Napoleon und ich

Drucken

Ob Sie sich für Napoleon interessieren? Nun, jedenfalls sicher mehr als für meine Vorfahren. Des­wegen nenne ich meine familiengeschichtliche Plauderei: Napoleon und ich.

Was halten Sie von Napoleon? Das ist eine ganz andere Frage, als was seine Zeitgenossen von ihm gehalten haben. Alles, was ich darüber lesen konnte, ist von Männern geschrieben. Ich war neugierig und befragte meine Urur-Urgroßmütter.

Die 6. Generation vor uns hat zu Napoleons Zeiten ge­lebt. Diese "Napoleonischen Zeiten" will ich von 1804 - 1815 ansetzen, vom Beginn des "Empire" bis zu Water­loo. Jeweils 16 Frauen, von denen wir abstammen, waren Zeitzeugen. Vielleicht kennen Sie nicht alle Ihrer Vorfahrinnen. Was mich betrifft, so muß ich zwei auslassen, weil ich nichts von ihnen weiß. Es sind die beiden Mädchen aus Guhrau bei Breslau, die Großmütter meines Großvaters Paul Liebert. Der 2. Weltkrieg hat ihre Spuren in den Akten verweht. Aber immerhin 14 Urur-Urgroßmütter konnte ich durch Kirchenbücher und Stadtakten nachweisen.

Alle waren (bei manchen muß man sagen: auch) deutschsprachig, aber sie lebten in sehr verschiede­nen Orten. Der östlichste ist Rastenburg in Ostpreußen, heute ist er polnisch und heißt Kętrzyn. Es folgen von Ost nach West Mohrungen, die Stadt, wo Gottfried Herder geboren wurde, (heute Morąg), Bromberg (heute Bydgoszcz), Kobylin und Lissa (heute Leszno). Diese Orte lagen seit dem Mittelalter im polni­schen Königreich, wurden 1793 preußisch, 1807 wieder polnisch, 1815 wieder preußisch - heute sind sie polnisch. Dann geht es weiter mit Kemberg und Potsdam in Brandenburg, Polleben im Mansfeldi­schen, Artern und Sangerhausen im Thüringi­schen, Immenrode bei Sondershausen südlich des Har­zes, dann ein großer Sprung über Hessen hinweg nach Bacharach am Rhein, Kirchheim­bolanden in der Pfalz und Saarlouis, diese letzten drei Orte gehörten seit 1797 zu Frankreich.

Sie waren sehr verschieden im Alter, meine Urur-Urgroßmütter zur Napoleonischen Zeit. 37 Jahre liegen zwischen der Geburt der ältesten von ihnen, 1770 in Thorn, und der der jüngsten, 1807 in Kemberg. Sie kennen das: Generatio­nen verschieben sich durch die Geschwisterfolge, durch den Heiratszeitpunkt. Manche wurden in der Napoleo­nischen Zeit geboren, manche wuchsen in dieser Zeit auf, andere heirateten in dieser Zeit, manche waren schon Mütter von Kindern. Ihr Leben war verschie­den von vorn herein - und die napoleonische Zeit machte es nicht gleicher!

Die jüngste dieser Frauen ist Bertha Florentina Nathusius in Kemberg. Sie ist 1807 geboren, zur Zeit des Friedens von Tilsit. In den Jahren der preußischen Krise, in den Jahren der Vorbereitung von Reformen, in den Jahren des vaterländischen Erwachens lernt sie im Haus eines preußischen Akzi­seeinnehmers und Bürgermeisters gehen, sprechen, denken. Ihre Mutter, Christiana Wilhelmina Hillebrand, gilt ihren Enkelinnen als sehr gebildete Frau. Auch Bertha lernt lesen und schreiben, ihr Verlobter, der junge Pfarrer Gotthilf Nathusius, glaubt ihr eine Freude zu machen mit einem gebundenen Heft, in das er eigene Predigten abgeschrieben hat. Bertha hört oft, was Kemberg für eine schöne Stadt war, ehe Napoleons Heer durchzog. Sie spürt die Ar­mut nach den unglaublichen Kriegstributionen, die Angst, den Zorn. In den Zeiten Napoleons versteht sie noch we­nig, fühlt viel. Als Napoleon aus Deutschland vertrieben wird, ist sie erst 6 Jahre alt. So alt war ich, als Hitler sich umbrachte. Trotz­dem wird sie sich erinnern.

Vier Jahre älter ist Johanna Krause aus Mohrungen in Ostpreußen. Sie ist 1803 in der Stadt geboren, aus der Gottfried Herder stammt. Auch ihre Mutter, Dorothea Druschka, gilt als gebildet, ja geistreich. Am Ende eines langen Arbeitstages als Kauffrau setzt sie sich zum Lesen nieder. Johanna wird von ihr beeinflusst, zusätzlich erhält sie „eine sehr sorgfältige Erziehung in einem der renommiertesten Pensionate Königsbergs bei Frau Consistorialrat Kasse“, wie ihre Tochter schreibt. Auch Johanna erlebt weniger Napoleons Aufstieg, als vielmehr seinen Niedergang: den Rückzug aus Rußland 1812, die Befreiungskriege. Der ältere geschie­dene Mann, den die junge Johanna 1824 heiratet, hat zu den jungen Freiwilligen der Befreiungskriege gehört und er soll auch mit dem siegreichen Heer in Paris einmarschiert sein. Aber als Johanna Heinrich Karl Guthzeit kennenlernt, ist er Landmesser. Nach Aussagen seiner Tochter Ida hat er nicht viel von seiner Soldatenzeit erzählt. Was Johanna von Napoleon dachte, bleibt ungewiss.

Ein Schulkind dem Alter nach war die nächste meiner Urur-Urgroßmütter, Catharina Magdalena Bücking in Immenrode bei Sondershausen. Sie ist 1801 geboren. Ob ihr Lehrer von Napoleon sprach? Ja, ging sie über­haupt zur Schule? Ihre Eltern waren arm, ungebildet – ein Hand­arbeiterhaushalt auf dem Lande. Vielleicht war Magdalenas von der Arbeit gekrümmter Vater schadenfroh, als die französischen Soldaten das Schloss in Sondershausen plünderten? Vielleicht spottete die Mutter, eine Jägerstochter, über den fremden Usurpator? 1815, als alles vorbei war, war Magdalena erst 14. Ob sie sich Gedanken machte über Aufstieg und Fall der Großen? Ihre Mutter erblin­dete langsam am Grünen Star. Es gab viel Arbeit in Haus und Garten, arm war sie und arm blieb sie.

Das gleiche gilt wohl für die vierte Urur-Urgroßmutter: Justina Püschel, Ratsdienerstochter in San­gershausen. Sie ist 1794 geboren und seit 1802 Vollwaise. Bei wem sie und ihre Geschwister aufwachsen, weiß ich nicht, sie wird schon als Kind schwer haben arbeiten müssen, ob ab 1807 im Königreich Westfalen oder ab 1815 in Preußen. Ihr könnte Napoleon schlicht egal gewesen sein.

Ungefähr gleichaltrig (geboren ca. 1795) ist Julie Gnauck. Ihr Vater ist Inspektor von Beruf, das bedeutet wohl, dass er der Verwalter eines adligen Gutes war oder einer Staatsdomäne. Vermutlich wurde sie zur Schule geschickt, lernte vielleicht sogar Klavierspielen. Sie ist Preußin, das Gut zahlt Kontributionen an Napoleon. Was sie persönlich erlebte, weiß ich nicht. Sie heiratet erst 1820 in Potsdam, wohin ihre Eltern nach der Pensionierung des Vaters gezogen sind. Hat also Julie die Niederlage 1806 und den Sieg 1813 erlebt als Sympathisantin der Königin Luise?

Zwei meiner Urur-Urgroßmütter heiraten 1813: Susanna Nitsche, geboren 1793 in Lissa/Polen und Dorothea Eg­gert, aus dem Umland von Rastenburg/Ostpreußen.

Susanna Nitsche, die Hutmacherstochter, wird 1793 geboren. Sie stammt aus einer religiösen und ethnischen Minderheit: der Gemeinde der böhmischen Brüder. Lissa mit seinen 7000 Einwohnern hat eine große jüdische Ge­meinde, eine kleine katholisch-polnische, eine deutsch-lutherische und zwei reformierte Gemein­den, von denen die eine ursprünglich tschechisch war. Der Familiensaga nach sind die Nitsches mit Co­menius 1628 aus Böhmen gekommen. Für Susanna ist das lange her, in Kirche und Schule spricht man Deutsch, aber immer noch trägt der Zusammenhalt zwischen den Glau­bensgeschwistern. Sie lebt nach dem Tod der Mutter 1805 als Pflegetochter im wohlhabenden Apotheker­haushalt Kuntze. Da gehen die deutschstämmigen Ratsherren ein und aus. Da kommen polnische und jüdische Pati­enten und kaufen Arzenei. Südpreußen gibt es nicht mehr, Napoleon hat 1807 im Frie­den von Tilsit das Herzogtum Warschau geschaffen. Eine polnische Regierung von seinen Gnaden zieht rücksichts­los Steuern ein für die unersättliche Kriegskasse: zuerst für die Eroberung Spaniens, dann für den Feldzug gegen Rußland. Ob ihr einziger Bruder und ihr zukünftiger Mann eingezogen sind, weiß ich nicht. Von März bis Mai 1812 und dann wieder Januar/Februar 1813 hat Lissa ständig wechselnde Ein­quartierungen, ihr Vater David Nitsche und ihre zukünftige Schwiegermutter, die Witwe Schi­dowska, stehen in der Bequartierungsliste. Der Vater wird weniger belastet als die Witwe, vielleicht weil in seinem Hause noch kleine Kinder leben. Illyrer, Kroaten, Dragoner, Baiern, Dalmatier ziehen durch Lissa. Unterm 11. Mai heißt es sogar: "Generalstab, Garde Regimenter". Unruhige, gefährli­che Zeiten für ein junges Mädchen. Einen Monat vor der Völkerschlacht bei Leipzig heiratet sie den Bäcker Samuel Zytowski, der wie sie aus der böhmischen Gemeinde stammt, und noch bevor Napo­leon bei Waterloo besiegt wird, bringt Susanna ihr erstes Kind zur Welt.

Auch Dorothea Eggert heiratet 1813. Sie ist eine Gutsbesitzerstochter in der Umgebung von Ra­sten­burg, ihr Geburtsjahr weiß ich nicht. Auch sie sieht 1807, 1812 Napoleons Heer vorbeiziehen, auch sie erlebt Einquartierungen von Freund und Feind. Die polnischen Guts­arbeiter haben Oberwasser. Napoleon schmeichelt ihnen, viele laufen zu seinen Fahnen. Der Vater hat Sorgen - die Arbeit bleibt liegen, die Kriegssteuern drücken. Der Stadtchirur­gus von Rastenburg braucht eine Frau, er ist ein Witwer mit 4 kleinen Kin­dern. Von Liebe wird nicht viel geredet. Dorothea ist versorgt. Zwei Kinder bringt sie zur Welt in den napoleonischen Zeiten.

1814 heiratet Johanna Ramdohr. Von ihr weiß ich etwas mehr. Sie wird 1791 als Tochter des Dorfpfarrers von Polleben geboren. Der ältere Bruder und der Sohn des Kantors Liebscher kehren 1806 aus Halle nach Hause zurück. Napoleon hat die Universität geschlossen! Der Bruder wird vom Vater nach Jena geschickt, der arme Kantorensohn kann ohne den Freitisch in Franckes Waisenhaus nicht studieren. Also bleibt er im Pfarrhaus und unterrichtet Jo­hannas jüngere Brüder. Die Pfarrhäuser sollen Pflanzstätten des aufkeimenden Nationalbewußtseins gewesen sein. Johanna mag durch die Studen­ten im Haus früh davon hören, ihre Gefühle teilen. Aber Benjamin zieht nicht in den Befreiungskrieg! Er ist 1813 bereits Lehrer in Brandenburg/Havel. 1814 heiratet Johanna ihn. Für sie muß die Napo­leoni­sche Zeit unlösbar mit ihrer Brautzeit zusammenhängen, ganz gleich, ob sie Benjamin von Kindheit an liebte oder erst spät die Einwilligung zur Ehe gab.

Nur vier Jahre älter als die Pastorentochter ist die nächste meiner Urur-Urgroßmütter: Charlotta Christiana Kammer, Windmüllerstoch­ter und Windmüllersfrau aus Kobylin in Südpreußen. Sie bekommt 1805 mit 18 Jah­ren ihr erstes Kind. Warum sie den Christian Liebert nicht in Kobylin ge­heiratet hat, weiß ich nicht. Daß ihr Heimatort 1807 wieder pol­nisch wird, nachdem er 14 Jahre preußisch war, kann sie verkraften. Si­cher spricht sie Polnisch als Tochter von lutherischen Exulan­ten, die seit 1700 in Polen Windmüh­len betrie­ben haben. Die Konkurrenz der schlesischen Windmül­ler fällt durch die wieder gezoge­ne alte Grenze weg. Ihr Mann, ihr Bruder haben mehr Arbeit. Aber das Heer Napoleons braucht Brot! Und Napoleons Soldat ist es gewohnt, sich "aus dem Lande" zu ernähren. Er wird das Mehl konfiszieren und den Mahllohn schuldig bleiben. Die Müller verarmen. Eine Bittschrift der Windmüller aus Lissa an den "Herrn General Plenipotens" von 1810 habe ich gesehen. Sie hat nichts genützt. Charlotta Liebert ist die letzte Windmüllersfrau unter meinen Vor­fahrinnen. Dass sie 1811, nach der Geburt ihres 4. Kindes, stirbt, hat wohl nichts mit Napoleon zu tun. Aber der Verlust der Stadt­mühle von Kobylin, die seit 1740 in der Fami­lie war, könnte schon mit diesem Napoleon zu tun ha­ben.

Noch einmal 5 Jahre älter ist Françoise Josephe Blandin, geboren 1782 in Kremsier in Mähren, (heute Kromeriz). Diese Urur-Urgroßmutter ist schon 2 Jahre verheiratet, als das Empire beginnt. Manche von Ihnen kennen schon aus dem EKKEHARD ihren Mann, den Adjutanten des Generals Daultanne, Pierre Henry. So wie Charlotta Kammer ist auch Françoise von Kindheit an zweisprachig, nur dass sie neben Deutsch Französisch spricht statt Pol­nisch. Sie zieht mit ihrem Mann von Garnison zu Garnison - zuerst immer weiter nach Osten, Saar­louis, Mainz, Berlin, vielleicht noch bis Königsberg, dann wieder zurück nach Westen, bis in die Ge­gend der Loire-Schlösser. Sie könnte Napoleon gelegentlich gesehen haben, auf jeden Fall konnte sie seine Wirkung auf die Soldaten beobachten. General Daultanne war kein Bewunderer Napoleons: zweimal stellt er sich gegen ihn, einmal am Anfang der napoleonischen Zeiten, 1804, einmal am Ende: 1814 kämpft er auf der Seite der Bourbonen gegen den aus Elba zurückkehrenden Kaiser und gerät in Gefangenschaft. Pierre Henry geht seiner Frau in diesen Kriegen verloren. Napoleon wird 1815 bei Waterloo endgültig besiegt, aber Pierre Henry kommt nicht nach Hause zurück. 1818 stirbt Françoise in Frank­reich, so wie 1811 Charlotta in Po­len. Der Wiener Kongreß aber setzt ganz neue Grenzen. Die Kinder der beiden zweisprachigen Frauen wachsen als preußische Untertanen auf, denn sowohl Saarlouis als auch Lissa gehören ab 1815 zu Preußen.

Dem Alter nach und auch der geographischen Lage nach zwischen der evangelischen "Polin" und der katholischen "Französin" wächst meine Urur-Urgroßmutter Dorothea Meyer auf, geboren 1786 als Weißbäckers­tochter in Artern. 1804 ist sie 18 Jahre alt. Artern gehört zu Kursachsen, der sächsische Kurfürst wird 1807 König von Napoleons Gnaden. Vermutlich bleibt Dorothea nicht unberührt vom Krieg, aber immerhin kann sie 1811 den Glasergesellen Allendorf heiraten. 1813 gebiert sie ihr erstes Kind, meinen Vorfahren Karl Allendorf. Dass er nicht als Sachse, wie seine Eltern, sondern als Preuße aufwächst, verursacht der Wiener Kongress. Sachsen wird für seine Napoleon-Freundschaft unter anderm dadurch bestraft, dass Artern an Preußen fällt.

1804 schon 28 Jahre alt ist Urur-Urgroßmutter Margarethe Elisabeth Ehme in Bacharach. Sie ist eine evange­lische Rheinländerin, eine Seltenheit. Die evangelische Gemeinde in Bacha­rach ist die einzige, die sich der Gegenreformation am Rhein wiedersetzt hat. Wandernde Handwer­kergesellen bringen immer wieder frisches Blut in die enge Diaspora. So ist ihr Vater Stephan Ehme aus Mittel­franken an den Rhein gekommen und hängen geblieben.1797 wird Bacha­rach französisch. 1804 ist Mar­garetha schon ein Jahr verheiratet, und zwar standesamtlich, eine Neuerung des Code Civil. Aber nicht nur das: die Amtssprache ist französisch, Karl heißt Charles und Mar­ga­retha heißt Mar­gerithe, aus Ehme wird Ehmé: alles ganz modern! Ob beide zusätzlich kirchlich getraut werden, (auch Karl ist nämlich evangelisch!) weiß ich nicht. Kirchenre­gister dürfen nicht geführt werden! Doch nehme ich an, dass eine diasporaerfahrene Ge­meinde Mittel und Wege findet, wenn die jungen Leute wollen. Das gilt auch für die Taufe ihres einzigen Kindes Philippine Jeanette 1810. Nur Nachteile hat der Code Napoléon für die Evangelischen nicht: Die beiden Schlosser, Ehemann Char­les und Vater Ehmé können das Bürgerrecht erwerben und freie Unternehmer werden.

Am frühsten von allen diesen Urur-Urgroßmüttern geboren sind Anna Sophia Hirschberger in Thorn und Anna Maria Ziemer in Kirchheimbolanden in der Pfalz, nämlich 1770 und 1773. Sie sind nur wenig jünger als Napoleon, der 1769 geboren wurde, sind sozu­sagen seine Altersgenossinnen. Sie sollten ihn also am besten gekannt haben, oder?

Sophia Hirschberger ist als Tochter eines Kupferschmieds in der alten Stadt Thorn noch im polni­schen Königreich geboren. Sie erlebt als junges Mädchen, dass Thorn 1793 preußisch wird. Da ihre Muttersprache Deutsch ist und ihre Konfession evangelisch, kann sie das gelassen erleben. Und sehr wahrscheinlich beschert ihr der Einzug der preußischen Garnison in Thorn den Ehemann: Johann Gottfried Behn aus Preußisch Friedland ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein ehemaliger Feldscher, dem der Aufbau des Gesundheitswesens in den neuen Provinzen die Gelegenheit gibt, endlich seßhaft zu werden und eine Familie zu gründen. Behn ist 1798 schon 38 Jahre alt! In diesem Jahr lassen er, der Stadtchirurg, und Sophia ihren ersten Sohn in Bromberg taufen.

Auch die mit Sophia fast gleichaltrige Urur-Urgroßmutter Anna Maria Ziemer ist als Handwerkers­tochter, nämlich als Häffnerstochter, erzogen, lutherisch konfirmiert, zur Schule und Kirche gegan­gen, doch in Kirchheimbolanden. Das ist ein bitterer Unterschied! Seit 1792 ist die Pfalz "Kriegsschauplatz". Die Revolutionstruppen Frankreichs kämpfen mit wechselndem Glück gegen die Heere der alten Mäch­te, zu denen auch Preußen gehört. Dass die Pfalz 1793/4 den plündernden Revolutionssoldaten aus­geliefert ist, hat direkt damit zu tun, dass Preußen unbedingt Thorn haben wollte. 1798, als die Behns in Bromberg ihr erstes Kind taufen lassen, ist die Pfalz französisch. Die Kirchenbücher werden geschlossen. Der Code Civil befiehlt die Einrichtung von Standesäm­tern. Doch bei allen Unterschieden welche Parallele: auch Anna Maria Ziemer beschert das preußi­sche Heer den Ehemann. Franz Joseph Caspar Mering, gewesener preußischer Husar, 24 Jahre alt und ohne Ausbildung außer dem Kriegshandwerk heiratet die schwangere junge Frau am 14. März 1799 vor dem Standesbeamten in Kirchheimbolanden. Von Hause aus ist er Katholik und adelig, aber das gilt nicht mehr. Es ist Revolution! Beide erklären ganz frei von traditionellen Bin­dungen, dass sie einan­der zur Ehe annehmen. Leider bedeutet diese Freiheit auch äußerste Armut. In der Pfalz herrscht der Hunger, Franz hat keine Existenz. Nach der Ge­burt der zweiten Tochter verdingt sich Franz Mering als Soldat im dänischen Heer. Ob er hofft, dort besser bezahlt zu sein oder ob er gegen die Franzosen kämpfen will, weiß ich nicht. Von 1803 bis 1813 lebt Anna Maria Mering mit ihrer Familie in den Kasernen bei Ko­penhagen. Dort bringt sie 6 weitere Kinder zur Welt, als erstes 1803 meinen Vorfah­ren Franz Joseph von Mering.

Für die Behns beginnt der Krieg erst 1806 und in Bromberg wird kaum gekämpft. Am 14. November besetzte Marschall Lannes Bromberg. In seinem Gefolge befand sich der polnische Heer­führer Dombrowski, der im Namen der Befreiung vom preußischen Joch die Polen zu den Fahnen Napole­ons rief. Es gab keinen Widerstand. Die Bevölkerung duckte sich, zahlte. Sophia Behn war stillende Mutter. Ihr zweiter Sohn war im Dezember 1805 geboren. Am 7. Juli 1807 entstand in dem Ab­kommen von Tilsit das Herzogtum Warschau. Bromberg war wieder polnisch. Das Gehalt des Stadt­chirurgen fiel wahrscheinlich weg. Im Dezember 1807 gebar Sophia ihren dritten Sohn, meinen Vorfahren Adolph Gustav Behn. Essen ist knapp. Aber ein Chirurg wird ge­braucht. Die Behns können trotz aller Not ihre Kinder ernäh­ren.

Am 2. Juni 1812 konnte Sophia, falls sie neugierig war, Napoleon in Bromberg sehen. Er war auf der Durchreise von Posen nach Thorn. Der Feldzug gegen Rußland begann. Hatte Sophia Vorahnun­gen? Anfang des Jahres 1813 kamen die ersten Kosaken der siegreichen russischen Trup­pen in Bromberg an. Gekämpft wurde nicht. Bromberg war mit verwundeten napoleonischen Solda­ten überfüllt. Jedes Haus ein Lazarett! Auch die Russen bringen 1813 ihre Verwundeten nach Bromberg. Es wird viel amputiert. Anfang 1815 spricht der Wiener Kongreß Westpreu­ßen mit Posen, Bromberg und Thorn Preußen zu. Mit der neuen Kreiseinteilung wurde die Kreiswundarzt­stelle geschaffen. Johann Gottfried Behn wurde 1817 der erste Kreiswundarzt Brombergs. Das Leben lächelte Sophia wieder. Die beiden überlebenden Söhne studierten Medizin. Sophia wurde 82 Jahre alt. Sie hat, wenn sie wollte, ihren Enkeln von Napoleon er­zählen können.

Anna Maria Mering sah ihre Enkel nicht, sie starb weg vom jüngsten Kind, dem 9., in Ar­mut und Schande. Fluchtartig hatte die Familie mit ihren 6 lebenden Kindern, darunter mei­nem 10jährigen Vorfahren Franz Joseph, 1813 das besiegte Dänemark verlassen. Alle Ausländer wurden ausgewie­sen, nicht einmal Silbergeld durften sie mitnehmen. Arm wie sie gekommen waren, kamen die Me­rings wieder in der Pfalz an. Dort stand es nicht besser. Eine vorläufige bayri­sche Verwaltung ver­suchte, die Wirtschaft in den Griff zu bekommen. Der Mering fand eine Stelle als Hilfspolizist an der Landstraße von Speyer nach Oppersheim. Die war eine von den in Napole­ons Auftrag gebauten, viel bewunderten neuen Straßen. Mering sollte durch strenge Kon­trollen verhindern, dass zu schwere Lasten auf zu schmalen Rädern den Belag zerstörten. Strengster Dienst, schmalstes Gehalt. Die Fuhrleute wissen Bescheid: der Mann hat 6 Kinder zu Haus, seine Frau erwartet das siebte, er trinkt gern eins, der ist bestechlich. Ja, er läßt sich beste­chen, für eine lächerliche Summe drückt er ein Auge zu, wird angezeigt, kommt ins Gefängnis. Anna Maria, 43 Jahre alt, stirbt "vor Gram", wie ihr Mann selbst schreibt. Ihre Kinder kommen ins Armenhaus.

 

Nach diesen Lebenszeugnissen möchte ich Ihnen noch zwei Wortzeugnisse anbieten: "Da war Napo­leon ein Kerl! ... Sein Leben war das Schreiten eines Halbgottes von Schlacht zu Schlacht und von Sieg zu Sieg. Von ihm könnte man sehr wohl sagen, dass er sich in dem Zustande einer fortwähren­den Erleuchtung befunden; weshalb auch sein Geschick ein so glänzendes war, wie es die Welt vor ihm nicht sah und vielleicht auch nach ihm nicht sehen wird." Johann Wolfgang von Goethe 1828

 

Und: "Was hältst du von Napoleon, dem Korsen, dem berühmtesten Kaiser der Franzosen?" fragt der Vater den Sohn im Katechismus der Deutschen von Heinrich von Kleist 1809: "Für einen verab­scheuungswürdigen Menschen, für den Anfang alles Bösen und das Ende alles Guten; für einen Sünder, den anzuklagen die Sprache der Menschen nicht hinreicht und angesichts dessen den Engeln am Jüngsten Tage der Odem vergehen wird."