Zuerst veröffentlicht in: EKKEHARD, Familien- und regionalgeschichtliche Forschungen, Hallische Familienforscher "EKKEHARD" e.V., Neue Folge 12 (2005), Heft 1
Ein Brief aus Bromberg vom 29. 4. 1912, geschrieben von Johanna Eberhardt, geb. Liebscher
(*30.7.1856 in Kobershain bei Torgau, † 26. 1. 1944 in Köln)
Am Abend des 29. April 1912, einem Montag, setzt sich meine Urgroßmutter Johanna Eberhardt in der Boiestr. 6II in Bromberg/Westpreußen (heute Bydgoszcz/Kujawsko-Pomorskie) an den Tisch zum Schein der Lampe und schreibt einen Brief.
"Meine lieben Kinder!", beginnt sie in ihrer säuberlichen runden Handschrift, "Deine Sonntagskarte, liebe Else, kam erst heute früh an und Claras war am 26. geschrieben, am 28. in Lindenthal aufgegeben und kam erst heute Abend an, wer mag die in der Tasche behalten haben!"
Sonntagskarten sollten am Sonntag ankommen. Elses Karte war, obwohl am Samstag, dem 27. April in Köln geschrieben, erst Montag früh, Claras Karte, obwohl vorsorglich schon am Freitag in Rodenkirchen bei Köln geschrieben, erst am Sonntag in Köln-Lindenthal abgestempelt und erst Montagabend in Bromberg ausgetragen worden. Skandal! Was ist nur mit der Post los – oder liegt’s an der Familie?
Die Ungeduld der Mutter ist groß. Seit ihrer Heirat im Jahr 1880 hat sie mit ihrem Mann Heinrich Eberhardt in Köln gewohnt, zuerst in Deutz, dann in Ehrenfeld. Dort hat sie ihre sieben Kinder aufgezogen und auch als diese erwachsen wurden, blieben alle in Köln beieinander. Man sah sich regelmäßig an den Sonntagen.
Das ist seit dem 1. Januar 1912 anders. Heinrich Eberhardt hat die Beförderung zum Hauptkassen-Rendanten von der Königlichen Eisenbahndirektion angenommen und willigte damit ein in die Versetzung von Köln nach Bromberg. Das war einmal quer durchs Deutsche Reich, Luftlinie ca. 800 Kilometer.
Die beiden jüngsten Töchter, Hanna und Hede, gehörten noch zum elterlichen Haushalt und zogen mit vom Rhein an die Brahe. Die älteren, schon selbständigen Kinder blieben in Köln zurück, ebenso wie der in der Ausbildung befindliche Sohn Rudolf. Tochter Trude hatte im Sommer 1911 geheiratet und folgte ihrem Mann, dem Betriebsingenieur Walter Wilhelm Schumann, nach Kattowitz in Oberschlesien. Von nun an gingen die "Sonntagskarten" hin und her. Morgens, mittags und abends wurde Post zugestellt.
Diese "Sonntagsbriefe" oder "-karten" enthalten nichts Aufregendes. Es ist das gleiche Geplauder, das sonst die nachmittäglichen Kaffeestunden gefüllt haben mag: wo man hinging, wer zu Besuch kam, wie es um die Gesundheit stand, was man eingekauft hatte oder einkaufen wollte, das Wetter. Keine Auseinandersetzung, keine Bekenntnisse, keine Politik, höchstens einmal Klagen über die Teuerung oder die Langsamkeit der Post. Man liebte sich, davon ging man aus. Alles, was einen persönlich betraf, war für die andern wichtig.
So ist auch der Anfang des Briefs vom 29. April 1912 gehalten. Die Adressaten, die "lieben Kinder", sind Clara und Else, die beiden ältesten Töchter von Johanna und Heinrich Eberhardt. Clara ist 1912 einunddreißig Jahre alt, seit fünf Jahren mit dem Bildhauer Carl von Mering verheiratet und Mutter zweier Kinder. Else ist neunundzwanzig Jahre alt, Lehrerin und unverheiratet.
Und so fährt meine Urgroßmutter fort:
"Bei uns geht es immer so weiter. Das Wetter ist trocken, aber etwas kalt und windig, ein warmer Regen wäre sehr wünschenswert. Gestern früh sind wir schon 1/2 7 nach den Schleusen gegangen. Haben dort Kaffee getrunken, Kuchen und Butterbrot mitgenommen, wir kamen erst gegen 12 nach Hause. Vom Mai ab sind dort von 6 Uhr an Conzerte, man huldigt hier sehr dem Frühaufstehen. Es muß aber erst wärmer werden, dass man im Freien Kaffee trinken kann.
Was habt Ihr denn angefangen? Morgens seid Ihr doch wohl durchs Geschäft gebunden. Nachmittags und Abends waren wir zu Hause. Heute abend sind die Mädchen in den lustigen Weibern auf der Galerie Stehplätze für 80 Pf. wie wird es ihnen gefallen. Donnerstag singt Claire Dux hier, da wollen sie auch wieder hin, Faust und Margarete. Morgen sind sie zum Geburtstagscaffee eingeladen, sie kommen durch den Tennisclub mehr unter die Leute. Ein Kleid oder Jacke habe ich noch nicht; es wird wohl diese Woche dran kommen. Mein Magen ist wieder ganz gut, ich habe einige Tage Umschläge gemacht u. nehme etwas Brom, da geht es wieder. Heute früh war ich auf dem Markt; es ist alles schrecklich teuer, bei dem kalten Wetter wächst nichts, das Fleisch wird auch teurer.
Wir weit seid Ihr denn mit Eurer Reinigung, hat der Mann was geschafft? Habt Ihr Euch mal die Ehrenfelder Baumblüte angesehen? Sie soll wieder so schön sein, hier blüht noch nichts."
Der letzte Satz klingt ein bisschen wie Heimweh nach dem milden Klima im Rheintal. Dabei ist Johanna Eberhardt nicht etwa gebürtige Kölnerin. Sie ist 1856 in Kobershain bei Torgau geboren und im Pfarrhaus von Oberröblingen am See ist sie von 1863 – 1880 aufgewachsen. Sie kennt also die zum Ortswechsel gehörige Umstellung und ist grundsätzlich bereit sich einzuleben, wie ihr Sonntagmorgen-Ausflug an die berühmten Schleusen von Bromberg zeigt. Die Erwähnung der Baumblüte in Köln-Ehrenfeld hat, wenn ich den Brief meiner Urgroßmutter richtig verstehe, weniger sentimentale Gründe als pädagogische. Gleich danach fährt sie nämlich fort: "Was giebt denn der Onkel an, macht er nicht mal einen Ausflug mit Euch?"
"Der Onkel" ist Otto Liebscher, der Bruder meiner Urgroßmutter, Amtsgerichtsrat in Köln und, soviel ich weiß, unverheiratet. Einen anderen leiblichen Onkel haben die jungen Frauen nicht, denn ihr Vater Heinrich Eberhardt ist einziger Sohn seiner Eltern und die beiden anderen Brüder ihrer Mutter sind schon verstorben. Dass es sich wirklich um Johannas Bruder handelt, geht aus dem folgenden hervor. Johanna fährt nämlich fort: "So viel ich weiß, stammt die Familie Nathusius aus Landsberg b./Halle." Mit seiner Familie also hat der Onkel "angegeben", und zwar nicht mit den Liebschers, deren Namen er trägt, sondern mit den Nathusius, dem mütterlichen Stamm. Und ganz offensichtlich hat er sich dabei so ins Zeug gelegt, dass seine Nichten jetzt von ihrer nüchternen Mutter wissen wollen, was es mit dieser Familie Nathusius auf sich hat. Und schon sind wir mitten in der Familienforschung.
Typisch für Johanna ist, dass sie zunächst einmal fragt, ob ihr Bruder Otto nicht einen Ausflug mit ihren Töchtern mache. Sie hält viel von guter Unterhaltung, das zeigt schon der erste Teil ihres Briefes. Langeweile bringt nutzlosen Streit. Und "Angabe" liegt ihr fern. Was sie dann an Kenntnissen über die Familie herausrückt, ist entsprechend realistisch und unaufgeblasen. Mir scheint, dass sie keinen Grund zum Stolz geben will, ebenso wenig aber einen Grund zur Scham. Ihren Bruder will sie schonend zurechtweisen, die Neugier der Töchter befriedigen, den Schwiegersohn nicht verärgern.
Denn es war vermutlich Claras Mann, der junge Bildhauer Carl von Mering, mein Großvater, der Otto Liebscher veranlasst hat, mit den Vorfahren Nathusius anzugeben. Carl hat den "Stammbaum des adeligen Geschlechtes derer von Mering" im Wohnzimmer hängen – aufgezeichnet nach den rheinischen Genealogen Adolf Fahne und Johann Gabriel von der Ketten. Das weiß ich von einem Foto seines Zimmers nach der Hochzeit 1907 – und ich fand als junges Mädchen diesen Stammbaum in dem Haus, das mein Großvater 1911 gebaut hatte. Natürlich enthält ein solcher Stammbaum nur die Glanzpunkte der Vergangenheit. Carl fühlt sich dank des Stammbaums als Erbe einer bedeutenden Familie, so wie er sich dank des Deutschen Kaiserreichs als Angehöriger einer auserwählten Nation empfindet. Aber er konnte das Haus in Rodenkirchen nur mit dem Kredit der Großmutter seiner Frau bauen. Das weiß ich aus den Katasterauszügen und aus der Erbauseinandersetzung nach dem Tod der alten Frau. Und die war eine geborene Nathusius. Umso wichtiger ist für des Bildhauers Selbstgefühl der Adel. Dadurch aber hat er den Onkel seiner Frau herausgefordert.
Johanna Eberhardt will Carl von Mering weder demütigen noch vor ihm zurückstecken.
Sie stellt in einfachen Aussagesätzen zusammen, was sie über die Familie Nathusius weiß:
"So viel ich weiß stammt die Familie Nathusius aus Landsberg b/Halle. Es müssen verschiedene Brüder gewesen sein. Die Generation, die ich gekannt habe, waren alle Vettern untereinander und haben wieder verschiedentlich Cousinen geheiratet."
Für einen Familienforscher klingt das ziemlich vage. Offenbar besitzt meine Urgroßmutter keinen Stammbaum, keinerlei Aufzeichnungen. Die Generation, die sie gekannt hat, während ihre Töchter sie nicht mehr kennen, ist die Generation ihrer Großeltern mütterlicherseits. Die waren untereinander Vettern und Kusinen, hießen alle Nathusius. Sie folgert, dass die Generation davor aus mehreren Brüdern bestanden haben muss und dass die Nathusius aus Landsberg bei Halle stammen. Familienforschung als Kontakt und Gedächtnis!
Heute treiben wir Genealogie mit ganz anderen Mitteln. Dr. Martin Nathusius, der in der Schweiz lebt, hat ein prächtiges Buch über die "Magdeburger Linie" der Familie Nathusius herausgegeben, mit Stammbäumen, Kurzbiographien und geschichtlichen Erzählungen. Darin klärt er, dass der Name ursprünglich slawisch war und Nätisch oder Natusch lautete. In Priebus/Niederschlesien (heute Przewóz) ist 1562 ein Stadtschreiber Hanns Nätisch erwähnt. Der Eintritt in den gelehrten Stand führte zur Latinisierung des Namens. Die Familie war sehr kinderreich und verbreitete sich in mehreren Linien. Einige davon wurden vom preußischen König geadelt. Bis heute gibt es Nathusius mit und ohne "von" in der Welt der Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst, wie ein Blick in das Internet lehrt. Ein Familienverband, 1895 gegründet und nach der Wiedervereinigung als eingetragener Verein erneuert, pflegt den Zusammenhalt durch Familientage. Auf die Angaben des Nathusius-Buches "Magdeburger Linie" stütze ich mich, wenn ich den Brief meiner Urgroßmutter auslege. Eigene Recherchen gebe ich gesondert an.
"So viel ich weiß, stammt die Familie Nathusius aus Landsberg b./Halle.", schreibt meine Urgroßmutter. Aber aus Landsberg stammte nur einer, allerdings ist das auch der, den sie am besten gekannt hat: ihr Großvater Gotthilf Wilhelm Nathusius, Diakon zu Kemberg und Pfarrer von Gommlo. Er ist am 23. Dezember 1799 in Landsberg geboren als Sohn des Friedrich Gottlieb Nathusius, Churfürstlich Sächsischen Geleits- und Land-Accis-Einnehmers in Landsberg und seiner Ehefrau Christjana Friederike Stechin. Den Ursprungsort des Großvaters für den Stammsitz der Familie zu halten, begegnet auch sonst bei mündlicher Familientradition. Ohne Quellenforschung kommt man nicht weiter zurück. Dass ein Steuer-Einnehmer in Landsberg ein dorthin versetzter Beamter ist und ziemlich sicher woanders geboren, das hat meine Urgroßmutter nicht im Blick. Recht hat sie dagegen mit der Vermutung: "Es müssen verschiedene Brüder gewesen sein."
Tatsächlich bestand die Generation ihrer Urgroßeltern Nathusius aus fünf Brüdern Nathusius, Kindern eines kurfürstlich-sächsischen Steuer-Einnehmers. Die Eltern, Heinrich Wilhelm Nathusius und Christiane Friederike Süßenbach, hatten am 9. Januar 1749 in Baruth geheiratet. In Baruth wurden alle fünf geboren und zwar in Armut, aber selbstbewusst erzogen. Zwei von ihnen wurden später durch die Heirat ihrer Kinder unsere Vorfahren.
Bei der folgenden Behauptung allerdings muss meine Urgroßmutter wieder raten:
"Ob der alte Herr (Bild) und unser Großvater Onkel und Neffe oder auch Vettern waren, weiß ich nicht, ich vermute das Letztere."
Damit irrt sie. Onkel und Neffe waren die beiden. "Der alte Herr", der sein schön lithographiertes "Bild" vielleicht seinem Neffen und seiner Nichte zu deren Hochzeit 1826 in Gommlo schenkte, ist Johann Gottlob Nathusius, der Gründer der Tabakmanufaktur in Magdeburg, der erfolgreichste der Brüder aus Baruth. Das Bild hing solang ich denken kann im Haus meiner Großeltern. 1912 hat es vielleicht in der Wohnung meiner Urgroßeltern gehangen. Heute hängt es in meinem Arbeitszimmer. Als Bruder des Land-Accis-Einnehmers in Landsberg ist Johann Gottlob ein Onkel des Pfarrers Nathusius, der "unser Großvater" genannt wird. Als Bruder des Bürgermeisters Nathusius von Kemberg ist er aber auch ein Onkel "unserer Großmutter". Das ist Johanna nicht klar. Beim folgenden allerdings ist sie sich sicher:
"Unsere Großmutter, Onkel Moritz aus M. (des Majors Vater) Tante Nanny in Wurzen (Hofrath N.), Tante Reschen in Kemberg verst. und ein als Student in Halle gestorbener Onkel Wilhelm waren alles Geschwister, Kinder des Bürgermeisters N. in Kemberg."
Und das stimmt. Es spricht für den Familiensinn der Nathusius, dass eine Enkelin die Geschwister ihrer Großmutter so am Schnürchen hat, obwohl sie diese Großmutter nicht kennen lernte. "Unsere Großmutter" ist die junge Bertha Florentina Nathusius, die am 3. 9. 1826 in Gommlo ihren Vetter, den Pfarrer Gotthilf Wilhelm Nathusius heiratete. Als Verlobter hat Gotthilf seiner Berta eine Auswahl seiner Predigten gewidmet. Das handgeschriebene Büchlein von 1825 beginnt mit dem Satz: "Schon immer habe ich den Wunsch gehegt, Dir, liebe Bertha, zur Feyer Deines Wiegenfestes etwas überreichen zu können, was die Frucht meines eigenen Fleißes, das Werk meiner eigenen Hand wäre." Dies "Werk" habe ich geerbt. Dass die junge Frau kurz nach der Geburt ihrer zweiten Tochter an Tuberkulose starb, hat Gotthilf anscheinend nie verwunden. Jedenfalls hat er nicht wieder geheiratet. Die beiden Töchter Berta und Clara zog seine Schwiegermutter auf.
"Onkel Moritz aus M. (des Majors Vater)" ist der Begründer der "Magdeburger Linie" der Nathusius-Familie. Als Bruder der früh verstorbenen Großmutter ist er ein Großonkel meiner Urgroßmutter gewesen. Sie hat ihn anscheinend persönlich gekannt. Mit eigner Hand hat er 1881 einen Glückwunsch an Johannas Mann Heinrich Eberhardt geschrieben zur Geburt der ersten Tochter, meiner Großmutter Clara, verbunden mit guten Wünschen für die Erholung der Wöchnerin und einer Nachfrage nach seiner Nichte, der "Schwiegermama" von Heinrich. Dass Onkel Moritz nicht als reicher Tabakfabrikant in Magdeburg sondern als "des Majors Vater" charakterisiert wird, ist typisch für Johanna. Es geht ihr nicht um Angabe, sondern um Familie! Die jungen Brief-Adressaten (bestimmt bekommt Carl von Mering den Brief vorgelesen!) kennen wahrscheinlich den Major persönlich. Es handelt sich um Hans Kurt Nathusius, der als Major seinen Abschied genommen hat und in Köln lebt. Er ist am 6. 1. 1857 in Magdeburg geboren und hat am 6. 2. 1907 – im gleichen Jahr wie Clara und Carl von Mering – in Köln geheiratet. Seine Frau ist die Tochter des Kölner Baumeisters und Architekten Christian Ludwig Heuser, den der Bildhauer Carl von Mering mindestens dem Namen nach kennen sollte. Dass Moritz auch andere Kinder hatte, bleibt, wohl weil sie weit entfernt leben, unerwähnt.
"Tante Nanny in Wurzen (Hofrath N.)" ist die älteste Tochter des Bürgermeisters von Kemberg. Ihr voller Name ist Augusta Ferdinanda. Sie ist am 6. 8. 1804 in Kemberg geboren und ist ebenfalls eine Cousine, die einen Vetter heiratete, nämlich Heinrich Johann Wilhelm Gottlob Nathusius, einen Sohn des Johann Adam Nathusius, des jüngsten Bruders aus Baruth. Tante Nanny hatte eine Menge Kinder, mindestens drei Söhne und zwei Töchter haben die Eltern überlebt. Dass in Klammern "Hofrath N." steht, bezieht sich sicher auf die "Angabe" Otto Liebschers, der den Hofrattitel erwähnt hat, um damit Carl von Mering zu imponieren. Nannys Mann ist tatsächlich Königlich Sächsischer Hofrat, Ritter des Fürstlich Reussischen Verdienstordens 2. Klasse und Gerichtsamtmann in Wurzen. Johanna fügt noch hinzu: "Die Nachkommen der Wurzener sind die Gerichtsherren in Dresden u. Breslau." Wahrscheinlich haben Else und Clara nach diesem Zusammenhang gefragt.
"Tante Reschen in Kemberg verst." bezieht sich auf eine unverheiratete Schwester von Johannas Großmutter. Ihr voller Name lautet Wilhelmina Theresia Nathusius. Sie ist am 26. 3. 1806 in Kemberg geboren und dort auch am 10. 7. 1874 verstorben. Schade, dass meine Urgroßmutter so sachlich ist! Nicht einmal, dass diese Großtante unverheiratet war, erwähnt sie, geschweige denn, dass sie über ihre Lebensweise irgendetwas anfügt.
"Ein als Student in Halle gestorbener Onkel Wilhelm" bildet den Schlusspunkt der Geschwisterreihe. Er hieß mit vollem Namen August Wilhelm Nathusius, war am 4. 12. 1817 in Kemberg geboren und studierte Theologie. Woran er schon am 4. 8. 1839 einundzwanzigjährig starb, weiß ich nicht, und meine Urgroßmutter lässt es dahingestellt. Die in der Familie häufige Tuberkulose könnte auch hier die Todesursache sein. Für Johanna Eberhardt mag es wie ein Archetypus wirken. Denn auch ihr Bruder Franz Liebscher, ein junger Kaufmann, starb 1884 in Halle mit erst zweiundzwanzig Jahren. Mich weht ein Schauer an. Ich weiß, was Johanna nicht wissen kann: Im gleichen Jugendalter wird 1914 meiner Urgroßmutter jüngerer, besonders geliebter Sohn Rudolf bei Sedan fallen. Das ist, während sie an diesem Brief schreibt, zeitlich schon so nah und liegt doch für sie noch vollkommen in der Zukunft verborgen.
Ganz unbefangen fährt meine Urgroßmutter fort, dass sie von dem Vater all dieser Kinder aus Kemberg nichts weiß.
"Von ihm habe ich eigentlich gar nichts gehört, die Mutter, wohl eine geborene Steche, hat unsere Mutter und die Tante Berta erzogen."
Auch ich weiß nicht viel über diesen Bürgermeister. Das Stadtarchiv von Kemberg ist erst seit dem Jahr 2000 in die Stadt zurückgekehrt. Seither bin ich noch nicht wieder dort gewesen. Herr Günter Böhme, der ehrenamtliche Stadtarchivar, hat mir freundlicherweise eine Bürgermeisterliste kopiert. Darin steht, dass Friedrich August Nathusius von 1806 bis 1826 Bürgermeister von Kemberg gewesen sei. Nach dem Gerichts-Handelsbuch, in dem ich in Wernigerode in der Außenstelle des Landeshauptarchivs Magdeburg las, ist er nicht jedes dieser Jahre regierender Bürgermeister gewesen, aber immer wieder, im Wechsel mit dem Bürgermeister Sternberg. Bei seiner ersten Erwähnung 1802 ist er "Kurfürstlich- Sächsischer General- und LandAccis auch Beygleits Einnehmer" in Kemberg, 1803 ist er Stadtrichter und 1807 zum ersten Mal Bürgermeister. Wichtig für seine Karriere ist sicher, dass 1803 Christiana Wilhelmina Hillebrand, die Tochter eines eingesessenen Kaufmanns und Ratsherrn, seine Frau wurde. Sie ist die Mutter all der Bürgermeisterkinder, auch von unserer Vorfahrin, der Pfarrersfrau Berta Florentina Nathusius. Und sie hat nach dem Tod dieser Tochter deren Kinder aufgezogen. Das waren "die Tante Berta" und "unsere Mutter", die Mutter von Otto und Johanna Liebscher, verheiratete Eberhardt.
Diese "unsere Mutter", wie Johanna sie nennt, haben die Enkelinnen Clara und Else von Kindesbeinen an gekannt. Sie ist erst ein halbes Jahr, bevor dieser Brief geschrieben wird, am 28. 10. 1911, in Köln hoch betagt gestorben: Clara Auguste Marie Liebscher, geb. Nathusius. Auf ihrer Todesanzeige steht: Frau Pastor Clara Liebscher. Auch Carl von Mering kannte diese Großmutter seiner Frau. Sie hatte ihm 5500 Mark zum Hausbau geliehen. Sie führte als Pfarrerswitwe aus Sachsen einen Kolonialwarenladen im Kümpchenshof in Köln. Zu einer tatkräftigen Kauffrau war sie von ihrer Großmutter Christiana Wilhelmina Nathusius in Kemberg erzogen worden und hinterließ ihrer Familie 100 000 Mark.
Trotzdem ist ein Fehler in diesem Satz der Johanna Eberhardt: "die Mutter, wohl eine geborene Steche, hat unsere Mutter und die Tante Berta erzogen." Eine geborene Steche war die Kembergerin nicht, das war vielmehr die Frau aus Landsberg, Christjana Friederika Nathusius, die Mutter des Pfarrers von Gommlo. Die Inflation des Namens Nathusius führt manchmal zu Verwechslungen! Die Frau des Bürgermeisters, die nach all den eignen Kindern auch noch zwei Enkelkinder aufgezogen hat, ist eine geborene Hillebrand. Sie war 1830 beim Tod ihrer Tochter erst dreiundfünfzig Jahre alt und schon seit drei Jahren verwitwet. Sie hat die Mutterstelle bei den Enkeltöchtern vertreten. Beide Mädchen sind erwachsen geworden.
Meine Urgroßmutter fährt in ihrem Brief fort: "Die Mutter vom Großvater ist auch bei ihm in K. gestorben, sie scheint keine recht gebildete nette Frau gewesen zu sein, da die jungen Mädchen gar nichts für sie übrig hatten."
Gerade weil Johanna sonst so sparsam ist mit Wertungen, denke ich über diese Bemerkung nach. Vielleicht war die Vatersmutter wirklich ungebildeter als die Muttersmutter aus Kemberg. Warum aber war sie auch weniger "nett"? Das ist doch nicht dasselbe.
Christjana Friederika Stechin war als Tochter des Steuereinnehmers in Landsberg geboren. Später soll ihr Vater in Gollma bei Halle als Steuereinnehmer und Stadtschreiber gearbeitet haben. Gollma war ein Landstädtchen, die Bildungsmöglichkeiten für ein Mädchen mögen gering gewesen sein. Kemberg dagegen war am Ende des 18. Jahrhunderts eine lebhafte Handelsstadt. "Die günstige Lage an der großen Heerstraße, die von Leipzig nach Berlin führte, war … für Kemberg in Friedenszeiten mit großen wirtschaftlichen Vorteilen verknüpft." Schon im 16. Jahrhundert hatte es dort eine "iungfrauenschule" gegeben. Vielleicht auch konnte eine Hillebrand vom Privatunterricht ihrer vier Brüder profitieren. Der Vater war Kaufmann und Ratsherr, ihre Mutter eine geborene Simon. Beide Familien haben in der Vergangenheit immer wieder Ratsherren, auch Bürgermeister gestellt. So sind 1803 die Vettern Johann Gottfried Simon und Johann Gottlob Hillebrand "Senatoren" der Stadt Kemberg. Der häusliche Rahmen war wohlhabend und anregend, die Heirat mit dem ortsfremden, sehr viel älteren Friedrich August Nathusius hatte Wilhelminas Horizont erweitert, sie fühlte sich sicher und geachtet in ihrer Heimat, während die geborene Steche erst als alte verwitwete Frau fremd zu ihrem Sohn zog. Doch das Wichtigste wird sein: Wilhelmina war die Pflegemutter von Clara und Berta gewesen, die Mädchen liebten sie. Dagegen hatte die andere Großmutter keine Chance.
Ich bedaure sehr, dass dieser interessante Brief hier abbricht, weil der Bogen voll geschrieben war und der nächste Bogen verloren ging. Ich hätte gern noch gewusst, mit welcher Wendung meine Urgroßmutter Johanna Eberhardt ihre Familienforschung abschloss. Sie war 1912 so alt wie ich 1994 war, als ich begann, mich der Geschichte meiner Vorfahren zuzuwenden – sechsundfünfzig Jahre. Sie war Großmutter von Clara und Eberhard von Mering und von Edith und Otto Eberhardt. Die Frau, die eine geborene Nathusius gewesen war und so oft von Kemberg erzählt hatte, "unsere Mutter", war vor einem halben Jahr gestorben. Johanna hatte sich nicht übermäßig für Genealogie interessiert, das merkt man an ihrer kühlen Aufzählung und ihren lässigen Fehlern. Trotzdem ist sie in dem Alter, wo das Leben anfängt, Geschichte zu werden. Sie bleibt nicht unberührt von den Fakten, während sie sich bemüht, die Anfrage von Clara und Else zu beantworten. Ja, ich wüsste gern, mit welcher Wendung sie zum Schluss ihren Töchtern ihre Kenntnisse anempfohlen hat.