Der Traum von der guten Zeit

Was bewegt Frauen dazu, Familiengeschichte zu schreiben? Ich persönlich, geboren 1938 in Saarbrücken, neige zu der Ansicht, dass der frühe Verlust meines Vaters mich motiviert hat. Das trifft dann aber nicht auf die beiden andern Frauen unserer Familie zu, die Familiengeschichte geschrieben haben. Deren Väter – und auch die Mütter – haben lange gelebt.


Die Großtante meiner Großmutter, Ida Guthzeit, geboren 1834 in Bialutten bei Neidenburg, (heute Polen) die so teilnahmsvoll und fast atemlos von ihren Vorfahren erzählt, gibt als Grund an: „Jedenfalls ist es für die Nachkommen erfreulich zu sehen, wie ihre Väter mit ehrenhaftem, festem Sinn, mit stetigem Fleiß und Energie sich emporgearbeitet haben, … ein leuchtendes Beispiel für ihre Kinder, und nicht gering sollen diese den Vorzug ansehen, auf ihre Älterväter mit Stolz weisen zu können.“ Das schreibt sie 1896. Aber ihr Text zeigt keineswegs nur leuchtende Beispiele!
Meine Großmutter Edith Behn, geboren 1884 in Berlin, gibt 1944 als Motiv an, dass sie „einsame Stunden“ habe, „die ein Rückblick füllen und beleben soll“. Das kommt mir schon genauer vor. Beide Frauen sind mir wegen ihrer Erzählfreude lieb, wegen der Anekdoten und Charakterisierungen, mit denen sie Familiengeschichte bewältigen möchten. Aber was sie eigentlich antreibt, ist verborgen. Und so ist es auch bei mir seit 1995. Aus dem Stand habe ich angefangen zu erzählen. Und immer wieder kehre ich zu meinen Geschichten zurück. Ist es der Traum von der guten Zeit?
Darin sind sich Großtante Ida und Nichte Edith einig: Die Guthzeits waren Ost- oder Inselfriesen und hießen ursprünglich „van de gute Zeit“. Das ist ein schöner Name. Ida Guthzeit, verheiratete Henné, glaubte, dass dies „van“ ein Adelstitel sei, der nur leider in Preußen keine Anerkennung fand. Heute ist Allgemeingut der Familienkunde, dass das niederländische „van“ mit Adel nichts zu tun hat: es bezeichnet schlicht die Herkunft eines Menschen. Aber ein Mensch, dessen Herkunft die gute Zeit ist, hat wirklich einen schönen Namen!
Unsere Vorfahren Guthzeit tauchen in Ostpreußen ins Licht der Geschichte. Friesen waren da keine Seltenheit. Die zahlreichen Flußauen boten vertraute Landschaft, deren Kultivierung und Nutzung Friesen von Hause aus gewöhnt waren. Dazu kam die Menschenleere nach der Pest von 1709/10 und der Liberalismus des preußischen Königs, der auch verfolgte Konfessionen zuließ, sogar Mennoniten. Die van de gute Zeit ließen sich nieder. Dass einer von ihnen eine Salzburgerin geheiratet haben soll, wie meine Großmutter erzählt, wäre durchaus möglich. Die Vorfahren Le Juge, die Ida kennt, können Hugenotten oder Schweizer aus der Gegend von Neuchatel gewesen sein.
Karl Guthzeit ist der erste persönlich erkennbare Ahn. Er sei Domänenpächter auf Uderwangen gewesen, weiß Ida Henné. Uderwangen liege vier Meilen südlich von Königsberg. Er habe zwei Brüder gehabt, von denen der eine nach Sumatra auswanderte, der andere als Berufssoldat in der Schlacht von Torgau 1760 fiel. Die van de gute Zeit waren offenbar alle drei auf der Suche nach einer neuen Heimat. Mit der Schlacht von Torgau haben wir die erste Jahreszahl. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts ist Karl Guthzeit also nach Preußen gekommen. In der Schlacht bei Torgau fällt auf preußischer Seite ein Guthzeit, ein Angehöriger meiner mütterlichen Familie – auf der Gegenseite im Habsburgerheer der Kaiserin Elisabeth kämpfte und überlebte ein Vorfahr meines Vaters: Franz von Mering aus Andernach.
Von denen van de gute Zeit  hatte nur der Domänenpächter Kinder: einen Sohn namens Karl und eine Tochter. Die Tochter heiratet einen Gutsbesitzer von Vietinghoff. Laut der Überlieferung von Ida wirtschaftete Herr von Vietinghoff schlecht und riss seinen Schwiegervater und den Schwager Karl Guthzeit den Jüngeren mit ins Verderben. Karl konnte mit dem geschmälerten Erbe die Domäne Uderwangen nicht halten. Er pachtete das Gut Holstein bei Königsberg und heiratete um 1788 „eine Königsbergerin französischer Herkunft, Fräul. Le Juge, Schwester des später in Ziegelhof bei Königsberg i.Pr. verstorbenen Landbaumeisters Le Juge.“ Laut Idas Aufzeichnungen war ihr Vorname Henriette. Henriette und Karl Guthzeit hatten fünf lebende Kinder: Karl, Amalie, Ferdinand, Wilhelmine und Otto.
Der Bankrott des Eigentümers von Gut Holstein, des Herzogs von Holstein-Beck, soll der Grund dafür gewesen sein, dass die Guthzeits unter neuerlichen Verlusten auch dies Gut verlassen mussten. Mehrmals wechselten sie die Güter und zogen mit dem „Inventar“ des Gutes um. Ida beruft sich als Quelle auf ihre Tante Amalie, getauft 1793 in Petershagen im Kreis Preußisch Eylau: „Genaueres erzählte Tante Malchen von dem Gute Tautschken zwischen Osterode und Lautenburg, dem Areal nach ein großer Besitz, viel Wald, viele Seen und viel Sand, vielleicht der damals unkultivierte Teil Preußens, mit vorherrschend polnischer Sprache und Sitte. Die Umzüge waren hinterwäldlerisch. Da das Inventar den Hauptbesitz ausmachte, so wurde alles mitgenommen, das Geflügel mit gebundenen Füßen auf Leiterwagen mit Futtervorräten, dann die hochbeladenen Wagen mit Hausrat, zuletzt folgten die zusammengekoppelten Pferde und die Rindviehherde. Da damals, in diesen Gegenden, an Chausseen nicht zu denken war, so muß der Zug sehr langsam vorwärts gekommen sein. Tante Malchen hat einen derartigen Umzug von Tautschken nach einem Gute in derselben Gegend, Kaschlau, das der Großvater später pachtete, und zuletzt nach Bialutten mitgemacht, und konnte nicht genug beschreiben, wie beschwerlich das Füttern des vielen Viehes und das Kochen für alles Gesinde unterwegs gewesen sei.“ Der letzte Umzug führte in das Rittergut Bialutten Kreis Neidenburg, das die Guthzeits 1807, nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon, kaufen konnten. Ida vermerkt: „Nach den Unglückstagen von Jena und Auerstädt stockte jeder Verkehr, und der Wert des Grundbesitzes fiel unglaublich“. Nun saßen die Guthzeits auf eigener Scholle.
Kurz nach dem Umzug nach Bialutten, 1808, starb Henriette. Der älteste Sohn war 16, der jüngste 8 Jahre alt. Die beiden jüngsten Kinder, Wilhelmine und Otto, kamen zu Verwandten ihrer Mutter. Karl heiratete ein zweites Mal. Dass diese zweite Frau alkoholkrank war, beschäftigt sowohl meine Großmutter als auch meine Ururgroßtante lebhaft.
Edith meint: Karl „fiel um die Jahrhundertwende wohl um 1790 einer sehr schönen, jungen Frau zum Opfer, die sich nicht um Haus, Geschäft und Kinder kümmerte und in den furchtbaren Vaterlandsjahren nicht nur an Leistungen versagte, sondern, wie ich schon einmal von einer Vorfahrin sagen musste, sich ob in Einsamkeit, ob aus mangelnder Liebe zu dem Manne, ob aus Leichtsinn, dem Trunke in einer Weise hingab, daß sie im Hause „die Selije“ bei Lebzeiten hieß – weil sie nicht auf der Erde weilte.“ Dazu weiß Ida: „Auf dem Totenbett hatte meine Großmutter geb. Le Juge, den Großvater dringend gebeten, bald wieder zu heiraten und empfahl ihm ein älteres Fräulein, die immer in vornehmen Familien als Gesellschafterin in Stellung gewesen war. Sie kannte sie zwar nicht lange, aber sie muß ihr wohl gescheut und energisch erschienen sein, und ihre feinere Bildung ließ sie hoffen, daß sie auch für die weitere Ausbildung der Kinder und besonders des heranwachsenden Malchen sorgen würde…. Mir ist diese zweite Frau meines Großvaters nur unter dem Namen „die Seelige“ bekannt…. Im Anfange nahm sie sich sehr der Wirtschaft an und war auch gütig zu ihrer Stieftochter Malchen. Aber sehr bald überkam sie die Langeweile, und sie vermisste sehr das lebhafte gesellige Leben, das sie bisher geführt hatte, die großen Diners mit anregendem Weingenuß und viel Abwechslung, und nun? - - Mein Großvater, ein stiller, ernster Mann, mit nur einer Passion, der Jagd, … das kleine hölzerne Wohnhaus mit seinen 3 Stuben und dem Kälbergarten daneben, der wüste, große, baufällige Wirtschaftshof davor und die Fernsicht auf drei Seiten begrenzt durch dunklen Kiefernwald, damals in der Tat ein Gottvergessener polnisch katholischer Winkel. Im Anfange hat sie den Großvater viel gequält, Besuche bei den Nachbarn zu machen, d.h. 2 – 3 deutsche Meilen weit, aber der Großvater war keine gesellige Natur, schlug es ihr ab und ging lieber auf die Jagd.“ Einsamkeit, mangelnde Liebe und Leichtsinn – Langeweile, der gottvergessene Winkel: die „Selige“ sucht Trost im Alkohol. Edith und Ida tadeln sie deswegen, Ida macht aber auch ihrem Großvater die Vernachlässigung der Frau zum Vorwurf.
Einig sind sich die beiden Chronistinnen, dass die drei älteren Kinder, Karl, Amalie und Ferdinand, zu bewundern sind. Trotz des indolenten Vaters und der ewig betrunkenen Stiefmutter gehen sie beharrlich ihren Weg. Die Jungen verlassen bald das Haus, Amalie versorgt den väterlichen Haushalt und pflegt die Alkoholkranke. Sie bleibt ledig. „Klein zierlich und liebreizend schilderten sie ihre späteren Zöglinge – und von eiserner Energie,“ schreibt Edith. Und Ida: „Es ist ein Beweis ihrer seltenen moralischen Kraft, daß sie zwar schroff und herbe wurde, aber tätig und ehrenhaft, immer im Stillen an sich fortbildend, und immer eine gute Tochter.“
Ferdinand geht zu einem Müller in die Lehre, Karl macht eine Ausbildung zum Landmesser bei seinem Onkel Le Juge, dann „studierte er Baufach“. „Seine letzte Arbeit, die er im Auftrage des Landbaumeisters auszuführen hatte, war 1812 für die Franzosen. Osterode sollte eine große Etappe für das große Heer in Russland werden; große Magazine wurden daselbst errichtet und umfangreiche Backöfen projectiert. Mein Vater sollte diese bauen, und die umliegenden Bauern hatten gegen Bons die Fuhren zu stellen.“ Die ersten Rückzügler der geschlagenen Napoleonischen Armee aus Russland lassen diese Idee platzen. Kurze Zeit später stellt sich Carl dem Befreiungsheer zur Verfügung. „Er trat in das Freiwillige Jäger Detachement der Ostpreuß. National-Kavallerie Regiments ein. 300 Thl. zu seiner Equipierung lieh ihm zinsfrei ohne jede Sicherheit ein Jude in Bromberg (Leiser?). Mein Vater hat ihn stets in dankbarer Erinnerung behalten und ihn besucht, wenn er nach Bromberg kam.“ So erzählt es Ida Guthzeit. „In einem der ersten Gefechte des Krieges wurde mein Vater durch eine Kartätschenkugel am linken Unterarm (Knochen zerschmettert) schwer verwundet. Wiederhergestellt wurde er 1813 zum Seconde-Lieutnant im 3. Ostpreuß. Landwehr-Regiment ernannt, machte die Belagerung von Danzig mit und rückte nach dessen Kapitulation nach Frankreich nach. Er hat den Einzug in Paris mitgemacht,“ weiß sie. Edith hat gehört, dass ihr Urgroßvater „als Jägeroffizier Adjutant von Blücher“ wurde. Davon schreibt Ida nichts, und ich konnte es in den Heereslisten nicht nachweisen. Auf jeden Fall kehrte Karl nach der Niederlage Napoleons bei Waterloo nach Königsberg zurück und wollte sich beim Militär zum Ingenieur ausbilden lassen. Eine schwere Masernerkrankung verhinderte das. Er blieb bis 1819 beim Militär und heiratete in dieser Zeit die Schwester eines Kriegskameraden, ein Fräulein Dengel.
Diese 1. Ehe des Karl Guthzeit gibt Edith viel zu denken und auch Ida beschäftigt sie stark. Die Frau bekam ein Kind, ein Mädchen Marie, aber Karl zweifelte offenbar an der Treue seiner Frau. Er ließ sich scheiden. Ida erklärt: „Mein Vater kam dahinter, daß seine junge Frau ein Verhältnis mit einem Leutnant unterhielt, mit dem sie vor der Ehe heimlich verlobt gewesen war, und den sie wegen beiderseitiger Mittellosigkeit aufgegeben hatte. Auf Bitten seines Freundes fand die Scheidung erst 8 Wochen nach Geburt des Kindes statt, das Marie Guthzeit getauft ist. Mein Vater überließ seiner Frau die ganze Einrichtung und gab für das Kind 2000 Thl., alles was er damals besaß, um alle weiteren Ansprüche abzuschließen. Leider wurde das Geld nicht gerichtlich deponiert, und Marie hat nie etwas davon bekommen. Frau Guthzeit zog nach Rastenburg und dann nach Potsdam, wo sie ihren früheren Liebhaber, Hauptmann Stein, heiratete. Meine Stiefschwester wurde dort auf den Namen ihres Stiefvaters mit dessen Kindern zusammen erzogen, und erst bei der Konfirmation erfuhr sie, daß ihr rechter Vater Guthzeit hieß und in Königsberg lebte. Von da ab bahnte sich ein Briefwechsel zwischen Vater und Tochter an, dem ein Besuch in Königsberg folgte, sie ist auch im Testament meines Vaters bedacht. Meine Stiefschwester Marie lebt jetzt als verwitwete Frau Oberst Zinold in Berlin.“ Meine Großmutter schildert die Folgen dieser Scheidung nach den Erzählungen ihrer Großmutter Ottilie: „Ein Beispiel seiner schweren Strenge will ich nun an seinen Kindern, die ihn alle aber hoch achteten, geben. Er hatte deren 6 aus zweiter Ehe: Laura, Ottilie, Karl, Ida, Johanna, und nochmals Karl. Als diese Kinder einst jünger beieinander saßen – trat einmal der Urgroßvater ins Zimmer und sagte: Haltet Euch bereit Eure älteste Schwester Marie kommt nun zu uns! Die Kinder waren sprachlos – keiner wusste etwas von einer Schwester und 1. Ehe ihres Vaters. Damals fragten Kinder nicht. Die Schwester kam 16jährig ins Haus. Ihre Mutter hatte den Freund ihres Vaters geheiratet und es ist wohl anzunehmen, daß dieser es war, der sie die Ehe brechen ließ. Jedenfalls muß eine Schuld da gewesen sein, sonst wäre das Kind ihr zugesprochen. Es wird wohl auch nicht das Kind des Urgroßvaters gewesen sein und hat sich nicht einleben können. Da gab der Großvater seiner Verbitterung nicht nach, sondern ließ das Kind der Mutter.“ Gut lässt sich herausfühlen, dass Ida ihren Vater verteidigt, Edith aber nach den Erzählungen ihrer Mutter Martha eher dazu neigt, ihm Vorwürfe zu machen. Die beiden Schwestern Ottilie und Ida haben ihres Vaters Biographie mit jeweils eigenen Merkzeichen versehen. Das wirkt nach. In Berlin hatte Ottilies Tochter Martha Ehlert, verheiratete Behn, regelmäßig Kontakt zu der Halbtante, die seit 1884 die kinderlose Witwe des Obersten Zierold war. Auch Edith erinnert sich an Großtante Marie.
Nach der Scheidung verließ Carl Königsberg und arbeitete als Feldmesser in Preußisch Eylau und Preußisch Holland. Ida schreibt: „Es war eine große Nachfrage nach Feldmessern oder Kondukteuren, wie sie damals hießen, denn nach der neuen Gemeindeordnung von Minister von Stein kamen alle Gemeindeäcker, Wiesen und Wald zur Parzellierung an die Einzelnen. Die Stellung eines Regierungs-Geometers war sehr einträglich und mein Vater erwarb viel Geld, konnte auch seinem Vater auf Bialutten 7000 Thl. geben. Nach Jahren führten ihn seine Vermessungsarbeiten in die Mohrunger Gegend, wo er meine (13 Jahre jünger als er) Mutter Johanna Krause kennen lernte und 1824 heiratete. Der Vater meiner Mutter war Ackerbürger u. Besitzer eines kleinen Galanteriegeschäftes in Mohrungen, ihre Mutter, Dorothea Druschka, eines Glasers Tochter aus demselben Orte. Den Hochzeitsanzug von Beiden (den Schwiegereltern!) habe ich noch gesehen. Das Brautkleid von seegrüner Seide mit handgestickten Rosensträußchen, soll 100 Thl. gekostet haben, der Tuchrock von grobem preußischem Tuch mit talergroßen geschnitzten Perlmutterknöpfen, - man sieht, der Luxus war Ende des vorigen Jahrhunderts unter den Kleinbürgern nicht gering.“
Von Johanna Krause, geboren den 23. November 1803 in Mohrungen, einem kleinen Städtchen bei Preußisch Eylau, weiß meine Großmutter Edith: „Sie war ein kleiner gebrechlicher Mensch, mit der er in glücklichster Ehe lebte.“ Von ihr hatte er sechs Kinder.
Es sind fast alles Mädchen, ein Sohn stirbt als Kleinkind und der jüngste, wieder ein Karl, bleibt ledig. Damit erlischt der Name Guthzeit in unserer Familie relativ schnell, im Jahr 1912 stirbt Karl Guthzeit in Berlin-Wilmersdorf als pensionierter „Jurist, Oberregierungsrat bei der Eisenbahn“. Er ist der letzte des Mannesstamms dieser Linie. Auch Ferdinands Nachkommen tragen bald andere Familiennamen. Nur vom jüngsten der Brüder, von Otto Guthzeit, könnte es heute noch mit uns verwandte Menschen mit Namen Guthzeit geben.
Von den Töchtern Karls blieb Johanna unverheiratet, sie teilte mit ihrem Bruder Karl den Haushalt. Von den übrigen dreien hatte Laura, geboren am 14.12.1830, drei Kinder, Ottilie, geboren 19.12.1832, sechs Kinder und Ida, geb. 1834, drei Kinder. Aber die hießen natürlich alle nicht Guthzeit! Lauras Kinder hießen Friedländer, Ottilies hießen Ehlert und Idas Henné. Die jetzt lebenden Nachkommen von Johanna und Karl Guthzeit heißen Dehio, Frickenhaus, von Mering, Wijers, Lippold, Roth und Trottenberg.
Als vermögendster und ältester unter den Geschwistern übernahm Carl Guthzeit nach dem Tod seines Vaters am 1. Januar 1832 das Gut Bialutten bei Neidenburg. Die alkoholkranke Stiefmutter zahlte er aus und mietete ihr in der kleinen Stadt Soldau eine Wohnung. Dann zog er mit seiner Frau und der etwa zweijährigen Tochter Laura in das Vaterhaus ein. Ida schreibt: „Meine Mutter hat oft erzählt, wie schwer es ihr im Anfange geworden ist, sich in Bialutten einzuleben. Das hölzerne, kleine, strohgedeckte Wohnhaus, in das man von draußen eine Stufe in den Flur hinuntertrat, links ein Wohn- und Schlafzimmer, nebst kleiner Kammer, rechts ein großes Gesellschaftszimmer und eine Hinterstube, in der die Wirtin und Tante Malchen schliefen, und in der gewebt wurde, alles niedrig mit kleinen Fenstern. Geradezu durch den Flur die Küche mit großem offenem Herd. Die nächste Umgebung wüst und reizlos, die Gutsleute alle polnisch. Der einzige erreichbare Umgang eine Gutsbesitzersfamilie Riehl in Kowo, eine deutsche Meile entfernt, ¾ Meile immer durch Bialuttens Wald zu fahren. Mutter fand ihre Schwägerin Malchen dort, da aber zwei nicht regieren können, so trat Tante Malchen sofort die ganze Wirtschaft meiner viel jüngeren Mutter ab. Sie hatte die Selbstüberwindung, sich um nichts mehr zu kümmern und sich auf ihr Zimmer zu beschränken. Sie blieb in meines Vaters Hause bis zu dessen Tode, nur unterbrochen durch Samariterreisen in die ganze Verwandtschaft.“
Aber so, wie es unter der alten Generation ausgesehen hatte, sollte es nicht bleiben! Ida erzählt: „Mein Vater hatte ganz das Zeug zu einem Pionier der Wildnis; nicht nur in jedem Baugewerbe war er Meister, er war auch ein vorzüglicher Gärtner, er schnitzte sehr schön, machte Buchbinderarbeiten, Filet- und Kreuzstichstickereien und konnte jede Handarbeit, die er Lust hatte, zu lernen. Auf ihn passte das Sprichwort:“ was seine Augen sahen, konnten seine Finger machen,“ immer fand er eine nützliche Arbeit für seine nie ruhenden Hände an den langen Winterabenden. Er bereitete 2 Jahre hindurch alles zum Bau eines neuen Wohnhauses vor. Jahrelang war der Tischler Anuski unter seiner Aufsicht auf dem Gute beschäftigt, und wurde der freundliche Mann von uns Kindern oft besucht. Holz, Ziegel, Kalk lieferte das Gut, und so baute mein Vater das große stattliche Wohnhaus, von dem der jetzige Besitzer noch sagt, es wäre tadellos und selbst der äußere, steingraue Abputz noch ohne Fehler. Die breite Front, zwei volle Stockwerke hoch, mit vorzüglichen hohen gewölbten Kellern und einem zweistöckigen Seitenflügel für die Wirtschaftsräumlichkeiten, ist es ein würdiges Wohnhaus für einen großen Güterkomplex wie Bialutten. Neben dem Hause legte mein Vater einen sehr großen Garten (jetzt Park genannt) an, wo jetzt der Buchengang, an der einen Längsseite ein ganz geschlossenes Gewölbe bildet, die, von ihm oculierten Obstbäume, die Gebüsche und Blumenrabatten noch genau in demselben Arrangement bestehen, wie er es angelegt. Jedes einzige der Wirtschaftsgebäude hat mein Vater gebaut u. dem Ganzen das stattliche Ansehen gegeben, wie es zu einer so großen Begüterung passt. Eine meiner ersten Erinnerungen ist der Umzug nach dem neuen Hause und das Entzücken über die Tapeten; ich war damals 5 Jahre alt.“
Eine glückliche Kindheit begann für die drei Mädchen Guthzeit: Laura, Ottilie und Ida. Ida schildert sowohl die Abgeschiedenheit des Gutes als auch das familiäre Glück.
Um das Jahr 1845 verkaufte Carl Guthzeit das Gut und kaufte ein Haus in Königsberg, wahrscheinlich um die Ausbildung und Verheiratung seiner Kinder zu betreiben,  und,  als die älteren Kinder „versorgt“ waren, zog er in eine Etagenwohnung in der Nähe seiner verheirateten Tochter Ottilie. Dort lebte er mit seiner Frau, seiner ledigen Schwester Malchen und seinen beiden jüngsten Kindern Johanna und Karl. 
Der Landmesser Guthzeit, „ein Mann mit stark gebogener Nase“, wird von meiner Großmutter „streng“ oder „gestreng“ genannt. So erlebten ihn seine Kinder und offenbar auch seine Enkeltochter Martha Ehlert. Im Adressbuch von Königsberg aus dem Jahr 1857 wird er „Partikulier und Lieut. a.D.“ genannt, auch soll er Otto Ehlert bei seinen Kindern 1850 als „meinen Geschäftsfreund“ eingeführt haben. Der ehemalige Landmesser und verabschiedete Offizier war also in der 2. Hälfte seines Lebens Kaufmann.
Offenbar ein geschickter, auch als alter Mann litt er keinen Mangel. Er starb am 23. Mai 1863 in Sackheim, einem Vorort von Königsberg. Seine Frau Johanna, so viel jünger, überlebte ihn nur um zwei Jahre. Sie starb am 12. September 1865 auf Gut Mühlbach bei Drengfarth/Westpreußen bei einem Besuch bei ihrer Tochter Ida.
Seine Töchter verheiratete Karl Guthzeit nach kaufmännischen Gesichtspunkten. Allerdings irrte er sowohl bei Ottilies als auch bei Idas Bräutigam. Ottilie heiratete Pfingsten 1851 den Getreidekaufmann Otto Ehlert, Ida im Oktober 1860 den Leutnant Henné. Bei Ida trat die Fehlentscheidung schneller ans Licht. Henné machte mehr Schulden, als durch sein eigenes und der Guthzeits Geld ausgeglichen werden konnte. Das Guth Mühlbach wurde zwangsversteigert, der Vater und der Schwager Ehlert mussten die Familie mit drei Kindern unterhalten. Letztlich irrte Carl auch bei Ottilies Bräutigam, allerdings wurde das erst lange nach seinem Tod sichtbar. Der erste Verlobte von Laura, Reinhold Heinrichs, ein Apotheker in Sackheim bei Königsberg, war sicher auch vom Vater gewählt. Die schöne Laura war erst 17 Jahre alt. Dass der junge Mann nach noch nicht einjähriger Verlobung starb, wie Ida zu berichten weiß, und dass Laura danach lungenkrank war und zur Kur fahren musste, hat vielleicht bewirkt, dass sie selbst wählen durfte. Sie wählte gut. Dr. phil. Ludwig Friedländer, ein Wissenschaftler von Rang, jüdischer Abstammung, getauft, erwies sich später als Stütze der Familie. Dank seiner Bedeutung können wir im Staatsarchiv Marburg nach den Guthzeits forschen.
Unsere Urgroßmutter Ottilie Guthzeit wird von ihrer Enkeltochter Edith so beschrieben: „Sie soll jung hübsch gewesen sein. Sie hatte blaue Augen und dunkles Haar, welches auch in hohem Alter kaum ergraute. Sie war klein und zierlich – im Alter auch hüftschief. Sie soll jung eine heimliche Liebe gehabt haben. Auf derlei achtete man nicht.“ Nach Ottilies eigenen Angaben auf den Meldeämtern in Gernsbach und Freiburg ist sie am 19. Dezember 1832 in Bialutten Kreis Neidenburg geboren. Sie war etwa achtzehn Jahre alt, als laut Ediths Familienplaudereien ihr Vater „ins  Jungmädchenzimmer trat und sagte: ‚Tilchen mach dich ordentlich, zieh dein Sonntagskleid an – gleich kommt mein Geschäftsfreund Ehlert und ich habe ihm deine Hand zugesagt!’ Punktum. Widerrede gab es nicht.“ …. Pfingsten 1851 heirateten sie.“
Das Ehepaar Ehlert lebte 1857 laut Königsberger Adressbuch in der Straße direkt vor den Speichern des Kneiphofviertels, Vordere Vorstadt 31. Laut den Kindheitserinnerungen der Tochter Martha aber, geboren 1854, hatten sie später ein großes Haus Auf den sieben Hufen, also in einem Vorort, wo es wohl grüner und geräumiger war. Dort soll auch die Etagenwohnung der alten Guthzeits gewesen sein. Beim Konkurs 1886 wird aber Vord. Vorstadt 31 als Adresse Ehlerts angegeben. Dort blieb vielleicht das Kontor des Kaufmanns. Der wachsende Luxus, den Martha als Jugendliche registrierte, erlaubte den Kindern ein sorgloses, behütetes Leben. In der heißen Jahreszeit siedelte man über in den Badeort Kranz an der Ostsee, wo ebenfalls ein Haus zur Verfügung stand. Marthas Kinderstreiche und Jugendvergnügungen beleuchten den erfolgreichen Beruf Otto Ehlerts als Getreidekaufmann. Edith schreibt: „Man traf sich im Theater, bei Konzerten, zu den Mahlzeiten waren immer einige Gäste. Großmutter stand dem Haushalt mit großer Umsicht vor. Großvater strahlte, wenn alle Kinder Freunde mitbrachten.“ „Wie schön frei war das Leben im großelterlichen Hause. Feste und Diners – Familientanzgesellschaften – gab es immer. Meine Mutter (Martha) entsann sich dabei immer ihres gestrengen Großvaters (Karl Guthzeit), der sehr elegant tanzte und älter manchmal eine ältere Dame oder eine Tochter zum langsamen Walzer aufforderte. Sie stand als Heranwachsende dann in der Tür. Äußerst zierliche Kreise mit der Fußspitze gezogen hätte er dabei beschrieben.“ „Natürlich wurde viel gebraucht. Großmutter hatte ein Körbchen – eine Geldschwinge – die schickte sie leer ins Büro – Großvater füllte sie. Ich glaube nicht, daß meine Großmutter verschwendete, aber sie rechnete auch nicht, der so viel ältere Mann gab und sie nahm in der Überzeugung, daß er es könne. Das Haus war immer voll Besuch.“ „Es gab kaum einen Tag, an dem nicht Freunde der Kinder, Verwandte, Freunde kamen – dann als Kamerad des Bruders Vater und seine Freunde. Besonders Mudra, (heute noch gibt es bei den Pionieren der Bundeswehr einen von-Mudra-Preis) der nachmalige Armeeführer im Weltkriege 1814/18 (sic!) und Geißler – der auch Generallt. wurde. Sie wurden unsere Pathen später. Ich kann nur sagen, Beengung der damaligen Jugend kann ich den Aufzeichnungen nach nicht herausfinden.“
In diesem „lichten“ Haus in Königsberg lernte Hermann Behn, der arme Pionierleutnant, dank seines etwas jüngeren Kameraden Oskar Ehlert etwa im Sommer 1878 Martha Ehlert kennen. Weihnachten 1879 war Verlobung und am 16. Mai 1880 gab es nach einem fantasievollen Polterabend eine glänzende Hochzeit. „Ob an diesem Tag Felix Dahn der Eltern Fest verschönte, weiß ich nicht – jedenfalls war er ein häufiger Festgast im großelterlichen Hause mit seiner 2ten noch jungen aber sehr originellen Frau.“ An dieser Hochzeit nahmen jedenfalls neben vielen Freunden der alten und der jungen Leute auch die nächsten Verwandten teil, also Tante Laura Friedländer, geb. Guthzeit, und ihr Mann, der Professor an der Albertina, mit ihren Kindern Paul, Charlotte und Konrad, Tante Ida Henné mit ihren drei Kindern Ernst, Helene und Walter, Tante Johanna Guthzeit und der Jurist bei der Reichsbahn Karl Guthzeit. Ob die Geschwister Johanna und Karl Guthzeit damals schon in Breslau lebten oder noch in Königsberg, weiß ich nicht.
Hermanns Eltern waren schon lange tot, auch der Vatersbruder Dr. med. Julius Behn war schon verstorben. Ob dessen Frau „Tante Fritzchen“ aus Bromberg anreiste, ist zweifelhaft. Sie war sehr liebevoll, aber dick und bequem. Doch könnten von den Behns Hermanns drei Vettern teilgenommen haben: Oskar, Offizier, Gustav, Kunstmaler und Max, ebenfalls Offizier, der vielleicht damals schon mit Ida Koester verheiratet war. Auch die einzige Kusine namens Martha Behn kommt in Frage. Sie war 1880 bestimmt schon verheiratet und zwar an den Offizier Hermann Bayer. (Mit diesem Ehepaar Bayer waren die jungen Behns später in Köln zusammen in Garnison und meine Großmutter Edith erinnert sich, dass deren Kinder älter waren als sie und ihr Bruder.) Sicher war der jüngere Bruder von Hermann Behn, der erst 15jährige Friedrich Behn auf der Hochzeit. Ob Hermanns Schwester Anna mit ihrem Mann, dem Astronom Dr. Romberg, aus Pulkowa bei St. Petersburg hat anreisen können, weiß ich nicht. Aber es war ja Mai und die Schiffspassage zwischen den beiden Hafenstädten offen. Die Rombergs hatten schon Kinder, die ältesten beiden Mädchen waren 1868 und 1870 geboren.
Ob im Gegenzug Martha und Hermann Behn, meine Urgroßeltern, auch auf der Hochzeit von Marthas Kusine Charlotte Friedländer mit dem Privatdozenten Dr. Georg Dehio am 18. April 1884 in Königsberg getanzt haben? Sie lebten damals schon in Berlin, denn Hermann war zum Gardebataillon zurück versetzt worden. Am 1. Januar 1884 wurde nach dem Sohn Felix ihr zweites Kind geboren, meine Großmutter Edith. Im April war sie erst drei Monate alt. Aber Martha hatte diese zweite Geburt leicht überstanden und war sehr familienbezogen. Sicher reiste sie gern nach Königsberg, schon, um Eltern und Geschwister wieder zu sehen und ihre Kinder vorzustellen.
1884 standen Otto Ehlert schon die Sorgenfalten im Gesicht. Am 17. März hat er eine Hypothek von 51 000 Goldmark für Ottilie eintragen lassen, offenbar um dieses Geld aus dem drohenden Konkurs seines Geschäfts zu retten. Diese Hypothek wird 1886 angefochten und führt wohl zu dem Vorwurf des betrügerischen Bankrotts. Der Getreidehandel in Königsberg ist in der Krise. Das schlechte Verhältnis zwischen Russland und dem Deutschen Reich, die Getreideimporte aus den U.S.A. nach Europa und die allgemeine Wirtschaftsdepression nach der Blase von 1873 drücken auf die Kaufleute. Die Privateisenbahnen gehen pleite, der Staat kauft sie auf. Überhaupt versucht der Staat durch Aufträge an „Leute von persönlicher Tüchtigkeit“ die Krise zu bewältigen. So steht es im Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Königsberg. Für Otto Ehlert gibt es keine Hilfe. Zu spät geht er in Konkurs, wird angeklagt, verliert den Rest und nimmt sich im Gefängnis das Leben am 14. März 1886 oder erst 1888. Zu diesem Ereignis schweigt Ida gänzlich und meine Großmutter Edith schwankt beim Datum. „Ich habe volle Offenheit gelobt und weiß, daß dieses Familienbuch von meinen Kindern in Ehren gehalten wird. Mehr kann und will ich nicht darüber schreiben.“ Ein riesiges Unglück hat die Familie betroffen.
Ottilie Guthzeit, verheiratete Ehlert, ist plötzlich allein. Als Kind dominiert von einem „gestrengen“ Vater, als Frau von einem sehr viel älteren, zwar gebefreudigen, aber auch anspruchsvollen Ehemann, steht sie vor dem Nichts. Es muss furchtbar gewesen sein: aller Besitz kam unter den Hammer. Alle Ehre war verloren. Auch Ida, die damals schon Witwe war und ohne Einkommen, verlor ihren Beschützer.
Meine Großmutter Edith setzt mehrmals an verschiedenen Stellen an, um die Wirkung dieses Selbstmords zu beschreiben, aber sie bleibt immer im Mittelbaren:  „Meine Mutter hat unter diesem Punkt sehr stark gelitten. Ich glaube sogar, daß mein Vater um seinen Abschied einkam, was die Allerhöchste Gnade des Kaisers nicht annahm.“ Ein andermal: „Felix – Mutters ganzer Stolz – …. war ihr Abgott und sie sah ihm viel nach. Ich merkte das wohl um so mehr als auch meine Großmutter, die damals zu Besuch kam und wohl ganz bei uns bleiben sollte, Felix nur „mein Kronche“ nannte. Ich war bei jedem Kinderstreit von vorn herein die „Krrratzbürste“. Großmutter war so streng mit ihren Kindern, aber der Enkel durfte alles tun. Meine Mutter entsinnt sich nur eines Kusses ihrer Mutter, als sie am Hochzeitstag das Elternhaus verließ. Da küsste sie Großmutter auf die Stirn mit einem Glückwunsch. Es kommt mir dies Fernsein für die eigenen Kinder unendlich traurig vor. Sie liebte wohl ihren Mann nie. Sie verurteilte ihn auch und fuhr nicht zu seiner Beerdigung. Mutter fuhr von Köln aus im tiefen Winter hin. Sie liebte ihren Vater unendlich so lange sie lebte in vorbildlicher Kinderdankbarkeit. Großmutter blieb nicht bei uns. Mutter konnte sich nicht mit ihr stellen. Sie zog dann mit ihrer ältesten Tochter Clara zusammen, wie ich erzählte.“
Mündlich hat Edith erzählt, dass die Großmutter und Tante eine Pension für Mädchen eröffnet hätten, um Geld zu verdienen. Aber das war wohl nicht sehr lange und nicht sehr erfolgreich. Auffällig ist das ruhelose Wandern von Ottilie, nachdem ihr Mann gestorben war. Wahrscheinlich wollte sie niemanden von ihren Verwandten über Gebühr belasten.
So war sie zunächst bei ihrer Tochter Martha, versuchte es dann bei ihren Geschwistern Hannchen und Karl in Breslau. Die vier noch ledigen Kinder kamen nicht in Frage. Schwester Ida hatte selber genug Sorgen, von den Friedländers soll der Vorschlag stammen, gemeinsam mit Tochter Clara eine kleine Pension zu betreiben zur Unterweisung junger Mädchen. Vielleicht versuchten sie das zunächst in Glogau, wo die Behns inzwischen wohnten. Am 1. April 1895 kam Ottilie Ehlert als Privatperson nach Gernsbach im Schwarzwald, vielleicht war sie dort mit ihrer Schwester Laura verabredet, denn gegenüber über den Rhein liegt Straßburg. Am 15. April 1896 jedenfalls ist Ludwig Friedländer, aus Straßburg kommend, in Gernsbach gemeldet. Wie lange er blieb, ob er allein kam, geht leider aus den Meldelisten nicht hervor.
Am 25. September 1898 meldete sich Ottilie Ehlert nach Freiburg ab. Dort hat meine Großmutter Edith sie von Metz aus besucht und offenbar bei ihr Laura und Ludwig Friedländer getroffen. Sogar Charlotte Dehio verpflanzt sie dahin. Vielleicht handelte es sich um Geburtstagsfeiern von Ottilie, zu denen die Verwandtschaft anreiste. „Ich erlebte Großmutter und Tante als alte Frauen in bescheidenen, aber auskömmlichen Verhältnissen lebend. Ihr Sohn Hugo erhielt sie völlig.“ Warum Mutter und Tochter aber in den 13 Jahren, die sie in Freiburg verbrachten, auch fast jedes Jahr umzogen, ist mir schleierhaft. „Wohnten“ sie neue Häuser „trocken“, um Miete zu sparen? Hatten sie störende Angewohnheiten? Blieben sie die Miete schuldig und wurden rausgesetzt? Wie kann ich darüber etwas erfahren? Die Stadtarchivarin Frau Hefele schreibt mir, dass die Ehlerts in einem gut bürgerlichen Stadtteil gewohnt hätten, nach Armut sehe das nicht aus.
Am 31.3.1911 zog Ottilie dann mit ihrer Tochter Clara von Freiburg nach Waldkirch. Wahrscheinlich machte ihr das fortschreitende Alter zu schaffen. Sie brauchte mehr Ruhe, auch gute Luft. In Waldkirch ist sie dann in ihrer Wohnung in der Freistr. 3 gestorben. „Nach einem schweren Leben starb meine Großmutter einen schönen Tod. Sie war 82 Jahre, saß früh im Lehnstuhl, meine alte Tante, die treu für sie sorgte, zog ihr die Schuhe an. Sie berieten über das Mittagessen, da sank mitten im Satz Großmutter der Kopf auf die Brust und sie war tot. Es war am 22. Januar 1915.“
Ottiliens ledige jüngere Geschwister Johanna und Karl waren ihr schon in den Tod vorausgegangen. Sie starben 1912 und 1913 in Berlin. Die älteste Schwester Laura Friedländer starb erst am 23. Februar 1918, gerade rechtzeitig, um nicht, gezwungen von den Folgen des Versailler Vertrages, ihr schönes Zuhause in Straßburg verlassen zu müssen. Ob Ida zu der Zeit noch lebte, weiß ich leider nicht. Der erste Weltkrieg und seine Folgen sprengten den Zusammenhalt der Nachfahren.
„Das unscharfe Verschwimmen in der Ferne gehört zur Stimmung,“ schreibt mir Dr. Georg Dehio, mein neu gefundener Onkel 4. Grades aus der Linie der Guthzeits. Wohl wahr! Vielleicht ist dies „unscharfe Verschwimmen in der Ferne“ der eigentliche Motor der Familiengeschichte.
Ida Guthzeit war 63 Jahre alt, als sie anfing zu schreiben. Sie hatte die Erzählungen ihrer Tante Amalie im Ohr, die sich wiederum auf Erzählungen ihrer Großmutter berief, der Frau des Pächters von Uderwangen. Edith schreibt: „Mein 60. Lebensjahr beginnt. Das will mir scheinen, ist die rechte Zeit, wenn man das vorhat, Aufzeichnungen über sein Leben zu beginnen – man ist noch nicht zu alt und nicht mehr jung.“ Sie beruft sich hauptsächlich auf das glänzende Gedächtnis ihrer Mutter Martha. Ich war 57 Jahre alt, als ich mit der Genealogie begann. Ich bin die erste, die neben mündlichen auch schriftliche Quellen nutzt, neben Familienüberlieferungen auch Archive. Aber schreiben muss ich genau wie meine Vorgängerinnen selbst.
Wir Frauen sinnen, scheint mir, über einem Muster von Biographien, aber eben auch über einem Muster von überlieferten Erzählungen. Wir altern und uns interessiert die vergehende Zeit, nicht nur die gute.
Heute, wo ich diesen Artikel abschließe, schickt mir ein Neffe meines Mannes einen Vers von Rilke:
Wie ist doch alles weit ins Bild gerückt
Wir staunen’s an und nennen es: „DAS WAHRE“.
Und wandeln uns mit ihm im Gang der Jahre.
Und doch ist unsichtbar was uns entzückt.

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