Der Liebertstamm, der Namensstamm meiner Mutter väterlicherseits, beginnt in Jutroschin in Großpolen. Dort ist ein Michael Liebert vor 1700 ansässig gewesen, dessen Sohn Martin Liebert der erste Windmüller namens Liebert auf der Stadtmühle Kobylin wurde. Von diesen Lieberts habe ich immer angenommen, dass sie Schlesier waren. Schlesien war schon weitgehend evangelisch geworden nach der Reformation, aber es fiel im Frieden von Münster und Osnabrück an das Haus Habsburg und der Kaiser sah es als seine Pflicht an, Schlesien wieder römisch-katholisch zu machen. Viele Schlesier wurden daraufhin Exulanten - und die meisten von ihnen wandten sich nach Osten. In den Mediatstädten des polnischen Adels in Großpolen gab es schon evangelische Handwerker. Der Adel war am Zuzug ausgebildeter Leute interessiert, er versprach Steuerfreiheit und das Recht auf deutschsprachige evangelische Kirchen und Schulen.
Unser Vorfahr Michael Liebert war vielleicht in Jutroschin erst kürzlich sesshaft geworden, ein Mann mit Fluchthintergrund. Sein Sohn Martin, geboren um 1700, war dort schon zu Hause und lernte das Windmüllerhandwerk. Um eine eigene Mühle zu bekommen, heiratete er die Witwe eines Müllermeisters Schurtzmann im nahen Kobylin. Diese Frau brachte einige Kinder mit in die Ehe, sie war nicht mehr jung, Martin Liebert hatte von ihr keine eigenen Kinder. Als sie starb, heiratete er ca. 1737 Rosina Strauß, eine ungefähr 22jährige Seilerstochter.
Rosina Strauß war 1715 in Kobylin geboren. Ihr Vater, der Bürger und Seiler Gottfried Strauß, war aus Gurau oder Sulau nach Kobylin gekommen. Ihre Mutter aber war in Kobylin geboren. Sie hieß Dorothea Türke. Und ich kenne ihre Eltern: Ihre Mutter hieß Hedwig Türke, verwitwete Borkwitz, geborene Pfeiffer. Hedwigs Vater Christoph Pfeiffer, ein Seifensieder, war aus Adelnau in Schlesien. Dorotheas Vater aber war kein schlesischer Exulant. Er hieß Johann Friedrich Türke, Bürger und Leineweber. Er war um 1660 als katholischer Leinewebergeselle aus Engelberg nach Kobylin gekommen.
Engelberg! Bei Wikipedia gibt es zahlreiche Engelbergs. Das bekannteste ist ein touristischer Ort in der Zentralschweiz. Es gibt noch einen Ort Engelberg in der Schweiz, vier Orte, heute Ortsteile, in Deutschland, 2 Orte in Österreich. Diese alle habe ich als geografisch zu weit entfernt ausgeschieden. Das ist natürlich kein Beweis, sondern nur eine Vermutung auf Grund von Plausibiltät. Es gibt aber auch zwei Engelberg an den Sudeten, beide heißen heute Andelska Hora auf Tschechisch. Der eine liegt in Mähren: Andelska Hora ve Sleszku, Stadt im Bezirk Bruntal, Region Moravskoslezsky. Und der andere in Böhmen: Andelska Hora (Chrastava) Bezirk Liberec, Region Liberecky.
Diese beiden Orte sind im 17. Jahrhundert Bergwerksorte, aber nach dem Erlöschen der Funde werden beide Mittelpunkte der Leinenweberei. Ich schließe daraus, dass dort immer schon Flachs angebaut und verarbeitet wurde.
Ein Junge namens Friedrich Türke könnte dort um 1640 geboren und als Heranwachsender zum Leinewebergesellen ausgebildet worden sein. Natürlich war er katholisch. 1651 lässt der Kaiser in Böhmen und Mähren "Seelenverzeichnisse" anlegen, quasi einen Census, geordnet nach Wohnplätzen. Sie dienten auch zum Nachweis der Rechtgläubigkeit. Wenn ich die Familie Türke darin fände, wäre das ganz wunderbar.
Friedrich Türke geht als Geselle auf die Walz. Er geht weit. Die Entfernung von Kratzau, zu dem Engelberg in Böhmen heute gehört, nach Kobylin beträgt ungefähr 230 km. Von Freudental an der Mährischen Pforte nach Kobylin sind es sogar 270 km. Natürlich hat er diese Strecken nicht auf einen Schlag zurückgelegt. Er war auf der Walz. Er hat Rast gemacht in Handwerksbetrieben, um arbeitend zu lernen und Geld zu verdienen. Er hat auch Umwege gemacht. Aber 1665 ist er in Kobylin und heiratet die Jungfrau Catharina Loschwitz.
Über Catharina weiß ich nichts, als dass sie den jungen Friedrich Türke heiratet, 1666 eine Tochter Dorothea gebiert, die nur kurz lebt, und dass sie dann auch selbst gestorben ist. Ganz sicher war sie evangelisch, stammte also vermutlich aus dem Exulantenvolk. Ihr Bräutigam hingegen, Friedrich Türke, musste erst evangelisch werden. Der Pfarrer Christophoros Columbus schreibt stolz ins Kirchenbuch: "Friedrich Türken....., so Gott zuvor durch meine Predigt auß den Bapisthens zu unserer Seligmachenden Religion gebracht". Gleich darauf fällt der Name der Jungfrau Catharina Loschwitz - unwillkürlich denkt man, dass Friedrich sie nie und nimmer hätte heiraten können, wenn er nicht evangelisch geworden wäre.