen Auswege? Immerhin wird Regina Zufolge dem Königl. Decret ermahnt, sich friedlich und schiedlich auffzuführen und keinen anlaß zu weiteren Streitigkeiten, Jemanden so wol von Meistern und gesellen zu geben. Man ahnt, aus welchem Holz sie geschnitzt ist. Aber den Männern wird auch auferlegt, Ihr gebührender Ehr Respeckt und Gehorsam (zu) leisten. Und die Gesellen haben bey Ihr Umbgeschaut, das heißt, sie fragen nach, ob sie Arbeit hat, wie bei jedem zünftigen Meisterbetrieb. Das ist ein großer Sieg für die Verlassene.

In den Ratsakten ist das königliche Dekret noch genauer zitiert: weil Georg Trincksen inzwischen seines hiesigen Bürgerrechts und dazu geleisteten Eydes erlaßen zu werden keine Ansuchung gethan u. dahero deßen nicht erlaßen worden folglich an einem andern Orthe zum Bürger u. Meister mit Recht nicht angenommen wird können, Alß kann deßen als eines Desertoris in Matrimonio in Sayda gethane renunciation seines MeisterRechts in Thorn seiner verlaßenen Ehegattin Regina Trincksen an ihrem handwerck nicht schädlich seyn sondern es wird dieselbe solches fernerhin vollkommen durch Gesellen zu betreiben hiermit conserviret und denen Zunfft Meistern der Loh- und Roth Gärber hieselbst auferleget, Sie als eine hiesige Meistersfrau mit Gesellen ohne Hindernis zu versorgen. Gern wüsste ich, wie lange sie die Gerberei selbständig geleitet hat. Als Witwe hätte sie wieder heiraten können – als verlassene Frau konnte sie das nicht. Doch 1750 finde ich sie als „Avia“, als Großmutter bei der Taufe ihres ersten Enkels Daniel Trincks, Kind ihres Sohnes Michael, der jetzt Bürger und Nadler ist. Ob Regina sich erinnert, wie wütend sie bei der Taufe dieses Sohnes Michael auf ihren Mann war?

Warum der einzige Sohn Johanns, Philipp Deutschman, erst heiratet, als Anna Binner schon hochschwanger ist, kann ich mir auch nur durch Johanns Eigensinn erklären. Irgendetwas hatte er an Anna auszusetzen. Philipp ist 1722 zweiunddreißig Jahre alt. Bei der Nottaufe des ersten Kindes sind dann doch beide Großväter Paten. Den Traueintrag von Philipp besitze ich nicht, so weiß ich nicht, ob der Pfarrer die Gatten als Sünder ansah. Vielleicht ist Philipp erst nachher Meister geworden. 1723 jedenfalls ist er es. Nun ist nur noch Tochter Susanna und der Stiefsohn Gottfried Wentzel unverheiratet. Da stirbt Maria. Im Kirchenbuch steht:

Jahr 1723Monat July d. 15 Frau Maria Johann Deytzmans Haußfrau Nr. 15

Sie ist 57 Jahre alt.Johan Deytzman oder Johann Deutschman hat seine zweite Frau nicht lange überlebt. Er starb nur ein Dreivierteljahr später, da war vielleicht das Grollen des „Religionstumultes“ schon zu spüren.

Jahr 1724Monat Marty d. 21 Johan Deytzman Roht Gerber nach S. Katrin Nr. 12

Die Stadt hatte den Nordischen Krieg nicht wirklich überwunden. Die Stadtkassen waren leer, das Regieren schwierig. Die Spannung zwischen der Schuljugend des alten berühmten liberalen Thorner Ratsgymnasiums und der neuen streng konfessionellen Jesuitenschule drückte die allgemeine Krise aus. Ja, Johann Deutschman starb vor dem viel beschrienen 16. Juli 1724, dem Fronleichnamsfest, wo eine aufgebrachte evangelisch-deutschstämmige Jugend die Jesuitenschule und Kirche in der Altstadt demolierte. Und er musste nicht das schwarze Schaffott sehen, auf dem zehn Bürger der Freien Stadt Thorn von königlich-polnischen Henkern hingerichtet wurden. Johann Deutschmans hatte nie gelernt, seinen Sinn für unkonventionelle Lösungen für das öffentliche Wohl zu nutzen. Das lag vielleicht daran, dass er in der Thorner Neustadt zu Hause war. Die Verantwortung gegenüber dem Sejm und der Krone Polens trug die Altstadt, deswegen war sie auch das Ziel der Rekatholisierung. Johanns Sohn Philipp Deutschman, der Rotgerbermeister, die Schwiegersöhne Jacob Wentzel, Kupferschmied, und Jacob Weinknecht, Meltzenbrauer, haben beim Tumult gar keine Rolle gespielt, auch nicht der Rotgerbermeister Paul Springsgut, der später Johanns Enkelin Dorothea Wentzel heiraten wird oder der Rotgerber Daniel Schneider, der noch 1724 Susanna, die jüngste Tochter Deutschmanns, heiratet und damit vielleicht Johanns Werkstatt übernimmt. Die Rotgerbermeister von 1724 - Paul Springensguth, Carl, Samuel Zimmer, Andreas Kamen, Philip Deutschman, Andreas Kircheisen als Eltermann und Christian Pfund als Kumpan – haben ihr Gewerbe weiter betrieben, als sei nichts gewesen. Politische oder konfessionelle Konfrontation war nicht ihre Sache. Sie dachten ans Geschäft, und dazu gehörten jüdische Händler und polnische katholische Kundschaft ebenso wie die evangelischen Stadtbürger. Den Niedergang Thorns, der mit der Verschiebung von Machtverhältnissen in Osteuropa einherging, haben auch diese Familien gespürt. Doch sie haben ihre Betriebe erhalten, unter allen Umständen, unter allen Regierungen. Gute handwerkliche Arbeit wurde immer gebraucht.



[1] 1687 ist Paul Kircheisen verstorben, seine Tochter und Witwe kommen im Kirchenbuch vor.