Über einen Menschen zu schreiben, den man geliebt hat, erfordert eigentlich einen Dichter. Deswegen fühle ich mich besonders unzulänglich, wenn es um die Biographie meiner Großmutter Edith Behn geht.
Lange habe ich vermieden, über die Generationen zu schreiben, die ich noch persönlich kannte. Irgendwie hoffte ich immer, die Erfahrung mit den Biographien früherer Vorfahren würde mich dazu stählen. Darum habe ich mit denen begonnen, denen ich distanzierter gegenüber stand. Aber die Zeit verrinnt. Schon beginne ich zu fürchten, dass am Ende ausgerechnet meine Großmutter Edith im Reigen meiner Vorfahrengeschichten fehlen werde.
Erst nach dem Jahr 2000 habe ich ganz unvermutet aus dem Nachlass meiner Tante Ursula Höpken Ediths „Familienplaudereien“ erhalten. Diese beiden Hefte sind ein starkes Selbstzeugnis. Und nun besitze ich auch eine ganze Reihe Fotos, aus den verschiedensten Familienquellen. Und Briefe an ihren Schwiegersohn Eberhard von Mering und an mich.
Gelebt hat sie vom 18. Januar 1884 bis zum 22. Dezember 1972. Geboren ist sie in Berlin, kam schon in der Kindheit und Jugend mit dem Vater, dem Pionieroffizier im Deutschen Kaiserreich Hermann Behn, über Stettin, Thorn, Köln, Deutz, Glogau, Neiße nach Metz, wo sie sich 1906 verlobte. Mit ihrem Mann Paul Liebert, wieder einem Pionieroffizier, kam sie über Metz, Berlin, Posen, Glogau, Küstrin, Friedland in Schlesien, Alt-Reichenau, Berlin, Neiße nach Marburg an der Lahn. Nach dem Tod meines Großvaters 1948 zog sie zu ihren Töchtern Ruth und Ursula ins Südoldenburger Land, zuerst ins Dorf Varenesch, dann ins Dorf Goldenstedt, dann nach Oldenburg in Oldenburg. Dort ist sie 1972 gestorben und begraben.
Ihre Kindheit habe ich jetzt in die Geschichte ihres Vaters eingefügt. Hier beginne ich später.
Dies Foto ist von 1915, zum 22. August gedacht, Pauls Geburtstag. Der Vater der Kinder ist an der Front, in einem Führungsquartier, dem des Kronprinzen. Edith ist 31 Jahre alt und wie ihr Vater neigt sie zum Übergewicht. Ihr Vater hat dagegen gekämpft, wegen der Uniformen und wegen der armen Oldenburger Pferde, die ihn tragen mussten. Sie kämpft dagegen, weil sie neben ihrem schlanken und zierlichen Mann leicht riesig wirkte.
Dies Foto ist 1919 datiert, Edith Liebert, geb. Behn, ist 35 Jahre alt, also nur wenig über die berühmten 33 Jahre, die angeblich unsere Auferstehungsschönheit zeigen.
1919! Der 1. Weltkrieg ist verloren, das Vermögen zum großen Teil weg, ihr Mann, der kaiserliche Offizier, ist gerade mit Mühe den Revolutionären in Hamburg entkommen, nun mit Abwicklungsstellen in den Grenzfestungen des Reichs beschäftigt, ihre Kinder sind 9 und 4 Jahre alt. Die eigenen Möbel hat sie mit Mut und Energie aus dem schon von den Polen in Besitz genommenen Posen nach Schlesien entführt und bei Verwandten ihres Mannes gelagert. Sie leben bei den kurzfristigen Aufenthalten in Glogau und Küstrin in möblierten Wohnungen.
Wie schaut sie? Sehr beherrscht, finde ich. So habe ich sie auch kennengelernt. Im Gegensatz zu meiner sehr lebhaften und temperamentvollen Mutter war die Großmutter ruhig und gelassen. „Man muss auch mal „M“ sagen können,“ war eine ihrer Lehren. Sie schaut ernst – aber ich habe sie heiter in Erinnerung. Allerdings soll sie nachher gesagt haben, unsere Kinderzeit in Varenesch und Goldenstedt (da war sie 64 bis 73 Jahre alt) sei eine der schönsten Zeiten ihres Lebens gewesen. Vielleicht war sie die geborene Großmutter! Sie war nicht wild auf Verantwortung, sie war nicht ehrgeizig, sie konnte sich relativ leicht in die Pläne anderer fügen. Aber sie genoss das Zusammensein mit uns, ihren Enkeln, die schöne Natur des Huntetales, die Freundschaft ihrer Kinder Ruth, Ursula und Heiner. Sie half, wo sie konnte, erinnere ich mich, aber sie leugnete nicht ihre rheumatischen Hände und Beine. Ich sehe ihr nicht ähnlich, aber ich habe einiges von ihr.
Dies Bild zeigt meine Großmutter als verantwortliche Ehefrau und Mutter. Es ist 1929, sie ist 45. Sie führt den Haushalt in Neiße in der Luisenstraße 2 und sie erzieht zwei Töchter, die sehr ehrgeizige, gesunde und heftige Ruth und die oft kranke zurückhaltende Ulli. Beide Mädchen besuchen die Höhere Töchterschule. Das Geld ist knapp, denn der erst 60jährige Vater ist seit 9 Jahren Rentner. Er wird Herr Oberstleutnant genannt – aber das ist nur ein Titel, kein Gehalt. Die Miete, das Licht, die Heizung, das Schulgeld, standesgemäße Kleidung, gesunde Ernährung – das muss akribisch ausgerechnet werden. Sie näht für die Mädchen und sich alles selbst, kocht selbst, sie hat zwar ein Hausmädchen, aber immer ein ganz junges, das mehr oder weniger bei ihr in der Lehre ist. Ganz offensichtlich hat sie sich nicht beklagt. Das sieht man vor allem daran, dass auch ihre Töchter später nie geklagt haben, obwohl doch vor allem meine Mutter viel Grund dazu hatte. Aber klagen war bei uns nicht üblich. Es galt, die guten Seiten des Lebens herauszufinden.
Darum bemühte sich die ganze Familie, auch der Vater. Gäste wurden nicht eingeladen, deswegen durften die Mädchen auch keine Einladungen annehmen. Was man nicht erwidern kann, nimmt man nicht an! Aber in der Wohnung wurden familiäre Feste feierlich begangen, mit Überraschungen, Gedichten, Liedern, kleinen Geschenken und Pantomimen (was Ulli gar nicht schätzte!) Und auch die Ausflüge und Besichtigungen wurden sorgfältig geplant und mit Einkehr in Cafés oder Landgasthöfen gekrönt.
Ein besonderes Highlight waren die Ferien bei Pauls Schwester Meta Spohn, geb. Liebert im schönen Friedland in Niederschlesien. Ihr Mann hatte nach der Weltwirtschaftskrise eine Weberei erwerben können. Dies Bild ist vermutlich von 1934, meine strahlende Großmutter 50 Jahre alt. Sie sitzt neben ihrem Mann Paul, gegenüber sitzt Meta, die seit 1930 Witwe ist, mit dem Betriebsdirektor der Weberei, links neben ihr die hübschen Töchter von Edith und Paul und vorne links Metas Sohn Dieter.
Die ältere der Töchter, meine Mutter Ruth, ist da schon verlobt. Während Paul sich sehr schwer tut, seine Töchter wegzugeben, ist Edith eine bezaubernde Schwiegermutter. Angeblich hat sie mit Scheidung gedroht, wenn ihr Mann seinen Töchtern die Verbindung zu einem Mann nicht erlaube. Sie genießt es, dass die jungen Männer, zuerst mein Vater Eberhard von Mering, wenig später mein Onkel Heiner Höpken, ins Haus kommen, ihre Probleme und ihre Lebenslust mitbringen und neben den Mädchen auch die Mutter erheitern. Natürlich ist sie darauf bedacht, dass alles ehrbar zugeht, aber dass die Mädchen ausgehen können, liegt ihr sehr am Herzen. Sie näht ihnen Tanzkleider und Kostüme, sie gönnt ihnen „Jugendfreuden“. Und sie pflegt den Briefwechsel mit ihren Schwiegersöhnen. Von meinem Vater sind zärtliche Briefe an diese „Mutter Nr. II“ erhalten.
Auch politisch folgt sie der Spur ihrer Kinder. Mit Ruth besucht sie die Predigten des Pfarrers Gellert, der der Bekennenden Kirche angehört. Ihr Mitgliedsausweis der BK ist erhalten, mit einer niedrigen Nummer. Sie tritt nicht in die NSDAP ein. Meine Mutter machte sich später darüber lustig, dass ihre Mutter immer noch monarchistisch denke und das Kaiserhaus verehre. Möglich, dass diese Haltung sie gegen Hitlers Künste immunisierte. Auch ihre romantischen Neigungen hielten sie sicher von allem Martialischen und Forschen fern.
Ihre Familienplaudereien von 1943 (da ist sie 59 Jahre alt) müssen nicht „gereinigt“ werden. Die „Zeit“ wird als schwer und ärmlich beschrieben, das Niederschreiben von Erinnerungen soll dem Trost und der Ablenkung dienen. „Ich sehe doch,“ schreibt sie, „daß es nicht leicht ist Chronist zu sein. Mein Füllfederhalter quält, das Papier ist scheußlich – mein Mann erjagte dies Büchlein als Seltenheit im Kriege – Aufzeichnungen ins Unreine kann ich des Papiermangels halber auch nicht machen – so stolpere ich so darauf los – als trauriger Ritter vom Stegreif. Meine geliebten Stahlfedern bekomme ich auch nicht und mein Halter jagt mich besinnungslos, sonst klext er.“ Aber sie gibt nicht auf. Daran kann ich mir ein Beispiel nehmen.
Jedes Jahr reisen die Großeltern Liebert zu ihren Töchtern – einmal ins Pfarrhaus Heusweiler an der Saar, einmal ins Pfarrhaus Goldenstedt im Südoldenburger Land. Im September 1944 erleben sie mit, wie der Bote die Nachricht vom Tod ihres Schwiegersohns von Mering bringt. Im Dezember sind wir Verwaisten mit unserer Mutter zu den Großeltern nach Marburg gekommen.
Aus diesen Zeiten gibt es keine Fotos.
Wir leben bei den Großeltern in der Vier-Zimmer-Wohnung An der Schäferbuche 11, bis die Bomben ins Nachbarhaus einschlagen und auch unser Haus schwer beschädigen. Wir laufen noch am Spätabend durch den Wald ins Dorf Allna auf einen Bauernhof, wohin die Behörden die Kinderfamilie schon evakuiert haben. Großmutter und Großvater bleiben im Haus in Marburg. Aber sie besucht uns manchmal, um eine Nacht ruhig zu schlafen. So erleben wir gemeinsam endlich die Kapitulation. Und Ende Juli reist unsere Mutter mit uns zurück nach Heusweiler, um ihre Möbel zu retten und über unser weiteres Leben zu beschließen.
Ihre Beschlüsse führen zu einer für unsere Großmutter glücklichen Lösung. Ihre Töchter Ruth und Ursula sind nach 9 Jahren wieder vereint. Ruth will ihre drei Kinder mit Hilfe ihrer Geschwister erziehen und ihr Schwager, der Pfarrer Heinrich Höpken im Dorf Goldenstedt, hilft ihr bereitwillig, eine Volksschullehrerstelle in seiner Nähe, ja, in seinem Kirchspiel zu finden.
Seit Frühjahr 1946 hatte meine Großmutter ihre Kinderfamilien wieder beieinander. Und als 1948 Großvater Paul starb, kam sie zu uns. Ihre jüngere Tochter bekam nun auch noch ein Kind – die Freude im Pfarrhaus war groß.
Doch Großmutter wohnte bei uns in Varenesch und half unserer berufstätigen Mutter den Haushalt führen, zusammen mit einem jungen Mädchen.
Dieser Haushalt war ein schwieriges Ding. Wir hatten ja keine Wohnung, sondern nur 2 ehemalige Schlafzimmer in einem schönen Einfamilienhaus, dazu zwei Abstellkammern und einen Teil des Flurs. Der einzige Wasserhahn war auf dem Flur und noch für eine weitere Familie da. Einen Abfluß hatte das obere Stockwerk überhaupt nicht, jeder Eimer Brauchwasser musste die Treppe hinunter getragen und „an den Teich“ geschüttet werden. Die Großmutter durfte die Toilette unten im Haus benutzen, wir Kinder liefen durch den Garten auf den Hof zum Schweinestall.
Eins der Schlafzimmer, das mit Balkon, war jetzt Küche, dort stand ein Küchenherd, mit Torf und Holz zu heizen. Das Ofenrohr ging zum Fenster hinaus. Daran trocknete unsere Mutter im Winter die Wäsche. Dort stand auch der Esstisch, an dem wir aßen, Schularbeiten machten und spielten. Im Winter 1949/50 und 1950/51 spielte unsere Großmutter dort schon mit uns, obwohl sie damals meistens noch stricken oder stopfen musste. Auch wir Kinder wickelten Wolle oder rebbelten alte Pullover. Unsere Mutter hatte ein Spinnrad gekauft und das Spinnen erlernt, neben der Schularbeit. Es war eine fleißige Zeit. Aber Großmutter hatte doch mehr Zeit als Mutter. Sie wurde geschont. Und ihre Gelassenheit und Heiterkeit war für uns alle ein Schatz.
1950 zog sie mit uns um ins „Schröderhäuschen“ nach Goldenstedt. Dort hatte sie das schönste Zimmer zum Wohnen und Schlafen. Aber ein Bad gab es auch dort nicht, nur die Waschküche. Und die Toilette war ein Plumsklo hinten am Haus.
Im Ess- und Wohnzimmer des Schröderhäuschens fanden die ausführlichen Spielabende mit Großmutter statt. Jetzt war unser kleiner Bruder Stephan auch schon ein ernst zu nehmender Mitspieler, er ging in die 4. Klasse der Goldenstedter Volksschule. Wir beiden Großen fuhren mit dem Bus ins Gymnasium in Vechta. Großmutter machte das abendliche Mensch-ärger-dich- nicht-Spiel zum Kampf von Schülern um die Versetzung. Jeder von uns hatte 4 Kinder, deren Fortkommen uns am Herzen lag. Erfolg und Misserfolg wurden von ihr markant kommentiert. Wir hatten Bauchschmerzen vor Lachen.
In Goldenstedt war sie selbständiger als in Varenesch. Das Pfarrhaus war in der Nähe, das Dorf größer. Schon von Varenesch aus waren sie und meine Mutter mit dem Bus nach Bremen ins Theater gefahren. Diese Möglichkeiten gab es jetzt öfter.
Verreist sind wir ja so gut wie nie. Großmutter hatte als Offizierswitwe keine Pension, die Gehälter von Tochter und Schwiegersohn waren klein. Das tägliche Leben: Kochen, Nähen, Stricken, Wäsche waschen, Obst einwecken, Sauerkraut herstellen, den Garten pflegen – an allem nahm sie teil. Und da sie eine Dame war, hatte unser Alltag Stil.
Noch einmal zogen wir in Goldenstedt um: vom „Schröderhäuschen“ ins „Kallagehäuschen“. Die Schneiderfamilie Schröder wollte ihr Haus wieder selbst bewohnen. Der Bauer Kallage hatte als Mitgift für seine noch unmündige Tochter ein hübsches Haus bauen lassen, das er vermieten wollte. Wir zogen dankbar ein. Das Haus lag direkt an der Endstation des Busses nach Vechta. Ich hatte 1953 im Schröderhäuschen meine Konfirmation gefeiert, Klaus und Stephan feierten sie im Kallagehäuschen. Und hier war es auch, wo dank der Gründung der Bundeswehr der Staat sich gezwungen sah, meiner Großmutter, der Offizierswitwe, eine Rente zu zahlen. Das ist mir in Erinnerung, vor allem deswegen, weil mir nun erst auffiel, dass sie bis dahin wie ein Kind jede Mark von ihren beiden Töchtern erhalten hatte.
Im Kallagehäuschen ging ich als Konfirmierte später zu Bett als meine Brüder. Einmal die Woche ging ich mit meiner Freundin Inge in den Kirchenchor. Aber die gewöhnlichen Abende saßen wir drei „Weiberchen“ in Großmutters Zimmer und handarbeiteten, stopften, nähten oder strickten. Der Reihe nach las eine von uns vor. Dazu gab es ein kleines Pult, das auf dem Tisch stand. Das Pult mit dem Buch ging reihum. Wer eine einfache Strickarbeit hatte, strickte beim Vorlesen weiter. Schön und verständlich vorzulesen war wichtig. Gelegentlich wurde der Text auch kommentiert. Es war eine sehr gemütliche und konzentrierte Atmosphäre. Soviel ich weiß, waren die Bücher alle aus Familienbesitz. Oder hatte Goldenstedt eine Bibliothek? Brachte ich Bücher aus der Schulbibliothek in Vechta mit? Das weiß ich nicht mehr.
Aus dem Kallagehäuschen fuhr ich in die Schülertanzstunde in Vechta. Und war zum ersten mal verliebt. In dieser Zeit war mein Verhältnis zu meiner Großmutter sehr wichtig für mich. Meine Mutter empfand ich als misstrauisch oder eifersüchtig. Ich erzählte auch Großmutter nichts, aber sie fühlte wahrscheinlich, wie ich mich veränderte, und nahm mit Gesprächen darauf zarte Rücksicht, indem sie mir aus ihrer Jugend erzählte.
Ihre Kindheit und damit auch das Verhältnis zu ihrem Bruder hat sie in den „Familienplaudereien“ beschrieben – aber was ich über ihre Jugend schreiben will, muss ich in meinen Erinnerungen suchen.
Sie lebte im geschlossenen Kreis der Garnison. Offenbar kannte sie nur Offiziersfamilien. Ihre beste Freundin war Marie von Thümen, ebenfalls Offizierstochter. Mit ihr zeichnete sie in Neiße die Papierpuppen und stellte in ihnen ihr ganzes gesellschaftliches Umfeld dar.
Die Tänzer auf den Bällen, die sie in Metz regelmäßig besuchte, waren ebenfalls alles Offiziere. Großmutter tanzte gern. Sie war beliebt, erzählte sie mir, sie „saß nie“. Viele der jungen Männer waren mit ihr geradezu befreundet, erzählten ihr aus ihrem Leben. Aber keiner machte einen Heiratsantrag, auch der nicht, den sie bevorzugte. Sie waren alle arm und Edith hatte den Ruf, keine sichere Mitgift zu haben. Denn ihr Bruder Felix war spielsüchtig und hatte zweimal schon das Vermögen des Vaters schwer geschädigt.
Großmutter erzählte mir, wie satt sie das Tanzen hatte, als sie 22 war, nach vier Wintern in Metz. Sie wollte Krankenschwester werden, aber leider waren ihre Schulzeugnisse ziemlich schlecht. Außerdem war ihre Mutter absolut dagegen. Da kam 1905 Paul Liebert in Ediths Leben. Es ging ziemlich schnell. Ob Paul schon mit dem Entschluss nach Metz kam, sich jetzt endlich zu verheiraten – was ihm zuzutrauen ist – oder ob die Begegnung mit der Tochter seines neuen Chefs beim Eintritt ins Pionierbataillon ausschlaggebend war, wusste wohl auch Großmutter nicht. Jedenfalls war er sehr konsequent und hielt sehr bald um ihre Hand an. Er war 15 Jahre älter als sie, Hauptmann und hatte eigenes Vermögen. Natürlich waren Ediths Eltern sofort einverstanden. Aber von meiner Großmutter hörte ich zum ersten Mal das Wort „Vernunftehe“. Als die Familie Behn Metz verließ, weil der Vater pensioniert wurde, war Edith schon verlobt. Und erhielt ein Jahr lang am 13. jedes Monats zum Verlobungsgedenktag ein hübsches kleines Geschenk.
Oft habe ich gedacht, dass das Männerbild meiner Jugend aus den Erzählungen von Großmutter über ihren Mann Paul stammte. Ich kannte ja nur wenige Männer, lebte in einer Frauenwelt nach dem Krieg. Paul hat sich den Respekt von Edith immer erhalten können. Dass Männer wichtig sind, Achtung und Nachgiebigkeit verdienen, aber auch in vielen Sachen ungeschickt und ein bisschen lächerlich sind, habe ich von ihr. Pauls Pingeligkeit und seine absolute Zuverlässigkeit, Pauls Strenge, die er aber auch gegen sich selbst anwandte, Pauls Liebe, die sich in Geschenken und Überraschungen äußerte, Pauls heimliche Frömmigkeit, die Edith rührte. Er war gleichzeitig ihr Herr und ihr Kind. Er verbot ihr, baden zu gehen, weil er sehr eifersüchtig war – und sie ging nie schwimmen, obwohl sie es so liebte. Er wurde krank, wenn sie verreiste – deswegen blieb sie immer nur wenige Tage bei ihrer alten Mutter in Berlin. Er unternahm große Wanderungen mit der Familie, mit Stadtplan und Kompass und verirrte sich trotzdem. Ediths Ortssinn brachte die Familie wieder nach Hause. .
Während meine Mutter vor allem ihre heiße Liebe zu meinem Vater darstellte, die sich bei jedem Wiedersehen in ihrem kurzen Eheleben heftig erneuerte, schilderte mir meine Großmutter den Alltag von Mann und Frau, zwei sehr verschiedenen Menschen, aber durch Treue und Sitte durch viele Krisen hindurch bewährt. Man muss auch mal „M“ sagen können.