Unsere Urgroßmutter Martha Ehlert

ME

Am Sonntag erwarte ich meine Nachbarn zum Imbiss. Aus diesem Grunde putze ich mein Silber und mangele meine Tischtücher. Dabei stoße ich auf das Zeichen ME. Auf den merkwürdig spitzen Löffeln in jener Zwischengröße, die für Mehlspeisen gedacht war, finde ich es ebenso wie auf Kaffeelöffeln aus reinem Silber, und auf den Servietten mit dem lebensechten Farnmuster, die so groß sind, dass man sie im Nacken zubinden kann, ist es in weißem Plattstich mit rotem Saum eingestickt. Auf dem Damasttischtuch mit den zarten Glyzinienblüten prangt es: ME, d. h. Martha Ehlert. Es ist der Name einer meiner vier Urgroßmütter.

Sie war reich. Jedenfalls galt sie als reich denen, die mir noch von ihr erzählen konnten: meiner Großmutter mütterlicherseits, die es ja wissen musste, weil sie ihre Tochter war, und meiner Mutter und Tante, die es von ihrer Mutter gehört haben, aber auch eigene Erinnerungen bewahren an die schöne Wohnung mit den prächtigen Möbeln in Berlin-Wilmersdorf und den Zuschnitt des Lebens bei den Großeltern. Es stand immer eine Schale mit frischem Obst auf der Anrichte!

Einige der Möbel habe ich in der Kindheit selbst noch gesehen und teilweise kann ich sie jetzt noch sehen bei meinen Brüdern. Denn Urgroßmutter Martha starb gerade recht zur Hochzeit ihrer ältesten Enkelin, meiner Mutter, und die arme Hilfspfarrersbraut musste froh sein, dass Schrank und Sessel vorhanden waren, obwohl sie das Zeug schrecklich altmodisch fand und gar nicht schön. Was half's? Ich sehe noch meiner Mutter Lachen, wenn sie sagte: das Monogramm auf dem Silber kann man ja auch EM lesen, dann heißt es Eberhard von Mering! Weil sie gebraucht wurden, haben die alten Sachen überlebt, und ich kann mir ein Bild von Urgroßmutter Marthas Haushalt machen - wenigstens in Ansätzen.

Von Marthas Aussehen kann ich mir auch ein Bild machen, denn ein Photo hat sich erhalten. Allerdings ist sie da schon eine alte Frau. Ich sehe ein großflächiges, vollwangiges Gesicht mit hoher Stirn und ausgeprägtem Doppelkinn, nach hinten gekämmtes, noch volles Haar, eine Brille vor den scharf blickenden Augen, eine kritische Falte zwischen den Brauen, und die Lippen nicht gepresst, aber sehr energisch aufeinander gelegt. Sie ist recht beleibt. Die Witwenkleidung der Matronen um 1930, ein Zweiteiler in schwarz glänzender Seide, ist nicht gerade ansprechend. Eine schmale Kette verschwindet im Schatten des Kinns, eine Armbanduhr leuchtet auf der Ärmelmanschette, ein Stein blitzt am linken Ringfinger. An den Knöcheln der relativ großen, gepflegten Hände sieht man Arthroseknoten. Urgroßmutter hat den rechten Ellenbogen auf einen Tisch mit weißer Decke und Klöppelspitzenrand gestützt, sie sitzt auf einem Balkon. Im Hintergrund sind Berge mit schneebedeckten Gipfeln, davor grünende Bäume. Eine Vase mit Sommerrute, Pflox und Margeriten ist sorgsam drapiert: Martha in der alljährlichen Badekur. Als Orte kommen Bad Tölz oder Bad Reichenhall in Frage, meinte meine Mutter.

Wenn ich Martha Behn ansehe, kann ich mich nicht freimachen von dem Urteil, das ihre Tochter Edith und ihre Enkelinnen, meine eigene Mutter und meine Tante, über sie fällten: sie war eine böse Frau. Wie denn böse? Sie hat nichts Kriminelles getan. Sie hat nicht das Gesetz gebrochen. "Böse" meint hier egoistisch, eigensinnig, geltungsbedürftig in einem im Familienkodex nicht akzeptierbarem Maß. Sie sei sehr klug gewesen. Sie habe Englisch und Französisch lesen können. Von ihren ausgesucht schönen Handarbeiten sind manche noch in meinem Besitz: Klöppelspitzen, Richelieu und Hardanger, aber auch die Holzschnitzarbeiten an der kleinen Truhe zeugen von ihrer Kunstfertigkeit. Für den Haushalt brauchte sie nicht zu sorgen. Das machte "die treue Anna", Anna Schoppe, ein Mensch von großer Güte, Anpassungsfähigkeit und Umsicht. Natürlich gab es außerdem noch Köchin und/oder Hausmädchen (die allerdings wegen der "Bosheit" ihrer Herrin nie lange aushielten) und selbstverständlich den "Burschen" zum Schuheputzen und Teppichklopfen, denn Urgroßvater war Offizier, am Ende seiner Laufbahn sogar Generalleutnant und damit Excellenz.

Eine "böse Frau" macht ihren Nächsten das Leben schwer. Zunächst einmal ihrem Ehemann, möchte man meinen. Der galt Tochter und Enkelinnen als grundgütig, liebevoll und nachgiebig - aber eben Martha gegenüber als schwach. Ich stelle ihn mir jetzt vor wie den Gatten der gelehrten Frau in Molières "Les femmes savantes", den bequemen Chrysale: als einen Menschen, der die Wünsche der andern gut versteht, weil er seinen eigenen Wünschen gegenüber nachsichtig ist, aber dem seine Seelenruhe über alles geht, weswegen er den Streit mit seiner willensstarken Frau vermeidet. Urgroßvater Hermann Behn war ein schöner, sehr stattlicher, humorvoller Mann. Er gefiel nicht nur seinen Chefs, (einmal sogar dem Kaiser!) und seinen Untergebenen. Er gefiel seiner Tochter und seinen Enkelinnen. Er gefiel auch anderen Frauen. Meine Großmutter behauptete, dass er öfter untreu war, und das sei der Grund gewesen, weswegen er Martha nicht durch "ein Machtwort" in familiären Dingen zusätzlich gegen sich aufbringen wollte. Er ließ sich das Leben nicht schwer machen. Wenn er etwas nicht hören wollte, rief er: "Ich verstehe nicht. Ich liege auf meinem guten Ohr!" Und dachte nicht daran, sich umzudrehen. Außerdem war er viel außer Haus. Er war bis ins Alter aktiv. Und für den Feierabend gab es Casinos, wo Offiziere sich treffen konnten, außerdem immer wieder Einladungen zur Jagd. Als alter Mann machte er täglich einen ausgedehnten Spaziergang durch den Zoologischen Garten, wohin er gelegentlich die Enkelkinder mitnahm. Es entsteht der Eindruck, dass Martha mit all ihrer "Bosheit" ihm nicht schaden konnte.

Die Nächsten nach dem Ehemann sind die Kinder. Da war zuerst Felix, der Erstgeborene, der einzige Sohn. Ihn soll Martha über alles geliebt haben, ihm sah sie alles nach, ihn verwöhnte sie. Wie ihm das gefiel, weiß ich nicht. Nach dem Urteil meiner Vorfahrinnen und dem Urteil seiner Vorgesetzten ist es ihm schlecht bekommen. Er wurde Offizier wie sein Vater, aber nur ein "befriedigender". Das konnte er schwer ertragen. Seine Eitelkeit und Selbstüberschätzung, die seine Vorgesetzten rügten und über die seine einzige Schwester, meine Großmutter, klagte, könnten Marthas Verwöhnung angelastet werden. Felix wurde ein Spieler. Er machte Schulden, war mehrmals in Gefahr, "den Rock ausziehen zu müssen", d. h. mit Schande aus der Armee entlassen zu werden. Martha überredete den Gatten, die Schulden des Sohnes zu übernehmen. Ob sie dabei litt, ist unbekannt. Den letzten Schuldenberg übernahm der Schwiegervater, Konsul Bénard aus Hamburg, als der "schöne Felix" die 18jährige Erna heiratete. Martha mag damals gehofft haben, dass ihr Sohn nach dem Krieg in seines Schwiegervaters Überseegeschäft einen Platz finden werde.

Als Felix kurz vor dem Ende des Ersten Weltkriegs umkam, hat Martha zweifellos viel verloren. Ob sie auch erleichtert war, weil dies ihr Kind in der Welt, wie sie nun einmal war, doch nie würde zurechtkommen, weiß ich nicht. Der geliebte Sohn war im Oktober 1918 schon hinter der Front, auf dem Weg in den Urlaub, als eine Fliegerbombe ihn tötete. Meine Mutter war damals acht Jahre alt. Auf sie machte es einen unauslöschlichen Eindruck, dass die zwanzigjährige Ehefrau Erna Behn mit einer Tüte "Liebesäpfel", wie man die Tomaten nannte, ahnungslos im Hamburger Bahnhof auf Felix wartete. Die Ehe war kinderlos. Erna Behn heiratete bald wieder. Martha blieb nur die Tochter Edith und deren Familie übrig.

Ich habe früh erfahren, dass meine Großmutter ihre Mutter nicht mochte. Sie sprach nicht oft von ihr, dann aber mit Bitterkeit. Schade, dass das Thema des Mutter-Tochter-Konflikts damals, als ich mich mit meiner Großmutter unterhielt, noch gar nicht zu meinem theoretischen Rüstzeug gehörte! So habe ich viel zu wenig gefragt und kenne kaum Episoden, in denen dieser Konflikt virulent wurde. Edith fühlte sich benachteiligt neben ihrem älteren Bruder, dem "geliebten Felix". Aber dieses Gefühl ist ja kein Beweis für besondere Bosheit der Mutter. Kinder sind eifersüchtig. Neulich las ich, sie müssen es sein nach dem Prinzip der Evolution, weil die Zuwendung der Eltern lebenswichtig ist. Und sie können in diesem Punkt den Eltern nicht gerecht werden. Denn es ist immer weniger Zuwendung da, als gefordert wird.

Meine Großmutter Edith fühlte sich vernachlässigt. Ihre Mutter Martha interessierte sich nicht für ihre Erlebnisse, Empfindungen, Wünsche. Trotzdem oder gerade deswegen hat Edith nach meinem Eindruck eine recht freie Kindheit und Jugend gehabt, auch nicht viel Schelte bekommen wegen ihrer mäßigen Schulleistungen; nur das Pferd, das sie sich so sehr wünschte, und der Reitunterricht wurden ihr verweigert. Doch ob das ausschließlich an Martha lag?

Anscheinend hat Edith sich zu Hause nicht wohl gefühlt. Ließ Martha sie spüren, dass eine Frau nur als Ehefrau etwas wert ist? Dass sie also möglichst bald heiraten sollte? Edith war zwar beliebt unter den Leutnants ihres Bekanntenkreises, aber keiner hielt um ihre Hand an. Edith glaubte, dass liege an den ewigen Spielschulden ihres Bruders. Ein junger Offizier hatte nur ein geringes Gehalt. Ohne Vermögen war er darauf angewiesen, dass der Schwiegervater bei der Hochzeit eine Kaution stellte, die das Leben des jungen Paares sichern sollte. Das Geld dazu hatte Felix verbraucht.

Als auch nach dem dritten Tanzwinter in Metz Edith noch unverlobt war, wollte sie den Beruf der Krankenschwester erlernen und aufs Heiraten verzichten. Martha fand das abwegig und versagte ihre Zustimmung. Ohne Erlaubnis der Eltern konnte aber ein Mädchen keine Ausbildung anfangen. Da tauchte Paul Liebert auf: 15 Jahre älter als die inzwischen 22jährige Edith, im Range eines Hauptmanns und mit Vermögen. Er warb um sie. Die junge Frau griff nach dem Rettungsanker einer Vernunftehe. Martha konnte zufrieden sein. Immerhin war Edith nun unabhängig. Dass ihr Mann, mein Großvater, schon im ersten Ehejahr mit seiner Schwiegermutter aneinander geriet, liegt auf der Linie der Familienerzählung. Aber erklärt wird die "Bosheit" dadurch auch nicht.

Nach der Pensionierung von Hermann Behn 1906 hatten meine Urgroßeltern Metz verlassen und waren nach Berlin gezogen. Mein Großvater Paul war weiterhin in Metz in Garnison. Kurz nach der Heirat mit Edith 1907 hatte er Manöver. Urgroßmutter Martha schrieb, Edith solle für die Zeit des Manövers zu ihr nach Berlin kommen. Das klingt harmlos: eine Mutter lädt ihre Tochter ein, die Tage oder Wochen ihrer Strohwitwenschaft bei ihr zu verbringen. Aber als freundliche Einladung wurde es nicht aufgefasst. Edith hatte sonst nie gefühlt, dass ihre Mutter sie gerne um sich haben wollte. Deswegen vermutete sie, dass Martha nun, wo die Tochter endlich gut verheiratet war, sich mit ihr in ihrem Bekanntenkreise brüsten wolle! Sie wollte nicht fahren. Sie lehnte die Einladung aber nicht selbst ab, sondern überließ das ihrem Mann. Großvater Paul schrieb der Schwiegermutter höflich, das Manöver finde ganz in der Nähe von Metz statt, er könne abends gut zu seiner Frau nach Hause kommen, er freue sich darauf und wolle seine Frau nach so wenig Ehewochen nicht entbehren. Von da an sei auch das Verhältnis zwischen Paul und Martha gereizt gewesen.

Tante Ulli, die ich fragte, warum ihre Großmutter mütterlicherseits so schwierig gewesen sei, meinte, Martha sei als noch einigermaßen hübscheste von drei hässlichen Mädchen von ihrem Vater zu sehr verwöhnt worden. Die schönen Silberlöffel, der feine Damast ihrer bis auf uns gekommenen Servietten, das edle Wurzelholzkästchen für Besteck mit der Widmung: O. E. seiner lieben Tochter zum 16.ten Mai 1880 - ist diese ganze Aussteuer Zeichen der Verwöhnung durch einen allzu zärtlichen Vater, den Getreidehändler Otto Ehlert in Königsberg, der froh war, dass wenigstens eine seiner Töchter sich verheirate? Und dass Martha klug war, wie ihre Schwestern auch, galt gar nichts?

Niemand interessierte sich für Marthas Fähigkeit zu denken. Und sie selbst wusste nichts damit anzufangen? Beide Schwestern, die ältere Klara und die jüngere Anna, wurden Lehrerinnen. Das war also möglich im Königsberg von 1875. Aber diesen Weg wählte man nur deswegen, weil sie beide einfach zu hässlich waren zum Heiraten. Dabei hat doch der gut aussehende Offizier Hermann Behn Martha vielleicht auch nur der Mitgift wegen geheiratet. Hat sie das zu spät eingesehen? Waren die zarten Handarbeiten nur ein unzureichender Ersatz für befriedigende Tätigkeit? Der Haushalt war ihr langweilig, auch gab es dafür Dienstboten, die tüchtiger waren als die Herrin. Die Kindererziehung lag ihr nicht. Der gesellschaftliche Umgang im "Ersten Stand" war zwar ehrenvoll, aber doch wenig anregend. Sie war zwar die "Kommandeuse". Die Frauen der Offiziere, die ihrem Mann unterstellt waren, mussten Marthas Vorrang anerkennen. Aber sehr erfreulich stelle ich mir das nicht vor. Lästige Besuche nach Protokoll, lästige Gastgeberrollen. Das Leben stagnierte seit ihrer Jugend. Ist es das, was sie ungerecht und lieblos machte? Oder hatte sie schon als verwöhntes Kind nicht zu lieben gelernt? Im Alter soll sich ihr Sinn allein auf Pralinés, Patiencen und kleinliche Durchsetzerei ihrer Macht gerichtet haben.

Martha machte sich ihren Enkeltöchtern verhasst durch eine unkluge eigensinnige Bevorzugung der einen vor der andern. Sie verlor das Herz der jüngeren zarten Ulli, ohne das der älteren lebhaften Ruth zu gewinnen. Unglücklicherweise war sie in ihren späteren Jahren reicher als ihr Schwiegersohn, der nach dem verlorenen 1. Weltkrieg früh pensioniert wurde und sein Vermögen einbüßte. Dadurch hatte sie die grausame Möglichkeit, Hilfe zu verweigern. Kurzerhand schlug sie ab, dass das Klavier des "geliebten Felix" der Enkeltochter Ulli zur Musikerziehung diente.

Trotzig schaut mich Marthas Bildnis aus der Sommerfrische an. Ich gewahre eine dicke alte Frau in Schwarz, mit einer steilen Falte zwischen den Brauen! Viel Energie ohne Ziel. Was hätte aus dir werden können, wenn du zu dir selbst gefunden hättest, arme böse Martha!

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