Der Ephorus

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Zuerst veröffentlicht in: EKKEHARD, Familien- und regionalgeschichtl. Forschungen, Hallische Familienforscher, Neue Folge 6 (1999) Heft 3, S. 65ff

Unter den Erinnerungsstücken, die ich im Hause meiner Großmutter in Rodenkirchen bei Köln fand, war ein "Album" von 1858. Sicher ist die Neugier, die es in mir erweckte, ein wichtiger An­sporn zur Familienforschung geworden.  Auf der ersten Seite steht:

 Ihrem Hochwürdigen und Hochverehrten Vorgesetzten

 Dem Herrn Superintendenten

 Joseph Gotthilf Benjamin Liebscher

zu Oberröblingen

widmen

 am Tage seines fünfzigjährigen Jubiläums

 diese Gedenkblätter

 in herzlicher Liebe und Ergebenheit

 die Pastoren, Cantoren und Lehrer der Ephorie Schraplau.

Als ich die vergilbten, auch ein wenig stockfleckigen Seiten umwendete und die Bibelzitate, Gedichte, persönlichen Sätze las, die immer Ort und Datum einer Kirchengemeinde sowie die Unterschriften von Pfarrern und Lehrern enthielten, verstand ich noch sehr wenig. Ich wußte nicht, was eine Ephorie war und wo Schraplau lag, nicht, wie Benjamin Liebscher mit mir verwandt war, nicht sein Alter und nicht seine Laufbahn. Aber ich fühlte, daß dies Eh­rengeschenk von seinen Freunden mit Herzlichkeit initiiert war, um ihm den Dank und die Zuneigung der ihm unterstellten Pfarrer und Schullehrer auszusprechen. Ich bewunderte die Gewandtheit der Schreibenden, auch wenn ich gleich in Rechnung stellte, daß solche Alben dem Zeitgeist  entsprachen und in Übung waren. Ich suchte nach persönlichen Noten im Herkömmlichen und fand es besonders im Eintrag des Lehrers von Unterteutschenthal, Wil­helm Hartung, der schrieb: "Nie kümmerte Sie die Länge des Weges, wenn Sie zu leh­ren, zu predigen und zu revidiren ausgingen, nie schritten Sie anmaßend über die Häupter der Leh­rer und ihrer anvertrauten Jugend hinweg; und nie hoben Sie die Hände auf zum Se­gen, oh­ne wirklich zu segnen; darum ward Ihnen, geliebter Herr Ephorus, die Krone des Al­ters, die Sie noch lange im Segen tragen mögen!" Und ich dachte, daß das ein glücklicher Mann ge­wesen sein müsse, dem am Ende seiner beruflichen Laufbahn so viel Liebe entge­genschlug.

Nun weiß ich eine ganze Menge über diesen Urur-Urgroßvater und habe schon einiges über ihn geschrieben[1]. Er gehörte zu den Begabten unter meinen Vorfahren, auch zu den Geför­derten und Fleißigen. 1786 ist er geboren. Er hat die Dorfschule bei seinem Vater in Polle­ben,  die Latina des Francke'schen Waisenhauses in Halle und die dortige Universität be­sucht. 1808 ist er, noch als Student, Oberlehrer an den Elementarschulen des Francke'schen Waisenhauses geworden, von welchem Jahr der Beginn seines 50jährigen Dienstes zählt[2]. 1811 hat er sein 1. Theologisches Examen vor dem Konsistorium in Berlin abgelegt, das ihm wegen "sehr guter" Kenntnisse ein 2. erließ und ihn für "wahlfähig" fürs Pfarramt er­klärte[3], ist dann 11 Jahre Gymnasiallehrer und Kantor in Brandenburg[4] gewesen, seit 1822 Pfarrer in Steuden bei Halle[5] und seit November 1841 Pfarrer in Oberröblingen am See[6].

Der dornige Weg zum Ephorat

Ob Liebscher schon in Steuden kommissari­scher Superin­tendent der Ephorie Schraplau gewor­den ist, zu der so­wohl Steuden als auch Röblingen gehören[7], und ob seine Versetzung nach Röblin­gen ir­gendwie damit zusammenhängt, kann ich nicht sagen. Jedenfalls schreibt er am 28. Novem­ber 1842 aus Oberröblingen an das Königliche Konsistorium in Magdeburg, dem die Epho­rie Schraplau unterstellt ist, daß er wegen seiner starken Arbeitsbelastung als Ver­walter des Superintendentenamtes sich unmöglich auf das Ephoratsex­amen vorberei­ten könne und daß man ihm doch das colloquium pro ephoratu erlassen möchte. Dabei ver­weist er auf eine Pfarr- und 6 Schulstellenbesetzungen, die außer seiner eigenen ihn in der letzten Zeit beschäftigt hätten. Das Konsistorium antwortet, es stehe nicht in seiner Macht, ihm das Kolloquium zu erspa­ren, aber man wolle ihm die latei­nische Ab­handlung erlassen, die man ihm im Dezember des letzten Jahres aufgegeben habe und die Frist zur Einsendung der Prü­fungspredigt noch um zwei Monate verlängern. Sehr bezeichnend finde ich im Brief meines Vorfahren die Stelle: "Ich wage daher die unter­thä­nigste Bitte um Hochgeneigteste Dispensation vom colloquio pro ephoratu, da ich be­reits 56 Jahr alt bin, und mich um so eifriger bestreben werde, für die wenigen Lebens­jahre, die mir Gott noch verleihen wird, für die Schulen und Kirchen zu wirken."[8] Im Zu­sammenhang mit der Aufzählung dringlicher Arbeiten in der Ephorie, die den leisen Hinweis auf völlige Vernachlässigung der Schulen unter seinem Vorgänger durch­scheinen las­sen, zeigt sich Benjamin Liebscher als ein Mann, der sich seines Wertes bewußt ist. Die Vorbe­reitung auf das behördliche Kolloquium ist nur Zeitver­schwendung für jeman­den, der ohne­hin weiß, was zu tun ist. Daß er sein Hauptaugenmerk auf die Schulen richtet, Lehrer­konfe­renzen einrichtet und eine Methodik der einzelnen Un­terrichtsgegenstände erar­beitet, mag ja auf Neuerungen im Schulwesen ganz allgemein hinweisen. Doch gäbe es dann Richt­linien und Lehrpläne. Deswegen erscheint es mir eher so, als sei er voller Eifer daran gegan­gen, Mißstände auf eigene Faust zu beheben. Daß man ihm die Superintendentur we­gen der Weigerung, sich prüfen zu lassen, nicht geben könne, scheint er nicht zu befürchten.Im Juni 1843 hat dann wirklich seine Prüfung für das Ephoralamt vor dem Kollegium des Magdeburger Konsistoriums stattgefunden. Die Beurteilung hat mich entzückt: Herr Superindentur-Vicar Liebscher ist durch die Studien einer kritischen Zeitperiode ge­gangen, und die dogmatische Tiefe scheint ihm nicht überall aufgegangen. Aber er ist ein Mann von practischem Sinn, von kräftiger und sittlicher Natur und heiligen Ernstes, und es liegen reine Goldkörner in dem Sande, welchen der Rationalismus an seine Ufer ge­schwemmt hat. So zeigte er sich auch als Katechet über die Stelle Ebräer 4,15[9]. Seine bis­herige interimistische Verwaltung des Ephoralamts legt für seine persönliche Dignität und für seine Tüchtigkeit ein gutes Zeugniß ab. So war er denn mit 56 Jahren Vorgesetzter von 9 Pastoren und 22 Leh­rern, er, dessen Vor­fahren alle Schuldiener gewesen waren und dem Pfarrer unterstellt. Sogar ein Bruder seiner Frau gehör­t zu seinem Bezirk[10]. Ob seine Frau Johanna Ramdohr, die Pa­storentochter, stolz auf ihn war? Ihren Anteil an seiner Arbeit,  seinem Erfolg kann man nicht nachweisen. Von ihm selbst in Steuden konfirmiert wurde nur seine einzige Tochter, Wilhelmine. Die Söhne schickte er alle drei auf die Latina des Hallischen Waisenhauses, wo sie auch kon­firmiert wurden, und ließ sie dann studieren. Der Älteste, Franz, unser Vorfahr, und der mittlere, Otto, wählten wieder das Theologiestudium. Der jüngste, Bernhard, studierte die Rechte. Im Pfarrhaus in Oberröblingen, das ich mit meinem Mann Franz besucht habe[11], hat das Ehepaar Liebscher also die meiste Zeit nur mit der Tochter gewohnt.  Die Söhne waren in der Ausbildung, kamen nur zu Ferien und zu Besuchen heim. Allerdings gab es eine Zeit, vom Jahre 1853 bis zum Jahr 1855, wo ein Sohn bei Vater und Mutter im Hause wohnte. Es war Franz, der Älteste, und es war nicht freiwillig und nicht zur Zufriedenheit der Beteiligten. Franz war arbeitslos, obwohl 39 Jahre alt und fertiger Theologe mit beiden Examina. Nach 8 Jahren Hauslehrerdasein und 6 Jahren als "Gehülfe" eines Pfarrers in einer Dorfgemeinde[12] fand er immer noch keine Pfarrstelle.

Der jüngere Bruder Otto war längst im Amt, sogar in Magdeburg an der Johanniskirche.  Und soweit ich weiß, war auch der Jurist Bernhard versorgt[13]. Nur bei meinem Vorfahren Franz will es nicht klappen! Seine Examina waren wohl nur mäßig, seine Beurteilungen, so­weit sie mir zugänglich sind, sprechen für einen guten, aber wenig durchsetzungsfähi­gen Menschen[14]. Vielleicht zeigt sich in ihm zum erstenmal die depressive Veranlagung, die auch bei meiner Großmutter Clara Eberhardt, verh. von Mering, zeitweise merklich war. Dazu treten sehr ungünstige Zeitläufte. F. A. Cunz schreibt in seinem Buch "Das geistli­che Amt und der Pastorenstand, Ein Zeitbild" Leipzig 1855 auf Seite 16: "Leider aber fin­det zwi­schen dem Studiren und endlichen Eintritt in das Pfarramt wenigstens ein Zwi­schen­raum von 15 Jahren statt, das - Hauslehrerleben, bald da, bald dort ... Was macht die Braut? Sie vergeht in Warten und Harren .... Manchmal sind beide alt und grau ge­worden .... " Cunz prägt das Wort von der "Candidatennoth" und fährt fort: "Das Pfarramt, worauf sich unse­re Candidaten vorbereiten, ist ein Staatsamt. Wenn sie tüchtig bestanden haben .... hat der Staat die Pflicht, sie ihrem Beruf gemäß anzustellen, daß sie heirathen und Frau und Kin­der ernähren können..."

Ich sehe daran, dass mein Vorfahr keineswegs ein Einzelfall war, wenn er vom 26. bis zum 41. Lebensjahr auf seine erste Pfarrstelle warten mußte. Aber ich kann an den erhaltenen Akten sehen, wie sehr sein Vater, der Ephorus, darunter gelitten hat. Ihm war alles so wohl gelungen, er war aufgestiegen, hatte seine Söhne gut ausgebildet. Sein Einkommen in Ober­röblingen war ansehnlich, wie ich aus der Aufstel­lung der Pfarreinkünfte in seinem To­des­jahr ablesen kann[15]. Er hatte die Flurreform in Röb­lingen miterlebt, hatte die Kirchenkasse gemehrt, hatte gebaut und verbessert an Kirche und Schule. Die Schulreform, die ihm als Lehrerskind und ehemali­gem Lehrer besonders am Herzen lag, hatte er durch seine Revisio­nen fördern helfen. Wenn man die Dankadresse des Lehrers Hartung in die weniger speziel­len, aber ebenfalls von Vertrauen getragenen Einträge der andern Lehrer im "Album" hin­einliest, hat er es sogar verstanden, die Schulmeister dabei zu beteiligen. Er konnte mit Un­tergebenen umgehen, und er hatte auch bei Vorgesetzten Anerkennung gefunden. Ja, er durfte sich wohl als Mann fühlen, der etwas von der Welt versteht. Und sein Sohn Franz fand kein Pfarramt! Dagegen mußte man doch etwas tun! Als Ephorus erfuhr Benjamin Liebscher zeitiger als andere von vakanten Pfarrstellen, nicht nur in der eigenen, sondern auch in angrenzenden Superintendenturen, und er hat offenbar schon seit Mitte der 40er Jahre versucht, seinen Sohn bei der Bewerbung um solche Pfarr­stellen zu unterstützen. Als tätiger, praktischer Mann und liebevoll-sorgender Vater konnte er gar nicht anders. Aber es ist gerade dieser Eifer, der ihn in die Krise bringt. Mit 56 Jahren wird Benjamin Liebscher Ephorus. Als Mann von 61 Jahren erlebt er die Re­volution von 1848. Gerne wüßte ich, was genau er dabei erlebt hat. Er selbst schreibt 1849 in seinem Brief an das Magdeburger Konsistorium über sein Zerwürfnis mit der Gemeinde Esperstedt, es sei "wegen einer Schulsache" entstanden: "...der an­gebliche Groll gegen mich ist bloß daher entstanden, daß ich aus Amtspflicht den unge­bührlichen und ungesetzlichen Forderungen, die besonders durch die vorjährigen Zeiter­eignisse hervorgerufen wurden, entgegentreten mußte." Was die Gemeinde hinsichtlich ih­rer Schule oder der Besetzung der Lehrerstelle von ihm verlangte, schreibt Liebscher nicht. Er hat auch, wie sein Brief als Ganzes aus­drückt, kein Verständnis für die Forderungen des Schulzen und der Gemeindeglieder. Er hat das Pfarramt und das Amt des Ephorus durch harte Arbeit errungen. Er hat es nach bestem Wissen und Gewissen verwaltet. Was wollen diese ungelehrten Dorfleute? Mitbestimmen? Das ist ungebührlich und ungesetzlich. Aber sie grollen ihm, ohne Zweifel. Sie grollen auch dem Patron[16]. Es ist eben Revolution. Und trotzdem bewirbt sich Liebscher beim Patron - und nur beim Patron! - für seinen Sohn Franz um die Pfarrstelle von Esperstedt und Asendorf. Das geht schief. Es gibt ein altes Widerspruchrecht der Gemeindeältesten bei der Pfarrerwahl. Es wurde nie ausgeübt. Reste davon habe ich in der Besetzung der Pfarrstelle in Polleben von 1773 ge­funden. In den Notula zur Abkündigung heißt es nämlich: Es wird demnach solches (nämlich die Besetzung der Pfarrstelle durch den Patron)  der Christlichen Gemeinde hier­durch gebührend bekannt gemacht, und sie erinnert, sich gedachten Tages ... vormittags zum Gottes-Dienste in hiesiger Kirche fleissig einzufinden, die zu haltende Probe-Predigt andächtig anzuhören, auch nachher sich durch ihre Deputirte auf die Befragung, so des vorzustellenden Predigers wegen vor dem Altar an sie geschehen wird, gehörig zu erklä­ren, und was hierauf ferner gehandelt werden wird, in Gottseeliger Stille zu gewärtigen. Diese Gottseelige Stille wird am 5. Juli 1849 jäh unterbrochen. Die Gemeindeglieder von Asendorf und Esperstedt haben sich vorbereitet. Sie machen von ihrem Widerspruchsrecht Gebrauch. Sie lehnen den Sohn des Ephorus Liebscher als Pfarrer ab. Was Franz empfunden hat, ist nicht überliefert. Benjamin ist außer sich. Zuerst sucht er eine gerichtliche Auseinandersetzung, dann bittet er das Magdeburger Konsistorium um Entbin­dung vom Amt des Superintendenten. Er schreibt: " ... es ist mir zu schmerzlich, daß der Sohn um der vorgeblichen Fehler des Vaters willen leiden muß, und die Gesetze gegen die­ses willkürliche Verfahren der Gemeinden keine Rettung gewähren können. ... Ich fühle mich durch diese Vorgänge völlig entmuthigt, mit diesen Gemeinden unter solcher Stim­mung fernerhin zu verhandeln, oder öffentlich vor ihnen aufzutreten."

Der sonst so sachli­che und auch kämpferische Mann ist tief getroffen. Dreimal zitiert er den Spruch der Ge­meinde, "...daß man zwar nichts gegen den Candidaten Liebscher einzuwenden habe, aber man habe kein Vertrauen zu ihm - was sich eigentlich widerspricht, und jedem Unbefange­nen als ungegründet erscheinen muß." Er bezeichnet diese Begründung als "Unwahrheit", er kann sich den Widerspruch gegen das Verfahren nur als "Groll" gegen ihn oder als Böswil­ligkeit einzelner, die dann auf die Mehrheit Druck ausüben, erklären. Sicher hat er die Vor­gänge in den vorausgegangenen Gemeindeversammlungen richtig beobachtet. Sicher gibt es Dorfleute, denen das Zustandekommen der Pfarrerwahl ganz gleichgültig ist - oder auch solche, die den alten Liebscher mögen. Aber es geht um das Verfahren. Das kann er nicht verstehen. Der Pfarrer Gandert habe ihm gesagt, schreibt Liebscher, "daß nach mehr­fachen Aeuße­rungen von Ge­meindegliedern die Anstellung meines Sohnes keine Schwie­rigkeit gefunden haben würde, wenn ich bei den Gemeindegliedern darum nachgesucht hätte; am Tage der Ab­stimmung - d. 4. Juli - hätten sie sich jedoch genöthigt gesehen, der herr­schend gewor­de­nen Wider­spruchserklärung zu folgen." Er bekommt das nicht ausein­ander. Warum ge­ben sie nicht "der Wahrheit die Ehre"? Die Begründung, die uns so plausi­bel er­scheint, nämlich, daß man nicht gegen den Pfarramtskandidaten, sondern gegen das Vor­ge­hen der Behörden prote­stiere, erscheint meinem Vorfahren als Lüge. Ist er blind in dieser Sache, weil er als Aufsteiger besonders an den hergebrachten Machtstrukturen hängt? Oder weil es sich um seinen eigenen Sohn handelt? Ich empfinde die Tragik seines Lebens. Das Konsistorium antwortet weich und einfühlsam. Er solle sich die Sache mit dem Rück­tritt ein Jahr lang überlegen. Wenn er dann noch darauf bestehe, wolle man ihm willfahren. Benjamin ist dankbar dafür. Offenbar legen sich die Wogen in Esperstedt, man findet einen Pfarrer, den die Gemeinde akzeptieren kann. Der Ephorus bleibt im Amt. Franz arbeitet weiter in Authausen bei Pfarrer Rich­ter als "Gehilfe" und wird noch viele Bewerbungen um verschiedene Pfarrstellen schreiben, unterstützt vom Vater, aber nicht mehr in dessen eige­ner Ephorie, auch wenn der alternde Mann so sehr wünscht, den Sohn in der Nähe zu ha­ben. Er wird Franz noch lange unter­halten müssen, davon zwei Jahre im eigenen Hause. Aber endlich, 1855, bekommt Franz doch ein Pfarramt, wenn auch nur eins in einem weit entfernt liegenden, kleinen Dorf, näm­lich Kobershain[17] bei Torgau. Und gleich wird geheira­tet. Mit der Brautwahl seines Sohnes kann der Ephorus wohl zufrieden sein. Klara Nathu­sius ist eine Pfarrerstochter, aber ihr Vermögen stammt aus den Honoratiorengeschlechtern Simon und Hildebrandt in Kem­berg. So wird er wohl sehr erleichtert und froh die Trauung vollzogen haben[18]. Sie findet am 4. September 1855 in der kleinen Kirche von Gommlo bei Kemberg  statt, wo der Brautvater Pfarrer ist. So hat alles ein gutes Ende genommen. Das "Album" zum 50jährigen Dienstjubiläum hüllt Benjamin Liebschers Fleiß, seinen Eifer und sein Scheitern in ein goldenes Licht. Gerade der Pfarrer und die Lehrer von Esperstedt schreiben besonders anerkennend und liebevoll. "Sorgsam hast Du gepflanzt im Garten der Menschheit, und herrlich lohnt im Herbste Dir jetzt vielfach gesegnete Frucht." schreibt Lehrer Schiborr. Cantor und Lehrer Bauer betet:. "Und Du, Erhabner, dessen Gesalbter Er, Gieb Segen und Gedeihen der frommen Saat! Laß Ihn, den hochverdienten Sä'mann, Reichlich gesegnete Früchte schauen!" Pfarrer Otto aber dichtet: Auch ich, erfüllt von tiefer Freude, Nichts Bessers drum zu wünschen weiß, Als Gott, der gnädig sichtbar heute Aufs Neu Sie grüßt, geehrter Greis, Der schließ auch weiter voll Erbarmen In Seine treue Hut Sie ein! Er trage Sie auf Gnadenarmen, Durchleuchte mild mit Gnadenschein Den stillen Abend Ihres Lebens Und kröne segnend all Ihr Thun auf Erden, Daß Ihre Aussaat nicht vergebens, Zur Himmels-Ernte einst mög' werden! Pfarrer Gandert, der dem Kollegen und Chef damals die Erklärung für sein Scheitern liefern wollte, schreibt ins Album: Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen" mit diesem köstlichen Worte möchte ich Ihnen, mein hochverehrter Herr u. Freund, am Tage Ihres fünfzigjährigen Jubiläums recht nahe treten. Es sagt uns, was uns bleibt, wenn alles Andere dahin schwindet. ...  Mögen Glaube, Hoff­nung, Liebe die Engel sein, die sie ferner durchs Leben geleiten u. auch unse­re Herzen noch inniger miteinander verbinden! Dies zur freundlichen Erinnerung an Ihren Sie hoch verehrenden Freund Gandert. Nach 9 Jahren ist die Aufregung der Revolutionsjahre vergessen. Hat Benjamin Liebscher sich noch als lernfähig erwiesen? Ist er etwa erst durch diese Erfah­rungen der Superinten­dent geworden, der "nie ... anmaßend über die Häupter der Leh­rer und ihrer anvertrauten Jugend hinweg"schritt? Und hob er erst von da an "nie die Hände auf zum Segen, ohne wirklich zu segnen"? Viele der guten Wünsche sprechen die Bitte aus, daß mein Urur-Ur­großvater noch lange gesund und im Amte bleiben möge. Aber der Gipfel ist erreicht. Der Ephorus kann endlich in Frieden von seinem Amt zurück­treten. Er bittet um Dispensation am 9. Dezember 1859. Dem Königlichen Hochwürdigen Consistorium habe ich schon vor längerer Zeit den Wunsch geäußert, von den Superintendenten-Geschäften befreit zu werden. Ich erlaube mir, diesen Wunsch zu erneuern, und bitte gehorsamst, mich von den Ephoralgeschäften zu dispensieren, mir jedoch das Pfarramt zu belassen, und mir Zeit zu vergönnen, daß ich die Ephoralacten in eine bessere Ordnung bringe, als ich sie überkommen habe, und daß es mir möglich ist, die Directorialgeschäfte der Mansfelder Prediger-Wittwen-Kasse, der Schullehrer-Wittwen-Kasse, und der Begräbniß Kasse derselben, die mir immer viel Arbeit gemacht haben, abzugeben. Da jedoch die Zeit bis zu Ostern die mühevollste des Jahres ist, so bitte ich, mir wenigstens bis Johannis Zeit zu gewähren, wo ich gedenke, mit Gottes Hülfe zu Stande zu kommen. Diesmal ist das Konsistorium sofort einverstanden. Fast scheint es, als habe man nun schon eine Weile auf seine Bitte um Dispens gewartet. An die Königliche Regierung in Merseburg, die bei einer Neubesetzung mitzureden hat, schreibt das Konsistorium: "Wir haben umso weniger Bedenken tragen können, seinem Wunsche nachzugeben, als sich seine ephoral­amtliche Wirksamkeit, zumal in den letzten Jahren, ziemlich unfruchtbar erwiesen hat." Das klingt recht schnöde. Aber Liebscher war jetzt 73 Jahre alt. Wenn man bedenkt, daß er die Gemeinden, wie er schon 1849 schreibt, ungern mit Fuhren belastete und also die mei­sten Reisen zu Fuß machte, wenn man bedenkt, daß er schon 1849 über eine Augenschwä­che klagt, kann man sich vorstellen, daß er,  zumal in den letzten Jahren, nicht mehr viel erledigt hat. Er wird die Dinge haben laufen lassen. Seine Pfarrer, Cantoren und Lehrer müssen sich dabei nicht schlecht befunden haben. Aber das Konsistorium mag wohl einen Mangel empfinden. Zu Johannis 1860 gibt er die Superintendentur auf, das Pfarramt behält er. Zwei Jahre sind dem alten Mann noch vergönnt. Am 20. Juli 1862 tauft er zum letzten Mal ein Kind, am 3. August dieses Jahres traut er zum letzten Mal ein Paar. Von da an sind Vertreter tätig, "weil P. Liebscher krank ist." Im September hilft sein Sohn Otto aus: "Liebscher, Pastor zu Magdeburg, in der Krankheit des Vaters." Am 4. September 1862 stirbt Joseph Gotthilf Benjamin Liebscher "an Entkräftung" und wird am 7. September, seinem 76. Geburtstag "unter zahlreicher Begleitung und herzlicher Theilnahme" begraben. Wer ihm die Lei­chen­predigt hält, steht nicht im Kirchenbuch. Wohl keiner seiner Pastoren-Söhne, obwohl viel­leicht beide und auch der Jurist anwesend sind. Der Text der Predigt ist angegeben: Joh. 16, 22: Und ihr habt nun auch Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. Das hören wohl beson­ders innig seine Frau Johanna und seine unverheiratete 45jährige Tochter Wilhelmine. Die Pfarrstelle Oberröblingen bekommt 1863 sein Sorgenkind Franz. Ob Benjamin das noch hatte regeln können? Oder findet das Konsistorium, daß es seinem alten Ephorus noch et­was schuldig ist? Betreibt es Wilhelmine, die energische? Benjamins Frau jedenfalls muß nach seinem Tod nicht das Pfarrhaus verlassen. Sie lebt dort im Haushalt ihres Sohnes bis zu ihrem Ende, am 25. August 1866.

 


[1] siehe: Polleben, Der Kantorensohn, Die Pastorentochter, Die Liebschers in Brandenburg

[2] Nach dem tabellarischen Lebenslauf von seiner eigenen Hand aus Anlaß des Ephoratsexamens in der Akte Rep. A Spec K "Anstellung d. Sup. i. d. Ephorie Schraplau" Nr. 3536, Ev. Konsistoriumsarchiv Magdeburg.

[3] Akte Rep. A Spec K, Nr. 3536 im Ev. Konsistoriumsarchiv Magdeburg wie Fußnote 2

[4] heute PLZ 14776, Quelle: Akte BEN 185/232, Domstiftsarchiv Brandenburg

[5] heute PLZ 06179, Quelle: Kirchenbuch von Steuden und Kartei Liebscher im Sächsischen Pfarrerbuch

[6] heute PLZ 06317, Quelle: Kirchenbuch Oberröblingen am See und Kartei Liebscher im Sächsischen Pfarrerbuch

[7] Zur Ephorie Schraplau gehören außer Schraplau, Röblingen und Steuden die Dörfer Alberstedt, Dederstedt mit Hedersleben, Esperstedt mit Asendorf, Stedten, Wansleben mit Amsdorf, Teutschenthal und Bennstedt.

[8] Ev. Konsistoriumsarchiv Magdeburg, Rep. A Spec K, Nr. 3536 wie Fußnote 2

[9] Hebr. 4, 15: Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleiden haben mit unsern Schwachheiten, sondern der versucht ist allenthalben gleichwie wir, doch ohne Sünde.

[10] Friedrich Christian Carl Ramdohr d.J. ist Pfarrer in Unterteutschenthal seit 1849. Quelle: Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen und das Album von 1858, wo der Schwager als Emeritus einschreibt: "Nur im Kraftgefühle männlicher Beharrlichkeit kämpft man sich zum Ziele."

[11] Dank an Frau Pastor Berg, die mir das Haus, die Kirche und die Kirchenbücher zeigte!

[12] bei Prediger Richter in Authausen (heute PLZ 04849)

[13] Bernhard Liebscher ist später Kreisgerichtsrat in Bromberg gewesen. Quelle: handschriftlicher Familienstammbaum.

[14] Rep. A Spec P "F. Liebscher", Nr. L 232 im Ev. Konsistoriumsarchiv in Magdeburg

[15] Rep. A spec G "Oberröblingen, Pfarrstelle", Nr. 1943 im Ev. Konsistoriumsarchiv Magdeburg

[16] Leider weiß ich bis jetzt nicht, wer 1848 der Kirchenpatron von Esperstedt und Asendorf war.

[17] heute Postleitzahl 04889

[18] in der Trauungsurkunde von Franz Liebscher und Klara Nathusius ist ausdrücklich der Dispens erwähnt, dank dessen der Ephorus Liebscher seinen Sohn in der Kirche von Gommlo bei Kemberg trauen durfte.