Stadtadel

Zuerst veröffentlicht in: Mitteilungen der Westdeutschen Gesellschaft für Familienkunde, Bd. 43, Jg. 95, Heft 1, Januar - März 2007

Ich dachte, Stadtadel sei ein Terminus mit einer festumrissenen Bedeutung. Unauslöschlich ist mir das Gespräch in der Marienschule Vechta, als ich ungefähr in der 8. Klasse des Gymnasiums war. Die Mitschülerinnen fragten mich - ob neugierig oder ironisch, weiß ich nicht - wo denn meine Burg sei, wenn die von Merings, wie ich behauptete, adelig wären. Und ich antwortete, die Merings hätten keine Burg, sie seien Stadtadel. In einer Kleinstadt des Oldenburger Münsterlandes, wo es Bauernland gab und einige Wasserburgen, klang das absolut lächerlich. "Stadtadel!" So etwas hatten die andern nie gehört. Und die von Schorlemer in meiner Klasse schüttelte den Kopf, als ich auf Grund einer Ehe zwischen einer Mering und einem von Schorlemer um 1685[1] behauptete, wir wären verwandt.

Zu diesem Thema meiner Familiengeschichte fand ich also damals keine Gesprächspartner. Das machte mich nicht irre daran, dass ich recht hätte. Die andern hatten eben keine Ahnung. Ich las gelegentlich etwas über Patriziat, über Adelshöfe in Städten, ich fand hier und da das Wort Stadtadel und ich dachte, es sei die Bezeichnung für bestimmte Familien, die in Städten das Epitheton "von" führen durften, ohne auf dem Lande Schlösser, Burgen oder Gutshöfe zu besitzen. Wenn ich mich recht erinnere, stellte ich mir den Stadtadel zwar ärmer, aber gebildeter als den Landadel vor. Und ich vermutete ihn einflußreich in den Gremien von Stadt- und Kirchenregiment.

In der Prima der Cäcilienschule in Oldenburg/Oldenburg fanden meine Mitschülerinnen das zwar ein bißchen arrogant, aber akzeptabel. Näheres wussten wir alle nicht. Dass die von Merings zum Stadtadel Kölns gehörten, konnte ich mir an den Hut stecken. Kürzlich noch hat sich eine ehemalige Klassenkameradin daran erinnert. Vielleicht ist es auch nicht ganz falsch. Aber ganz wahr ist es gewiss nicht. Der Stadtadel Kölns ist keine eindeutige gesellschaftliche Kategorie. Und die Merings haben auch nicht wirklich dazugehört. Es gab 1984 ein Symposium von europäischen Historikern, die sich an der Beschreibung von Stadtadel im Spätmittelalter versuchten[2]. Die Ergebnisse sind kaum zu generalisieren. Allein schon die Herkunft des Stadtadels zu klären, ist schwierig. Entstand er ausschließlich aus ritterlichen Ministerialengeschlechtern? Oder bezeichnet man mit Stadtadel eine städtische Führungsschicht, die unter äußerem Druck sich vom Landadel und von den in den Zünften reich gewordenen Bürgerfamilien abgrenzen will?

In den nachweislichen Wirklichkeiten ist er eine flüchtige Erscheinung. Zwar kann er immer dann wahrgenommen werden, wenn er in Gegensatz zu andern sozialen Gruppen tritt, doch schon eine Generation früher oder später ist er vielleicht im Landadel aufgegangen oder im Beamtendienst des Territorialherrn der Stadt entfremdet oder aber er versucht im Gegenteil, in die städtischen Herrenzünfte aufgenommen zu werden.

Seine Heiratspolitik ist dementsprechend wechselhaft. Der Historiker Knut Schulz, der den Diskurs über den Stadtadel genau kennt, schreibt: "Durch große Klarheit zeichnet sich der Begriff und seine Anwendung also nicht gerade aus."[3]Friedrich Everhard von Mering, Hobbyhistoriker und Familienforscher wie ich, hat sich schon im 19. Jahrhundert mit der Behauptung, die von Merings gehörten zum Kölner Stadtadel, auseinandergesetzt. Er schreibt zum Beispiel: "Erst nach dem Aussterben des carolingischen Mannsstammes gingen die bedeutenden Veränderungen vor, wodurch der Erbadel allmählich festen Fuß faßte. Vorzüglich geschah nun die Ausbildung der adeligen Familien durch die Entstehung der Geschlechtsnamen, wodurch die Familie sich individualisierte und ein erbliches Prädikat annahm. Viele derselben gehören den Patriziern und den Adeligen der Stadt Köln und des Landes an."[4] Und nachdem er einige alte Kölner Patrizierfamilien aufgezählt hat:: "Diese eigene von dem Landadel häufig angegriffene Adelsclasse war durch den Städteadel entstanden. Dieser hatte sich theils aus den Nachkommen in den Consularstellen, theils aus Landadeligen gebildet."

Wenn man das liest, muss man Knut Schulz zustimmen, dass sich Begriff und Anwendung des Wortes Stadtadel nicht durch große Klarheit auszeichnen. Friedrich Everhard von Mering empfindet diesen Mangel selbst. Nur eine Seite später schreibt er: "Eine Geschichte und Abstammung der rittermäßigen Geschlechter und alten Patrizier der freien Stadt Köln würde um so wichtiger erscheinen, als sicher ein großer Theil ritterbürtiger Edlen der Rheinlande und Westphalens von Köln ausgegangen ist, und so größtentheils unsern spätern Landadel gebildet hat, dessen eigentlicher Ursprung hier wieder im Städteadel zu suchen ist."[5] Diese Behauptung versucht Mering mit einem Beispiel zu belegen, das mir ebenso unsicher wie die Behauptung zu sein scheint: "Es genüge als Beispiel die Freiherren Raiz von Frenz zu erwähnen, welche ursprünglich dem freien Bürgerstande der Stadt Köln angehörten, später aber ihren Wohnsitz nach dem Lande verlegten und zu den ältesten Edlen des Landes gehören."

Mir scheint, ihm fehlen hier nicht nur sichere Quellen und die fachlichen Voraussetzungen zur Beurteilung, sondern es drückt sich in diesen und ähnlichen kreisenden Gedanken ein ambivalentes Gefühl aus. Friedrich Everhard von Mering hatte nichts außer dem "guten Namen", weder solide Bildung noch Geld. Er konnte den Stadtadel der Merings nicht in Frage stellen, ohne seinen Veröffentlichungen aus Kölner und niederrheinischen Archiven jede Aufmerksamkeit zu entziehen. Andererseits war er so arm und wohl auch ausgeschlossen von der adeligen Gesellschaft, dass er ohne den Anspruch auf den Freiherrntitel bequemer hätte leben können. Ohnehin blieb ihm zur Ehe nur die Wahl einer Bauerntochter. Seine Zweifel sind existentiell. Er muss seinen Anspruch auf den Stadtadel offenhalten.

Deswegen schreibt er an anderer Stelle, nachdem er erwähnt hat, dass sein Vorfahr Dr. Theodor von Mering Stimmeister Kölns gewesen sei: "Die Bürgermeister und die Stimmeister hatten das Recht, sich zu den Patriziern Köln's zu zählen und das Prädikat "von" zu führen; doch galt dies nur in den Ringmauern Köln's, ward weder von den Churfürsten, noch von dem Reiche und dem Kaiser anerkannt. Viele kölnische Patrizier wurden auf ihr Nachsuchen von dem Kaiser in den Adelsstand erhoben ... Die Gültigkeit solcher Erhebungen wurde aber häufig, stets von den jülich- und bergischen Ständen bestritten."[6]

Diese Sorge um einen Anspruch brauche ich nicht mehr zu haben. Das "von" ist Bestandteil unseres Namens, kein Adelsprädikat mehr, und ob ich aus dem Stadtadel oder dem Bürgertum Kölns stamme, ist inzwischen ganz gleichgültig. Nützlich wäre es allerdings zu wissen, ob Hynrich Merynck aus Coesfeld sich 1553 als nobilis fühlte, als er Bürger von Köln wurde, ob seine Heirat mit Christina von Monheim für ihn nicht nur eine gute Mitgift, sondern auch den gesellschaftlichen Aufstieg ins Kölner Patriziat bedeutete, interessant wäre, zu erfahren, ob der erste oder der zweite Domherr für seine Verdienste um das Kurerzbistum einen Adelsbrief erhielten. Die Geschichte der Merings in Köln zu erzählen, bedeutet ja, das Selbstgefühl jeder Generation im Vergleich zu den Mitlebenden zu bedenken. Wenn sie sich zum Stadtadel zählten, müsste man wissen, was sie selbst darunter verstanden.

Was schon Friedrich Everhard von Mering herausfand: sie gehörten nie zur Führungsschicht. Sie hatten gelegentlich Berührungen mit dieser, aber dann nicht mit den bestimmenden Personen, sondern eher mit den schwächeren Mitgliedern der alten Familien in der Stadt. Sie hatten Verbindung zur Familie Monheim, die schon im 13. Jahrhundert in Köln zum Rat gehört, zu der Familie Krebs, die im 17. Jahrhundert Bürgermeister stellte, zu der Familie Francken-Sierstorff in Person ihres Nachfahren von Bianco.

Viele der Merings haben nach oben gestrebt, aber der Durchbruch in den "Kölner Klüngel" ist ihnen nie gelungen. Vielleicht waren sie von Anfang an Leute des Erzbischofs. Vielleicht stammten sie wirklich aus einem westfälischen Ministerialengeschlecht - der erste Mering kam ja aus Coesfeld und dort gibt es bis heute den Mehringhof, einen ehemaligen Meierhof des St. Mauritiusklosters in Münster. Ein Mann des Erzbischofs aber hatte wenig Chancen in der Kölner Führungsschicht. War das der Grund? Vielleicht aber waren sie einfach nicht begabt genug, zu faul oder zu feige, außerdem nie zahlreich genug, um einen Sturm auf begehrte Verbindungen in der Stadt von mehreren Seiten zu wagen. In jeder Generation nur ein Familienvater! Höchstens drei oder vier Söhne! Und davon dann bis auf einen alle geistlich. Vielleicht waren sie zu fromm. Oder zu individualistisch. Dann waren die divergierenden Kräfte in der Familie zu groß für gemeinsames Handeln. Fehlte es ihnen an Urteilskraft, um die eigenen Möglichkeiten und das städtische Umfeld richtig einzuschätzen?

Es hat einige tüchtige Männer unter den Merings gegeben: den Kaufmann und Bürger zu Köln Hendrich Merinck 1570 - 1631, den ersten Domherrn Dr. Henrich Mering von 1620 bis 1700, den Professor der Medizin Dr. Theodor Meringh 1631 bis 1689, den zweiten Domherrn Heinrich von Mering 1667 bis 1735. Und es gab einige ansehnliche Ehegatten für Meringstöchter: den Münzmeister des Westfälischen Kreises Philipp von Aldendorf um 1590, den Senator Tilman Hilden um 1610, den Oberkellner, das heißt den Finanzverwalter des Kurfürstlichen Hofes, Henrich von Hoen um 1643, den Gografen von Iburg Friedrich Wilhelm von Schorlemer um 1685. Trotzdem stehen die Merings in Köln immer am Rande. Dafür aber gibt es von Merings in Köln bis heute!

Die meisten der großen Kölner Familien sind ausgestorben, ob man sie nun zum Stadtadel zählt oder zu den bürgerlichen Honoratiorengeschlechtern. Wenn ich in den genealogischen Sammlungen von Oidtmann[7] oder von der Ketten[8] nach Verwandten meiner Vorfahren stöbere, dann sehe ich, wie alle die berühmten Namen längst der Vergangenheit angehören. Irgendwer war schließlich der letzte seines Stammes. Die Familiengeschichte dieser für die Entwicklung der Stadt so bedeutenden Kölner Sippen kann kein namentragender Nachfahre schreiben. Zum Aussterben von politischen Führungsschichten gibt es eine interessante Dissertation aus Zürich[9]. Der Autor, Michel Guisolan, neigt zu der These, dass Führungsschichten deswegen aussterben, weil der hohe Anspruch, den sie an sich selbst stellen, zuletzt Eheschließungen und legitime Fortpflanzung unmöglich macht. Das heißt, sie wollen oder können nicht absteigen - lieber sterben sie als Stiftsdame oder Hagestolz. Unter diesem Aspekt haben die Merings eins bewiesen: Lebenskraft. Als sie feststellen mussten, dass die Trauben der Kölner Oberschicht ihnen trotz aller Anstrengungen nicht zufielen, sagten sie sich: "Sie sind mir zu sauer!" und wichen nach unten aus. Friedrich Everhard von Mering, wie gesagt, heiratete eine Bauerntochter, sein Onkel Franz Caspar von Mering, unser Vorfahr, ein Mädchen von ganz unbekannter Herkunft. In Armut zogen sie Kinder auf. So hat der Name von Mering bis heute überdauert.


[1] Anna Sabina Mering oder Meyring, geb. ca 1660 in Fürstenau, gest. 1. 3. 1735 in Borgloh bei Osnabrück und der Gograf von Iburg, Johann Wilhelm von Schorlemer. Die beiden ließen zwischen 1686 und 1702 acht Kinder taufen.

[2] Italienisch-Deutsches Historisches Institut in Triest, 14. Studienwoche, Bologna 1984, deutsche Übersetzung der Aufsätze Berlin 1991

[3] Knut Schulz: Stadtadel und Bürgertum vornehmlich in oberdeutschen Städten im 15. Jahrhundert in: Stadtadel und Bürgertum in den italienischen und deutschen Städten des Spätmittlealters, hrsg. von Reinhard Elze und Gina Fasoli, Berlin 1991

[4] Frhr. F. E. von Mering, Geschichte der Burgen, Rittergüter, Abteien und Klöster in den Rheinlanden und den Provinzen Jülich, Cleve, Berg und Westphalen, Köln 1833 ff, Reprint 1988, Bd. 3, Heft7, S. 6

[5] Ebda, S. 7

[6] Ebda, Bd. 2, Heft 4, S.38

[7] Ernst von Oidtman und seine genealogisch-heraldische Sammlung in der Universitäts-Bibliothek zu Köln, hrsg. von Herbert M. Schleicher, Veröffentlichungen der Westdeutschen Gesellschaft für Familienkunde e.V.Köln 1996

[8] Die Genealogisch-heraldische Sammlung des Kanonikus Joh. Gabriel von der Ketten in Köln, hrsg. von Herbert M. Schleicher, Veröffentlichungen der Westdeutschen Gesellschaft für Familienkunde e.V., Köln 1985

[9] Michel Guisolan, Aspekte des Aussterbens in politischen Führungsschichten im 14. bis 18. Jahrhundert, Zürich 1981

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