Im ältesten evangelischen Kirchenbuch von Kobylin, das 1652 beginnt, ist von Windmühlen noch gar nicht die Rede. Freilich - es ist auch sehr schwer zu lesen. Das Buch hat vielleicht einmal im Wasser gelegen, die Tinte war nicht von bester Qualität und es scheint, als seien die Einträge oft in Eile gemacht worden. Das ist auch kein Wunder. Der 30jährige Krieg ist eben erst vorbei, der Frieden setzt sich erst langsam durch, noch sind viele nun arbeitslose Söldner unterwegs, Kobylin wird eine arme kleine Stadt sein. Die Getrauten zeigen wenig Zusammenhang, sie kommen überwiegend einzeln von auswärts. Auf mich wirkt es wie ein Flüchtlingscamp. Und das war es ja vielleicht auch. Diese evangelischen deutschsprachigen Menschen waren nach Kobylin gekommen, weil sie ihre Heimat verlassen hatten. Sie suchten Zuflucht in Großpolen, wohin der Grundherr von Kobylin, Peter Sziminuta von Lachowo, sie eingeladen hatte - mit einer Urkunde vom 6.9.1637, wie Heinrich Wuttke in seinem "Städtebuch des Landes Posen" schreibt. In Kobylin gibt es eine kleine hölzerne Kirche, das "Kripplein Christi" und einen lutherischen Pfarrer. 1654 heißt er mit Nachnamen Hayn. Von den Jahren 1657 - 1660 haben sich nur die Eheschließungen erhalten. Von 1661 an heißt der Pfarrer Christophorus Columbus. Von da an sind Familien erkennbar, Getraute, die dann auch Kinder taufen lassen und Paten sind bei anderen Gemeindegliedern. Die Verstorbenen sind nicht alt. Um nach Kobylin zu kommen, musste man gut gehen können. Und die Hoffnung haben, sich eine Existenz neu aufzubauen.
Christophorus Columbus, "rein evangelischer" Pfarrer am "Kripplein Christi", schreibt 1665 ins Kirchenbuch:
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! a. dom. X p.Trin. da wir vor großer Siegeswuth flüchten mußt. Friedrich Türken Leinewebergesell von Engelberg gebürtig, so Gott zuvor durch meine Predigt auß den Bapisthens zu unserer Seeligmachenden Religion gebracht. Mit jungfr. Catharina Loschwitz
Das ist eine Nachricht, die es in sich hat. Es handelt sich um einen Wochentag vor dem 10. Sonntag nach Trinitatis. 2021 ist der 10. nach Trinitatis am 8. August. Je nachdem, wann Ostern war, liegt der Sonntag etwas früher oder später - auf jeden Fall ist Sommer, Erntezeit. Da heiratet Friedrich Türke die Jungfrau Catharina Loschwitz. Aber es ist kein idyllisches sommerliches Fest. Sondern: "da wir vor großer Siegeswuth flüchten mußt". Die Hochzeitsgesellschaft auf der Flucht!
Wer könnte da so siegestrunken gewesen sein? Wikipedia belehrt mich, dass 1665 der polnische Magnat und Feldherr Sebastian Lubomirski eine Rebellion gegen den polnischen König Johann II Kasimir und seine Reformpläne angezettelt hat. Lubomirski war deswegen schon ins habsburgische Schlesien verbannt worden, aber er sammelte ein Heer und zog nach Polen. Bei Tschenstochau besiegte er die königlichen Truppen. Und zog sich dann wieder nach Schlesien zurück. Seine "siegeswütigen" Soldaten haben auf diesem Rückzug offenbar Kobylin überflutet und die Bewohner in Angst und Schrecken versetzt, so dass sie flohen - vielleicht besonders die Evangelischen, sie hatten wohl am meisten zu fürchten.
Die Hoffnung der Familienforscher ist immer, dass der Heiratseintrag wenigstens die Eltern der Braut angibt - oder wenigstens den Vater. Nichts da in diesen ersten Jahren von Kobylin! In diesen Exulantengemeinden hatten offenbar die wenigsten Papiere bei sich, und offenbar wurden sie auch nicht ausgefragt. Jungfrau Catharina Loschwitz - ob irgendjemand da war, der oder die sie zum Altar führte? Oder war sie eine "unbegleitete Jugendliche", die es nach Kobylin geschafft hatte? Der Name Loschwitz kommt im Kirchenbuch vorher und nachher nicht vor. Jedenfalls war sie schon evangelisch - im Gegensatz zu ihrem Bräutigam. Der musste erst konvertieren. Es ist wichtig genug, um es in das Kirchenbuch zu schreiben. Friedrich Türke war als katholischer Leinewebergeselle in Kobylin gelandet und durch die Predigt des Pfarrers Columbus "aus den Papisten zu unserer seligmachenden Religion gebracht". Wären nicht beide evangelisch gewesen, hatte Pfarrer Columbus sie gar nicht trauen dürfen. Es gab ja in Kobylin zwei alte katholische Kirchen mit Priestern, sogar ein Kloster. Die hätten auf dem Recht zu trauen bestanden.
Friedrich Türke war "von Engelberg gebürtig". Pfarrer Columbus nennt sich Regiomontanus, d.h. er ist aus Königsberg in Bayern wie der berühmte Mathematiker. Wenn er "von Engelberg gebürtig" schreibt, so kennt er es vielleicht. Das spräche dann für das Engelberg in Nordböhmen, am Rand des Isergebirges bei Reichenberg, das heute ein Ortsteil von Chrastava ist. Die Deutschsprachigen nennen es Kratzau. Ein Beweis ist das freilich nicht. Aber warum heißt der katholische deutschsprachige Leinewebergeselle aus Böhmen mit Nachnamen Türke? Herr Günter Ofner von Familia Austria, mein Mentor in geschichtlicher Einordnung, muss lachen. Entweder war er das Kind eines osmanischen Soldaten - was eine Abstammung aus jedem Volk des großen osmanischen Reiches bedeuten kann - oder es ist ein Spottname gewesen, der zum Familiennamen wurde.
Dieser Friedrich Türke wird zu meinem Spitzenahn in Kobylin. Catharina Loschwitz lebt nicht lange, und auch die Tochter aus dieser Verbindung stirbt bald, aber Friedrich bleibt in Kobylin und heiratet am 28. April 1670 ein zweites Mal. Seine Frau heißt Hedwig Pfeiffer, gebürtig aus Adelnau, Witwe des Kürschners George Borkwitz in Kobylin. George Borkwitz ist 60 Jahre alt, als er 1669 stirbt. Hedwig war seine 2. Frau und bleibt mit einem Kleinkind zurück. Es ist klar, dass sie wieder heiraten wird. Ihr Mann war Bürger und Kirchvater, ein geachteter Handwerker mit einem einträglichen Beruf. Dass sie einwilligt, den Leineweber Friedrich Türke zu heiraten, ist für ihn ein großes Glück. Bei der Taufe ihres gemeinsamen Sohnes Friedrich zeigt die Schar der Paten den sozialen Aufstieg.
1673 Nr. 11: d. 26. Nov. 260 ptr. natus Ren.
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Johann Friedrich Türcke b. u. leineweber M. Hedwig Inf. Friedrich Susc. H. Christoph Schwerin b. u. Krahmer, H. Martin Majuncke Kirch Eltester, H. George Ölschleger, Schmidt, H. George Grösche Leinweber, mea uxor, Fr. Anna Schmiedin, Fr. Eva Höchin
Nicht nur Friedrich ist aufgestiegen, die ganze Gemeinde hat sich gefestigt. Die Namen, die hier bei den Paten genannt sind, prägen von nun an das Kirchenbuch. Ob die Taufe des Kindes ein Pfarrer namens Schmied vorgenommen hat, dessen Frau (mea uxor) Patin ist, oder ob der Lehrer das Kirchenbuch führt und Schmied heißt, lässt sich nicht klären. 1688, als der Pfarrer Christophorus Columbus stirbt, ist er seit 28 Jahren Pfarrer am "Kripplein Christi" gewesen. Aber natürlich verreist er manchmal oder ist krank und wird vertreten.
Lücken in diesem Kirchenbuch machen mir schwer zu schaffen. Ich habe den Taufeintrag der Tochter Dorothea Türke nicht gefunden. Ein Mitforscher unseres Windmüllerstammes namens Knöllinger behauptet: Dorothea Türck geb. 20. 4. 1680. Ebenso findet er im Totenbuch: 1684 22. 12. Friedrich Türck gestorben. Ich will unbedingt mir noch die Abschriften der Heimatkreisgemeinschaft Krotoschin beschaffen, um das nachzuprüfen. Was ich aber mit eigenen Augen gelesen habe, ist der Heiratseintrag von Friedrich Türkes Tochter Dorothea.
1712 5) D. 30. August Gottfried Strauß juv. Seiler (von Koeßwig) mit Jgfr. Anna Dorothea, Friedrich Türken, Züchners, filia.
Und deren Tochter Anna Rosina Strauß, Friedrich Türkes Enkeltochter, heiratet dann den Windmüller auf der Stadtmühle Martin Liebert.