Drei meiner Vorfahrinnen sind Saarlouiserinnen gewesen, Großmutter, Mutter und Tochter. Alle drei haben den bemerkenswerten, Franzosen und Deutsche gleichermaßen verwirrenden Saarlouiser Dialekt gesprochen. Zumindest die erste war Lothringerin. Was bedeutet: sie gehörte einem Volk an, das keinen eigenen Staat besaß.
Die jüngste dieser drei Frauen, die Tochter, ist die arme und brave Catherine Henry. Brav gebrauche ich hier, wie sie es gebraucht hätte: für "tapfer". Sie hat dem Franz Joseph Mering geholfen, ein solider Familienvater zu werden, dessen sich seine Nachkommen nicht zu schämen haben. Sonst, im Sinne von "angepaßt", galten die Saarlouiserinnen keineswegs als brav. Und da will ich mich auch bei Catherine Henry nicht verbürgen.
Von ihrem Sohn Peter Josef, meinem Urgroßvater, ist überliefert, dass Franz Joseph, sein Vater, erst kurz vor der Heirat erfahren habe, dass seine Frau nicht Ploteng hieß, sondern Henry. Sie sei nämlich "in frühester Jugend verwaist" und deshalb bei einer "nahen Verwandten namens Ploteng" aufgezogen worden. Diese "nahe Verwandte" ist Catherines Großmutter, die Saarlouiserin Catherine Barbe, verheiratete Blandin. Vielleicht hat sie selbst Blandin wie Ploteng ausgesprochen! Zuzutrauen wäre es ihr. Sie ist die typischste Saarlouiserin, die echteste. Und sie hat einen bewegten Teil der Saarlouiser Geschichte miterlebt.
Als Catherine Barbe 1756 oder 1757 nach Saarlouis kommt, ist sie vier oder fünf Jahre alt. Wahrscheinlich kann sie sich später noch gut an das lothringische Dorf ihrer Kleinkinderzeit, an Obervise, wo sie geboren ist, erinnern: an die Bauernhäuser mit ihren großen Torbögen aus Naturstein, an die Großeltern mütterlicherseits, die Becker hießen, und an die Cousins und Cousinen ihres Vaters, die Albrechts. Dort wurde lothringisch gesprochen, nach dem Brockhaus "eine ostfranzösische Mundart mit germanischem und deutschem Wortgut". Vielleicht erinnert sie sich sogar an das Großelternhaus väterlicherseits, die Schule in Boucheporn, wo der Großvater Dominique Barbe Hauptlehrer war, "regent d'école" nach dem Kirchenbuch. Auch in Boucheporn sprach man mit dem Kind lothringisch, aber das Kirchenbuch wurde französisch geführt und der Großvater unterrichtete in der Schule die französische Sprache. Das Lothringische war keine Schriftsprache, vielleicht hat deshalb Catherine Barbe nicht schreiben gelernt. Kirchlich gehörte man zu den "trois évêché" Metz, Toulon und Verdun, die dem Erzbistum Trier unterstanden. Politisch war der aus seinem Land vertriebene König von Polen Herrscher über Lothringen in diesen 50er Jahren des 18. Jahrhunderts. Doch war er es ungern und ohne Einsatz.
Catherines Vater war "soldat au bataillon milicien de Metz". "Soldat des Milizbataillons von Metz" müßte man heute vielleicht mit "Polizist" übersetzen. Als Lehrerssohn hatte er schreiben gelernt, was in Boucheporn noch eine seltene Kunst war. Beim Bataillon war er wohl in der Schreibstube beschäftigt und als Schreiber wird er auch nach Saarlouis versetzt worden sein. Seit 1758 lebt Jean Pierre Barbe mit seiner Familie in Saarlouis. Dort bringt er es zum Korporal. Wann er seinen Abschied nimmt, weiß ich nicht. Jedenfalls ist er 1773 kein "soldat" mehr, sondern "Bourgeois" in Saarlouis.
Um diese Zeit geht es Saarlouis nicht gut. Die Borromäerin M. Clara Moll, Heimatforscherin um 1930, beschreibt anschaulich die Vernachlässigung der Stadt durch die Pariser Regierung. Als Ludwig der XIV. durch den begabten Vauban 1680 Saarlouis aus dem Boden der feuchten Saarauen stampfen ließ, als er die Einwohner von Wallerfangen, dem lothringischen Landstädtchen, zwang, ihre Häuser zu zerstören und in die neue Festungsstadt umzuziehen, als er von allen Seiten - und meist von der deutschen - landlose Leute als Neubürger nach Saarlouis lockte, da gab es auch Fördergelder und viele Versprechen für die Zukunft. Aber schon 1697 war das vorbei. Ludwig wurde, vor allem vom mächtigen England, gezwungen, auf seine Ansprüche auf Lothringen zu verzichten. Das Umland, dessen Hauptstadt und Festung Saarlouis hatte sein sollen, wurde der französischen Krone entzogen. Saarlouis wurde eine Exklave, umgeben von einem zunächst Österreich, seit 1735 einem exzentrischen Polen gehörenden Lothringen. Die vornehmen und wohlhabenden Familien verließen es. Das arme Volk und eine kleine Garnison blieben.
Wahrscheinlich war es um 1750 der Tod des Stanislaus Leszinski, auf den die Saarlouiser hinlebten. 1766 trat der ein. Ludwig der XV. von Frankreich erbte Lothringen. Die Festung Saarlouis hatte wieder ein Hinterland, Zeit und Gelegenheit für Entwicklung. Aber es war zu spät. Das Königtum in Frankreich hatte ausgespielt. Der Staat war bankrott. Für seine Grenzbezirke gab es nichts zu hoffen.
Die Familie Barbe gehört zu den kleinen Leuten, die Saarlouis nicht verlassen können. Der abgedankte Soldat Jean Pierre betreibt vielleicht inzwischen eine kleine Gastwirtschaft. Catherine ist 1766 14 Jahre alt. Was mag sie von der Zukunft erwarten? Noch bevor sie 20 Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter Catherine, geb. Becker. Als älteste Tochter muß sie für den Vater und die jüngeren Geschwister den Haushalt übernehmen, eventuell ist sie schon damals die Gastwirtin. War sie ein leichtes Blut? Hat sie sich kopflos verliebt? Wurde ihr Gewalt angetan von einem der Soldaten der Garnison? Am 3. 3. 1773 wird ihre kleine Tochter geboren und auch gleich getauft, Marguerite, "fille naturelle". Der Name des Vaters bleibt im Dunkel. Kennt sie ihn nicht? Deckt sie ihn? Paten sind Sebastian Kieffer und Marguerite Renard. Beide Familiennamen gehören nach Boucheporn, zur weiteren Verwandtschaft der Barbes dort.
Catherine ist erst 21 Jahre alt, als sie Mutter wird. Und sie heiratet auch in den nächsten Jahren nicht, jedenfalls nicht in Saarlouis. Und die kleine Marguerite stirbt auch nicht dort. Allerdings gibt es später keine Marguerite Barbe in Saarlouis.
Erst 1785 taucht Catherine Barbe erneut in Saarlouis auf. Da ist sie wieder Mutter eines Täuflings. Diesmal ist es ein Sohn, Jean Pierre genannt nach ihrem Vater, und ein "fils legitime". Catherines Mann heißt Jacque Norbert Blandin. Später schreibt man, er sei aus Mähren, aber geboren in Paris. Blandin ist ein guter Saarlouiser Name. Aber wie Jacque Norbert mit der alten Beamtenfamilie Blandin verwandt ist, habe ich nicht klären können. Das Paar bringt ein kleines Mädchen nach Saarlouis mit, Françoise Josephe Blandin, die in Kremsier/Mähren am 27. 8. 1782 geboren worden sein soll. Die wächst nun wieder als Saarlouiserin auf, die zweite in meiner Ahnenreihe.
Ob Françoise Josephe sich später erinnern kann an die kleine mährische Stadt ihrer Kindheit - oder wenigstens an die endlose Reise von dort nach Saarlouis? Ob sie von der Existenz ihrer älteren Schwester Marguerite etwas weiß? Ist Jacque Norbert Blandin schon der Vater dieses ersten Kindes der Catherine Barbe gewesen, war er, wie man vermutet hat, Soldat im régiment d'Alsace? Ist Catherine ihm gegen den Willen ihrer Verwandten 1777 gefolgt ins ferne Moravien? Oder war dazwischen noch ein anderer Mann, dem zu Liebe Catherine Saarlouis verließ?
Fast 12 Jahre fehlen mir im Leben der Catherine Barbe, verheiratete Blandin, die Zeit zwischen ihrem 21. und ihrem 33. Lebensjahr. Was mag sie alles erlebt haben! Aber dann kommt sie und bleibt in Saarlouis, trotz Revolution, trotz Armut, trotz Gefahr in den Koalitions- und Napoleonischen Kriegen, trotz der Übergabe der Festung an die Preußen 1815, trotz des Abzugs der Franzosen und Einzugs der deutschen Soldaten. Bis zu ihrem 42. Lebensjahr gebiert sie noch Kinder, ein Zeichen von guter Gesundheit, und dann lebt sie noch lange, lange genug jedenfalls, um auch noch die Enkelinnen zu erziehen, die sie als "nahe Verwandte" nach dem Tod ihrer Tochter Françoise Josephe bei sich aufnimmt. Catherine Barbe stirbt 1830 im preußischen Saarlouis als 78-jährige Frau. Zwei Urenkel namens Mering sieht sie noch, Mathias und Heinrich. Und hat sicher versucht, mit ihnen in der heute so liebevoll gepflegten Saarlouiser Mundart zu "schwätze".
Noch weniger als von ihr weiß ich von ihrer Tochter Françoise Josephe. Wenn ich auch nach Kromìøiž an der Morava oder Marche führe, würde ich ihrer Kindheit kaum näher kommen. Sie muß dort eine Fremde gewesen sein. Ihre Eltern waren vielleicht nur auf der Durchreise. Oder sie dienten in einem adligen Hause. Oder sie machten einen mißglückten Auswanderungsversuch.
Dagegen kann man sich die Jugend der Françoise Josephe in Saarlouis in den Jahren von 1785 bis 1802 gut vorstellen: Sie ist einerseits gezeichnet durch die vielen Versuche des Vaters, im armen Saarlouis Geld zu verdienen: 1785: manoeuvre (Handarbeiter), 1789: charretier (Fuhrmann), 1792: journalier (Tagelöhner), 1794: sergeant de la Garde National (Unteroffizier der Nationalgarde), 1802: cabaretier (Schankwirt). Andrerseits wird ihre Jugend bestimmt durch die allgemeine verzweifelte Lage der Stadt, die sich, seit langem enttäuscht vom König in Paris, dem Taumel der Revolution in die Arme wirft. Das bedeutet Desertion der meist adligen Offiziere, Durchzug von Emigranten, Aufläufe, Schießereien zwischen den beiden in Saarlouis stationierten Regimentern, Lebensmittelverteilung durch die Munizipalität, Verfolgung von Konterrevolutionären, heimliche Besuche von im Untergrund lebenden Priestern, Hinrichtung von 9 Saarlouiser Bürgern durch die Guillotine, strenge Aufrufe zur Aufrechterhaltung der Ordnung, Furcht vor Verleumdung und dauernde Angst vor Belagerung. Wie die Fronten für dieses Mädchen verliefen, weiß man nicht. Ob ihr junges Herz dem Consul Bonaparte als Hoffnungsträger entgegenschlug? Oder war sie überzeugte Republikanerin? Ob sie "lothringisch" dachte - weil sie die Franzosen und die Deutschen gleich fürchten gelernt hatte? Mir ist vorstellbar, daß man in solchen Ungewittern der Politik ganz radikal - aber mir ist auch vorstellbar, daß man ganz indifferent wird. Das heißt, Françoise Josephe Blandin, die die Bindung an Obervise und Bouchporn, an das echte Lothringer Land ja nicht mehr gehabt haben kann, die Städterin war und in überhitzten Zeiten mit sehr viel "Politik" aufwuchs, diese noch sehr junge Frau mit der täglichen Sorge ums Brot und um das, was man anzieht, und ob man sich heute aus dem Haus trauen darf oder nicht, könnte es auch aufgegeben haben, nachzudenken. Sie könnte nur noch ans Heute gedacht und von der Hand in den Mund gelebt haben. Es ist verständlich, wenn die Saarlouiserin ganz allgemein als leichtlebig galt.
Sie heiratet früh, mit zwanzig Jahren, den Lothringer Pierre Henry, dessen Taufeintrag, so genau angegeben in der Trauurkunde, ich im angegebenen Kirchenbuch nicht habe finden können. Pierre ist natürlich Soldat, au service de général Daultanne, stationiert in Saarlouis. Sein General schließt sich Napoleon an, Pierre Henry steigt auf, zieht mit nach Jena und Auerstedt, besiegt die Preußen. Die schwangere Françoise Josephe folgt ihrem Mann bis Mainz. Bei der Geburt ihrer ersten Tochter in Mainz ist Pierre Henry "officier du Génie". Natürlich ist er nicht da, "abwesend", denn sein Kriegsherr Napoleon kämpft und verhandelt in Polen. Wo Françoise Josephe dann lebt, ist mir unbekannt. Vielleicht hat sie weiterhin versucht, ihrem Mann nachzureisen. Auch aus ihrem Leben fehlen mir 10 Jahre. Offenbar ist sie nie nach Saarlouis zurückgekehrt. Wo sie 1810 ihre zweite Tochter Gertraud geboren hat, bleibt dunkel. Irgendwann muß sie nach Frankreich übersiedelt sein, wahrscheinlich 1815, als Napoleon besiegt war und der Chef ihres Mannes, Daultanne, aus Spanien nach Frankreich zurückkehrte. Jedenfalls hat sie bei ihrem frühen Tode, am 27. Februar 1818, eine Mietwohnung in Meung-sur-Loire, in der Rue de Cordelliers, die es heute noch gibt. Ob sie dort bei entfernten Verwandten Zuflucht gefunden hatte? Interessanterweise gibt es in Meung eine Schneidersfamilie Blandin. Aber Françoise Josephe wohnt nicht in deren Hause, und nicht sie zeigen dem Standesbeamten ihren Tod an, sondern der Vermieter Pierre Nicolas Boulair, ein Dreher, und der Nachbar Louis Salvaire Caillard, ein Perückenmacher. Ihr Mann ist wieder "abwesend", immer noch im Dienst des General Daultanne, der auch als Pensionär Leute beschäftigen kann. Ob ihre beiden kleinen Töchter von 11 und 8 Jahren sich bei der Sterbenden befinden, geht aus dem Eintrag ins Civilregister nicht hervor. Spätestens seit 1818 leben die beiden Mädchen, meine Vorfahrin Catherine und ihre Schwester Gertraude, bei ihrer Großmutter Catherine Blandin in Saarlouis. Dadurch sind auch sie Saarlouiserinnen geworden.
Ob der Vater aus Frankreich Geld schickt? Es sieht eher so aus, als müßten die Schwestern selbst für ihren Unterhalt sorgen. Wahrscheinlich helfen sie schon als Halbwüchsige in der Gastwirtschaft der Großeltern. Die Kundschaft besteht nun nicht mehr aus französischen, sondern aus preußischen Soldaten. Später ist Catherine "Nätherin", das heißt, sie flickt Uniformen.
1820 kommt das 29. Infanterie-Regiment, genannt "das 3. Rheinische", das spätere Regiment von Horn, nach Saarlouis. Ein 17jähriger Rheinländer, ein mittelloser Junge, Waise, frisch vom Armenhaus in Frankenthal zu den Soldaten entlaufen, könnte von Anfang an dabei gewesen sein. Er heißt Franz Joseph Mering. Und bläst die Oboe. Irgendwann in Saarlouis, zwischen 1820 und 1828, sind Catherine und Franz einander begegnet.