(geb. am 22. August 1869 in Guhrau/Bezirk Breslau, heute Gorá/Polen, gest. am 1. Mai 1948 in Marburg/Lahn)
Meine Mutter ist eine geborene Liebert. Ihren Vater, den pensionierten Oberstleutnant Paul Liebert, habe ich noch gekannt. Dass ich ihn gut gekannt hätte, kann ich nicht sagen, obwohl ich ihn oft gesehen habe von klein auf. Er hat, so vermute ich, an seinen Enkelkindern wenig Freude empfunden - dazu war er vielleicht schon zu alt oder Krieg und Nachkrieg verschatteten unser Zusammensein. Jedenfalls habe ich ihn mehr gefürchtet als geliebt.
Mein Großvater Paul Liebert war ein zartgebauter Mann, sein Leben lang schlank und drahtig. Im Alter machte er mit seinem lockigen weißen Haar, seinen "blitzblauen" Augen und der lebhaften Gesichtsfarbe Eindruck auf die Menschen. Er hatte immer einen guten Appetit. Aus diesem Grunde müsste er eigentlich gern im Pfarrhaus in Heusweiler/Saar gewesen sein, denn da gab es reichlich Obst und Gemüse, auch Hühner, Tauben und Kaninchen hielten meine Eltern. Jeden Sommer von 1940 bis 1944 verbrachte er mit der Großmutter mindestens drei Wochen bei seiner verheirateten ältesten Tochter. In dieser Zeit war er eifrig bemüht, sich nützlich zu machen: während die Großmutter bei der Beerenernte und beim Einkochen half, lief er von einem Handwerker zum andern, um die notwendigen Reparaturen durchzusetzen. Aber er unterhielt sich auch gern mit den Meistern, wenn er sie antraf. Besonders oft ging er zum Schuster wegen der ewig kaputten Kinderschuhe, aber auch wegen dessen Lebensphilosophie. Das erzählt meine Mutter. Ich habe aus dieser Zeit keine bestimmte Erinnerung an ihn, nur, dass wir seinen 75. Geburtstag vorbereiteten an dem Tag, dem 21. August 1944, als mein Vater im fernen Estland starb, das weiß ich, weil wir es uns nachher immer wieder erzählt haben: wie wir Gedichte lernten, Sträuße machten, wie Mutter buk, während Vater starb. Dass Großvater auch anwesend war, als einen Monat später die Todesnachricht kam, weiß ich ebenfalls nur aus den wiederholten Erzählungen meiner Mutter. Für mich, die Sechsjährige, hat mein Großvater Paul bei dieser ersten Erfahrung mit dem Tod keine Rolle gespielt. Ich sehe deutlich meine Freundin, ich sehe meine Mutter, ich sehe meine, ach, noch so kleinen Brüder – ihn sehe ich nicht. Dabei war der Bürgermeister froh, dass er die amtliche Nachricht nicht selbst meiner Mutter sagen musste. Der Großvater übernahm die Vermittlung. Sehe ich also doch seine straffe Gestalt, die tadellose Haltung des preußischen Offiziers, wie er die Meldung vom Heldentod seines Schwiegersohns entgegennimmt? Und wie er dann doch außerstande ist, es seiner Tochter zu sagen und die Großmutter ins Vertrauen ziehen muss? Nein, das weiß ich bestimmt nur aus Erzählungen.
Mit dem Kriegsende 1945 wurde seine Pension eingestellt, alte Soldaten bekamen nichts. Aber auch schon während der letzten Kriegsjahre war sein Einkommen nicht mehr viel wert. Als meine Mutter mit uns Kindern im Dezember 1944 aus dem von der Front bedrohten Saarland nach Marburg in die elterliche Wohnung floh, war das für den Großvater eine Zumutung. Die Hausfrauen, Frau und Tochter, die die Macht hatten, das irgendwie organisierte Essen einzuteilen, bevorzugten uns drei Kinder. So sah der alte Mann scheel auf seine Nachkommenschaft wegen der knappen Nahrungsmittel. Kein Wunder, dass er ungnädig war. Sicher war es auch viel zu eng und zu laut für ihn.
Der Bombenkrieg nahm zu, das Nachbarhaus wurde vollständig zerstört, die Behörden schickten Kinder und Mütter im Januar 1945 aufs Dorf. Die alten Leute blieben in der notdürftig geflickten Stadtwohnung. Meine Großmutter kam uns ab und zu auf dem Bauernhof in Allna besuchen, 15 km zu Fuß hin und 15 km zurück. Großvater kam nicht aufs Land. Für einen Tag war der Weg zu weit. Und er hätte in unserm einzigen Zimmer nicht mit uns übernachten können. Das ging nicht.
Ich sehe den Großvater deutlicher vor mir, als er uns nach dem Krieg besuchen kam. Da war ich neun Jahre alt. Er wohnte dann mit der Großmutter bei seiner jüngeren Tochter Ursula, die auch einen Pfarrer geheiratet hatte, im Pfarrhaus in Goldenstedt im Südoldenburger Land. Meine Mutter war nun Lehrerin in der Dorfschule von Varenesch. Wir besuchten die Großeltern bei der Tante, aber sie kamen auch zu uns zu Besuch, drei Kilometer auf Feldwegen. Er schien mir unwirsch. Seine Töchter ermahnten uns, Rücksicht auf ihn zu nehmen. Wir sahen das ein, wir bemühten uns. Aber als ich auf der Heimfahrt von der Christvesper, in heller Vorfreude auf die Bescherung, im Dienstauto des Onkels Weihnachtslieder vor mich hinsang, und der Großvater es mir schroff verwies – da war ich ihm richtig böse. Das muss Weihnachten 1948 gewesen sein. Ich war zehn Jahre alt, er fast achtzig. Im Mai darauf starb er, fern von uns, in Marburg. Er erzählte meiner Großmutter, er sei auf der Kellertreppe gestürzt. Kurz darauf kam der zweite Schlag, der ihn tötete.
Als mein Großvater schon alt war, haben seine erwachsenen Töchter ihn offenbar gebeten, seine Erinnerungen aufzuschreiben. Sie wollten wohl, dass er die Familiengeschichte sichern half. Aber wahrscheinlich hofften sie auch, diese Tätigkeit werde den Vater von den immer größer werdenden Kriegsängsten ablenken. Als alter Offizier machte er sich früh keine Hoffnungen mehr auf den Endsieg. Beim Lesen seiner "Familienerinnerungen" habe ich nicht den Eindruck, dass er sie mit Freude geschrieben hat, aber er hat sich viel Mühe gegeben. Auf die Innenseite des Heftdeckels hat er einen kleinen Zettel geklebt, darauf steht in seiner Hand:
"Motto
Wer verlangt von einem Angedenken, daß es viel wert sei, - wenn es nur wert gehalten wird."
Bis heute halten wir das Heft wert. Nach dem Verlust aller Kirchenbücher und Stadtakten von Guhrau, nach der Zerstörung der evangelischen Kirche und der Planierung des Friedhofs dort sind diese "Erinnerungen" das einzige Zeugnis über die Guhrauer Linie Saur und Matthie für unsere Familiengeschichte.
Wenn man dies Heft meines Großvaters mit den Aufzeichnungen meiner Mutter im etwa gleichen Lebensalter vergleicht, fällt sofort auf, dass Paul über sich selbst nicht leicht zu erzählen vermag. Nur anläßlich der Tatsache, dass er das Grab seines jüngeren Stiefbruders 1914 nicht finden konnte, was ihn offenbar sehr bedrückte, kommt er auf sein eigenes Leben damals zu sprechen.
"Zu dieser Zeit lag ich in Binarville in den Argonnen, wo mein Chef, Generalleutnant Kaempffer, im Stabe des Deutschen Kronprinzen – den Auftrag hatte, mit einem zugeteilten Detachement einen befestigten Stützpunkt der Franzosen (Bagatelle Pavillon) zu nehmen (1. 10. - 13. 10. 1914). Obwohl nur wenige Kilometer von Servon entfernt, war es mir nicht möglich – auch später nicht – das Grab meines Stiefbruders in Erfahrung zu bringen – wahrscheinlich unbeerdigt im Niemandsland. – In den Argonnen verdiente ich mir das EK I.
Schon am 18. August 1914 erhielt Generalleutnant Kaempffer den Auftrag, mit einem Detachement aus Infanterie, Pionieren u. Artillerie die Festung Longwy zu nehmen. Am 22. 8. (meinem Geburtstag – Feuertaufe!) begann die Feuereröffnung vom Waldrande aus, 600 m nördlich der Nordfront von Longwy sich erstreckend. Am 26. 8. 14, 1° mittags zeigte Longwy die weiße Fahne, 4.30 übergab der Kommandant der Festung am Nordtor seinen Degen an Generallt. Kaempffer, der später eintreffende Deutsche Kronprinz gab dem Kommandanten den Degen wieder zurück wegen seiner tapferen Verteidigung. 4 500 Offiziere u. Mannschaften gerieten in Gefangenschaft. – Stolze Erinnerung für mich! Ich verdiente mir das EK II. Am 27. 8. Rückkehr in das Armee-Haupt-Quartier."
Wenn ich dazunehme, dass meine Mutter in ihrer Autobiographie bemerkt: "Vater hat nie vom Krieg erzählt," dann ist dieser Abschnitt ein kostbares Selbstzeugnis. Für mich, die ich Kriegshandlungen nicht kenne, bleibt sein Tun unsichtbar. Das soll es wohl auch. Nur die Ausgangslage und das Ergebnis werden mitgeteilt – im Stil von Kriegsberichterstattung. Nach Reue klingt das nicht. "Stolze Erinnerung für mich!" Er blieb Offizier des Kaisers, auch nach dem Ende der Monarchie.
Wie er zum Offizier wurde, erzählt er rückwärts. Das ist sicher durch sein Alter erklärlich, aber es wirkt auch wie ein Stilmittel: nur zögernd, nur auf zähes Nachfragen hin geht er zurück in seine Kindheit. Nachdem er seine vier Geschwister aufgezählt und den Unfalltod des fünfjährigen Georg erwähnt hat, kommt er auf seine Mutter zu sprechen:
"Seit dem Tod von Georg kränkelte meine Mutter, schwermütig. 1878 war sie in Bad Landeck i./Schles., daher stammt meine kleine silberne Uhr – zu meinem Geburtstag. 1879/80 war meine Mutter in einem Nervensanatorium bei Breslau. Am 29. Oktober 1880 entschlief sie, noch nicht 30 Jahre – sanft zu Hause. Ihre letzten Worte sollen gewesen sein – ich war in der Schule – :Paul wird Militärarzt!"
Als diese letzten Worte seiner Mutter ihm überliefert wurden, war Paul elf Jahre alt. Er befand sich wohl schon am Evangelischen Gymnasium in Glogau. Paul mag auf diese Mutter, die die Familie zuerst durch ihre langandauernde Krankheit, dann durch ihren Tod im Stich ließ, einen unbewußten Groll empfunden haben. Er soll lange unter dem Eindruck gestanden haben, auch er werde früh sterben. Und die Zeit danach, der durch den Tod seiner Frau depressive Vater, der das Geschäft an seinen Bruder Paul verpachtet hatte, weil er sich "zurückzieht", die schnell wechselnden Hausdamen für die kleinen Geschwister und dann, als letzte Rettung, die Guhrauer Großmutter Amalie Saur im Haus – das war wohl noch schlimmer für den Ältesten. Er sah, wie seine kleinen Geschwister Elisabeth und Hugo litten. Deswegen begrüßte Paul 1883 erleichtert die neue Frau seines Vaters, Juliane Ottilie, geb. Sonntag. Nie sollten später seine Kinder in Märchen von der "bösen Stiefmutter" hören! Es gab "böse Mütter", ja, das gab es, so wie es gute Mütter gab. Aber der Name "Stiefmutter" durfte nicht herabgesetzt werden. Ottilie, dies Wunder an Einfühlung in eine verstörte Familie, hatte mit ihrer Heiterkeit den Vierzehnjährigen gleich gewonnen. Zur Hochzeit schenkte er ihr ein Jabot, gekauft vom Taschengelde. Und das vergaß sie ihm nie. Lebenslänglich hielt die Liebe von Stiefmutter und –sohn, bezog später seine Frau Edith und die Töchter ein. Und nichts liebte er mehr an meiner Großmutter, als dass sie auch so heiter sein konnte, so wohlgemut. Aber das alles weiß ich nicht etwa von ihm selbst, sondern nur aus den Erzählungen der Frauen der Familie, die nicht müde wurden, mir seinen Charakter zu schildern.
Am 29. März 1886 wurde er in Glogau konfirmiert. Den letzten Teil seiner Schulbildung aber erhielt er am angesehenen Elisabeth-Gymnasium in Breslau, das er von 1888 – 1891 besuchte. In seinen eigenen Lebenserinnerungen wird diese Zeit nur als Voraussetzung für die Militärlaufbahn greifbar. Dass er ausgezeichnet Latein und Altgriechisch konnte, in Mathematik, Geographie und Geschichte glänzende Kenntnisse hatte, hat meine Mutter überliefert, sie konnte es beim Vergleich mit ihren Lehrern feststellen. "Er hat ja als Primaner Aufsätze in lateinischer Sprache schreiben müssen," erzählte sie uns Kindern voller Hochachtung. Dass diese Schulzeit auch Leiden barg, drückte sich später darin aus, dass er um nichts in der Welt eins seiner Kinder in ein Internat geben wollte. Dabei wohnte er mit seinem jüngeren Bruder nicht etwa im Internat, sondern bei zwei alten Fräulein, die Schüler in Pension nahmen.
Militärarzt, wie seine sterbende Mutter es gewünscht hatte, wurde Paul nicht, aber Offizier. Als alter Mann, rückblickend, beschrieb er das so:
"Meine letzte Friedensstellung:
1910 - 14 1. Adjutant der 2. Ingenieur-Inspektion Berlin, ab 1. 10. 1913 Posen.
Die 4 Ingenieur-Inspektionen und die 4 Pionier-Inspektionen waren die höchsten Dienststellen unter der General-Inspektion des Ingenieur- und Pionierkorps Berlin. Die Pionier-Inspektionen umfaßten die - damals 30 Pionier- Bataillone einschl. der Kommandos der Pioniere beim XV., XVI. pp Armeekorps - an ihrer Spitze 1 Oberst, letzterer da, wo zwei Bataillone in der Garnison stehen. Die Ingenieur-Inspektionen waren die Waffenvorgesetzten der Festungs-Inspektionen und der Fortifikationen in den einzelnen Festungen. Aufgabe war Bau und Unterhaltung von Festungen.
Zur 2. Ingenieur-Inspektion gehörten die 3. Festungs-Inspektion, an der Spitze ein Oberst - mit den Fortifikationen: Cüstrin, Spandau, Glogau, Posen Ost und Posen West, (Posen Neubau), die 4. Festungs-Inspektion mit den Fortifikationen Thorn (Neubau), Breslau, Glatz, Neisse und die 9. Festungs-Inspektion mit den Fortifikationen Graudenz-Nord, Graudenz-Süd, Kulm., Marienburg - alle Neubauten. Die Pionier-Offiziere wurden abwechselnd zu den Pionier-Bataillonen und den Ingenieur-Behörden kommandiert.
Vorher war ich Hauptmann u. Kompaniechef im Pionier-Bataillon Nr. 20 in Metz/Sablon 1906 - 1910. Davor 1905 Oberleutnant im Pionier-Bataillon Nr. 16 in Metz, vorher 1904 bei der Fortifikation Metz-West, und 1903 bei der Fortifikation Ulm a/D, davor – als Pionier-Offizier – Adjutant des Kommandos der Pioniere beim XV. Armeekorps Straßburg i/E. 1902 - 1903 u. davor Adjutant des Pionier-Bataillons Nr. 15 in Straßburg 1899 - 1902, in das ich nach Abiturium auf dem Elisabeth-Gymnasium in Breslau eintrat als Avantageur.. 1891 auf Kriegsschule Metz kommandiert, 1894 - 96 zur Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule in Berlin - und vom 3. 1. 1896 bis 1. 5. 1897 zur Militär-Telegraphie-Schule Berlin.
Den Telegraphen-Dienst bei Übungen mußten damals die Pionier-Bataillone mitversehen; die Telegraphen-Bataillone wurden erst 1899 gebildet. (1900 Oberleutnant)"
Wieder empfinde ich bedauernd das Formale seiner Lebensbeschreibung. Welches Spezialwissen mag er sich angeeignet haben? War er bei den Festungsbauten auch als Ingenieur tätig? Oder war hauptsächlich Organisation und Logistik sein Gebiet? Weder meine Großmutter noch meine Mutter haben vom Beruf Pauls Inhaltliches überliefert. Nur dass er jeden Morgen schon vorm Frühstück seinen Ritt machte, das kommt in den Kindheitserinnerungen meiner Mutter vor.
Weil sein um acht Jahre jüngerer Bruder Hugo Apotheker werden sollte und dazu ein Realgymnasium brauchte, wurden beide Jungen 1888 nach Breslau geschickt. Paul war 17, Hugo 9 Jahre alt. Im Jahr 1891 machte Paul sein Abitur. Die Note "gut" in Mathematik war nach einer Bemerkung meiner Tante nötig, um in das Pionier-Bataillon Nr. 15 aufgenommen zu werden. Das "Zeugnis der Reife zum Portepeefähnrich" vom 16. Oktober 1891 ist erhalten. Er habe ein "vollgültiges AbiturientenZeugniß" vorgelegt, wird ihm bescheinigt. Und am 17. November desselben Jahres ernennt ihn Seine Königliche Majestät von Preußen zum Portepeefähnrich mit allen Rechten und Pflichten. Dazu hatte der Vater seinen "offenen Laden", die Eisenwaren- und Kohlenhandlung, schließen müssen. Denn ein Junge aus einem "offenen Geschäft" konnte nicht Offizier werden. Das erzählte meine Großmutter, die Offizierstochter. Stattdessen übernahm der Vater von Paul die Molkerei. Das vertrug sich mit "des Kaisers Rock".
Die Ausbildungsjahre verbrachte Paul in Metz (1891- 1894) und in Berlin (1894 – 1897). 1892 wird er Second-Leutnant. Wo er 1898/99 stationiert war, geht aus seiner Zusammenfassung nicht hervor. Die Jahre von 1899 – 1903 arbeitete er in Straßburg, dort wird er 1900 Oberleutnant, war dann 1904 in Ulm und seit 1905 wieder in Metz. Dort, nun zum Hauptmann ernannt, lernte er 1906 meine Großmutter kennen beim Antrittsbesuch, den er ihrem Vater machte, dem Oberst Hermann Behn, seinem neuen Vorgesetzten im Pionier-Bataillion Nr. 20. Am 14. März 1907 heirateten die beiden. Das erwähnt er an ganz anderer Stelle in seinen Erinnerungen, ohne jeden persönlichen Kommentar. Er fügt nur den Bildungsgang meiner Großmutter bei, sonst nichts. Bis 1910 lebt das Paar in Metz. Am 18. Februar wird dort die Tochter Ruth, meine Mutter, geboren. Seine "letzte Friedensstellung" ist dann Posen. Pioniere im Festungsbau waren immer an Grenzflüssen tätig. Von der Mitte Deutschlands sahen sie nur Berlin.
In der Autobiographie meiner Mutter ist ihres Vaters Leben als Familienvater sehr oft Thema. Sie war 75 Jahre alt, als sie uns zuliebe diese Erinnerungen aufschrieb.
"Der Verkehr mit Kindern beschränkte sich bei mir völlig auf die Schule, Kinderkaffees liebte mein Vater nicht. Der Familienbegriff meines Vaters war entschieden etwas überstrapaziert: - er hatte Frau und Kinder, seinen Dienst – und er brauchte nicht mehr, so nahm er das von Frau und Kindern selbstverständlich an! War Mutter in Posen auf dem Spielplatz im Botanischen Garten noch mit andern jungen Müttern und deren Kindern zusammengewesen (der Frau eines Bankdirektors Plank z.B., mit deren Tochter Eva unsere Ulli damals "ausrückte"), so fiel das jetzt (in Glogau) fort. Ich glaube nicht, daß Mutter und Ulli auf einen Spielplatz gingen, während ich in der Schule war. Ullli ging mit Mutter und Schlupfer einkaufen – spielte allein – wartete auf mich – das war alles!"
"Als Vater wieder da war 1918 gab’s keine Kindergeburtstagesfeiern mit Kindern – nur en famille; das Geld war knapp – die Wohnungen enge – er zu Haus ohne Beruf – auch ein bissel alt für so junge Kinder – er war 40, als ich geboren wurde! – jedoch kein "Spielvater", bei aller rührenden Bemühung, uns in der Schule zu fördern und bald auf eigene Füße zu stellen! Ich weiß mich gut zu besinnen, daß ich schon als größere Schülerin immer von ihm hörte: "Ich werde mal vor der Mutter sterben, dann musst du für sie und die kleine Schwester sorgen" – Er war als wohlhabender Kaufmannssohn großgeworden – die Pensionierung mit 50 Jahren war ein harter Schlag für ihn, ein anderer Beruf war 1918 für einen Berufsoffizier nicht zu erlangen, es galt nach Verlust des Vermögens (durch "Kriegsanleihen") mit der knappen Pension auszukommen! Und meine lebenslustige und –tüchtige Mutter hatte mit 34 Jahren einen Pensionär zum Manne. Das war ihr hart – er wurde auch eng und quengelich und "pütscherig" mit den paar Kröten. Er kam sich minderwertig vor – hatte er doch vorgehabt, Mutter zu verwöhnen, für die durch Felix’ gemachte Schulden verdüsterte Jugendzeit zu entschädigen. Und der Sturz aus dem "1. Stand" – der Umbruch der Monarchie in die Weimarer Republik – das war ihm schwer zu verkraften. Er hatte eine "Karriere" vor sich als Generalstabsoffizier und sich weidlich von jung an angestrengt. Besaß humanistische Bildung, Abitur am Elisabethgymnasium in Breslau – mit Latein und Griechisch, das er noch im Alter beherrschte – Französisch und Englisch hatte er auch gelernt (aber darin überließ er die Schularbeitenaufsicht meiner Mutter) – doch Mathematik und deutsche Grammatik waren seine Steckenpferde; - er hungerte nach Betätigung – noch in meinen Studienjahren in Marburg zog er mir seitenweise frz. und eng. Vokabeln zu den Texten (ich unterstrich einfach!) aus dem Lexikon heraus! Und in Latein zu helfen – und später beim Graecum war ihm ein Genuß! Liebste Lektüre nächst Kriegsberichten waren Lexikon, Duden und Kursbuch! Keine alleinreisende Dame noch in Marburg, die nicht bei ihm den Reiseplan sich erstellen ließ – genau mit Umsteigestationen und besten Anschlüssen! Die Tragik in seinem Wesen ging uns eigentlich früh auf – er war ja von Natur lustig und witzig gewesen – machte reizende Gelegenheitsgedichte, hielt nette Reden – viel zu wenig gefordert in seinen Wissensgebieten. Er wäre ein prima Lehrer geworden, hätte es 1918 oder 1920 solche "Schnellkurse" für pensionierte Offiziere gegeben wie 1946! Aber man wollte Offiziere nicht im Schuldienst, glaub ich – und "Handlungsreisender in Schmieröl und –fetten" wolle und könne er nicht werden, höre ich ihn noch sagen, auch uns zuliebe nicht! So stürzte er sich auf Sparmaßnahmen (täglich las er Gas und Strom ab u. notierte den Verbrauch – es kam sofort heraus, wenn man im Bett noch gelesen hatte!), putzte Schuhe, "förderte" unsere Schularbeit (erst das Alte wiederholen – dann das, was man aufhat – und dann das Neue vorbereiten!! Mutter haßte das und empfand es als Schinderei!) Daß er freilich bei dem häufigen Schulwechsel uns oft half – denn auch damals waren die Lehrpläne der Schulen in Ost und West verschieden – das schätzte vor allem ich (als die am meisten Betroffene!)
Und damit bin ich am Ende meiner Schulzeit in Posen. Im Okt. 1918 – aber nein: im August war’s, bekam Vater (wegen nervlicher Erschöpfung) ein Inlandkommando in Minden für ein ¼ Jahr! Da er solange von Frau und Kindern getrennt (gewesen) war, wurde verabredet, dass wir zu ihm in eine möblierte Wohnung ziehen sollten! Ich fand das herrlich. Urlaub und Ferien hatte es seit 1913 keine mehr gegeben. Das Leben einer Soldatenfrau, die eigentlich immer mit einer Todesnachricht rechnen musste, still und eintönig. Bekannte und Verwandte hatten wir in Posen wenig oder gar nicht. "Auf ein Neues!" Wieder wurde gepackt, die Mädchen entlassen, die Wohnung verschlossen – und wir saßen im Zug: Wäsche, Silber, persönliche Gegenstände, Kleidung pp. wurden mitgenommen, resp. aufgegeben. Die Kriegslage war schlecht – davon hörte man doch auch als Kind sprechen, seit U.S.A. mit großen Mitteln in den Krieg eingriffen. Aber als Kind (acht Jahre alt) mit Mutter und Schwester bleibt das eigentlich doch ziemlich "draußen" – wir fahren gen Westen! Zum Vater! …. Und o Glück: in Posen waren die großen Ferien grad zu Ende, und hier in Westfalen hatten sie grad begonnen. Ich wurde angemeldet und Vater erkundigte sich, wie weit man dort wäre: es ging um Deutsch und Rechnen. Und da stellte sich’s heraus, daß die Schüler in Minden schon die lat. Ausdrücke für die Wortarten und Satzglieder kannten: wir hatten uns mit "Eigenschaftswort" resp. "Satzgegenstand" begnügt. Und nun ging also ein eifriges Lernen mit Vater los. Daß ich Rechtschreibeschwächen hatte, merkte er – ich hatte nur eine 3 (genügend!) – und nun übten wir täglich Diktate. Ungeduldiger Lehrmeister, der er war, legte er auf Schrift keinen Wert (sehr zum Leidwesen der Mutter, die eine zierliche Damenschrift nicht nur für Liebesbriefe zu schätzen wußte!) So "klaute" ich Zettel und Briefumschläge (Papier und Hefte wurden knapp!) voll – und steckte manche Ohrfeige ein! Und dann lernten wir: Adjektiv, Substantiv pp – und Subjekt und Objekt – und die Fälle von Nominativ bis Akkusativ und die Wörter im Rechnen wie addieren und substrahieren – Divisor usw. usw.! Schnellkurs in drei Wochen. Und dann "hatte" ich’s und ging getrost in die neue Klasse!"
"Vaters Abwicklungsstelle war reiner Bürodienst – daß er doch ein Pferd hielt, ist mir nicht mehr erklärlich. Daß Bursche und Hausmädchen (jetzt nur noch eins) zum "Lebensstandard" gehörten, nahm uns schon mit 19/20 Jahren wunder später. Aber das hätte Vater Mutter nie zumuten mögen, zu kochen, zu waschen, zu bügeln, zu putzen."
Wenn ich das jetzt als alte Frau lese, denke ich schmunzelnd, wie sehr dies "Bild von einem Vater" mein Männerbild geprägt hat. Mein eigener Vater wurde mir ja nicht mehr als Person bekannt, dafür verschwand er zu früh aus meinem Leben. Ein Mann in den Augen der ihn umgebenden Frauen: stolz und hilflos zugleich, liebenswert und ein bisschen lächerlich. Mit welcher Zärtlichkeit erinnerte sich meine Mutter noch an ihren Vater, als sie selbst mehr als 90 Jahre zählte: wie er am Weihnachtsmorgen im Nachthemd "mit seinen dünnen Beinen" im Kinderzimmer tanzte und dazu sang: "Heute, Kinder, wird’s was geben, heute werden wir uns freun!" – im voraus begeistert von der Vorstellung, wie viel Geschenke er seinen beiden Mädchen und der geliebten Frau unter den Weihnachtsbaum legen konnte! "Er schenkte so gern!" sagte meine Mutter oft. Und er wäre so gern mehr mit den Seinen gereist, träumte von einem eigenen Zugwaggon, in dem er mit seiner Familie leben wollte und den er dann an ausgewählte Züge anhängen konnte. Wenn er eine Reise organisieren konnte, dann war er ganz in seinem Element. Die kurzen Reisen, die er sich leisten konnte, waren "generalstabsmäßig" geplant und gespickt mit liebenswürdigen Überraschungen für die Seinen. An sie erinnerte sich auch meine Großmutter mit Vergnügen. Sie erlebte einen glücklichen Mann.
Meine Mutter sprach in ihren späten Jahren viel lieber und viel öfter vom Vater als von der Mutter. In ihren Erinnerungen bemüht sie sich, gerecht zu sein: "Ja, es war eine behütete Kindheit – der Vater streng, oft zornig – es gab auch mal Ohrfeigen – aber wir waren nie allein, die Eltern leisteten sich nichts, an dem wir nicht Anteil hatten."
Genauso lernten meinen Großvater Paul auch seine Schwiegersöhne kennen. In den Briefen meines Vaters wird Paul meistens "das Väterchen" genannt, auf dessen Wünsche allergrößte Rücksicht zu nehmen ist. Schon für ihn ist er das Muster eines Familienvaters. Nicht ohne Ironie schreibt Eberhard von Mering am 4. Februar 1934 (da ist er vierundzwanzig Jahre alt):
"Ich werde mein "Rosenstöckchen" wohl zu pflegen wissen und ich dachte dieser Tage noch: Wenn ich einmal von zu Hause weg muss für mehrere Tage, dann werde ich vor Sorge keine Ruhe haben bis ich glücklich wieder bei Dir bin. Vielleicht werde ich noch so wie das Väterchen."
Und am 29. 12. 1934: "Mein Liebstes! Nun ist der schöne Traum schon ausgeträumt und es ist Alltag geworden. Wie lange hatte ich mich auf dies Wiedersehen gefreut und wie schnell war es vorüber. Gewiss, wir wollen dankbar sein für die wenigen Stunden, die Väterchen uns möglich gemacht hat und ich bin’s auch von ganzem Herzen. Aber es bleibt dennoch der Schmerz der Trennung." "Väterchens Besuchsverbot ist mir erst hinterher schwer auf die Seele gefallen." Und am 17. Januar 1935: "Erst muß der junge Mann in der Lage sein, eine Familie ernähren zu können; und das musste ich dem Väterchen ja schon am Tag vor unserer Verlobung zugestehen, dass ich dazu noch nicht in der Lage sei, besonders dann nicht, wenn jetzt auch noch die 25,- RM Monatsgehalt nicht erscheinen wollen."
Eberhard steht ganz unter dem Eindruck, dass Ruth Eigentum ihrer Eltern ist. Er schreibt an seine Schwiegereltern am 31. 12. 33 nach der Verlobung: "Ich weiß wohl, Ihr Lieben, wie sehr Ihr gerungen und gebetet habt, ehe Ihr Euer Kind, das Ihr mit so viel Liebe und Sorge aufwachsen ließet, mir zu eigen gabt. Aber gerade das danke ich besonders Dir, liebes Väterchen, daß Du es mir nicht leicht machtest, sondern daß ich erobern mußte, denn dadurch wuchs meine Liebe zu Ruth zu einer großen, kräftigen und – so Gott will – dauernden Blüte."
Es einem jungen Mann "leicht" zu machen, eine der kostbaren Töchter zu heiraten, war sicher nicht meines Großvaters Eigenschaft. Sollten sich die Schwiegersöhne ruhig anstrengen! Aber als Heinrich Höpken, der Verlobte von Ursula, erfahren hatte, dass er an Tuberkulose erkrankt sei – was damals noch eine sehr gefährliche Erkrankung war – und niedergeschlagen seine Braut freigeben wollte, da soll mein Großvater sehr energisch gesagt haben: "Das Mädchen ist noch jung. Suchen Sie mit aller Kraft gesund zu werden. Sie wird auf Sie warten." Wenn er einmal sein Wort gegeben hatte, dann hielt er es auch.
Seinen Lebenslauf beschreibt er in Daten und Adressen. Seine Träume und Vorstellungen zu beschreiben, lag sicher nicht in seiner Natur. "Natur" sage ich, so sehr gehört es für mich zu seiner Erscheinung! Aber ist es nicht Erziehung? Gefühlen nachzugeben, war unmännlich, aber auch für Frauen nicht tunlich. "Machen wir uns nicht weich!" war ein geflügeltes Wort meiner Mutter, womit sie bei Abschieden ihren Vater zitierte. Meine Empfindung dabei ist aber, dass das Gefühl dabei nur geschont wird, nicht vernichtet. Es wird vor Inflation bewahrt.
"Mobilmachung pp
Bei der Mobilmachung 2. 8. 1914 mußten Offiziersfamilien Posen verlassen und ihre Wohnungen dem Gouvernement zur Verfügung stellen. Am 2. (Sonnabend) wurde eifrig bis nachts gepackt, am Sonntag 11 ° Abreise mit Ruth nach Berlin zu den Schwiegereltern. Anfang 1915 eigene möblierte Wohnung in Berlin. Am 1. 5. 1915 Rückkehr nach Posen. Januar 1919 bei Unruhen in Posen fluchtartiger Umzug nach Guhrau, Unterkunft in einer Lehrerwohnung im Schulhaus. Mai 1919 Umzug nach Glogau (Dienstwohnung), wo ich bis 1. 7. 1920 als Pionier-Offizier der Festung Glogau tätig war. Von da bis 30. 9. 1920 Cüstrin, ich war Leiter der Abwicklungsstellen (Fortifikation u. P.B. 31)
Wohnungen im und nach dem Kriege:
Da ich in Glogau Dienstwohnung hatte, wurden wir wohnungslos -- abgesehen von einer kleinen behelfsmäßigen Mietwohnung während meiner Cüstriner Zeit. Ruth besuchte dort eine Höhere Schule, nachdem sie schon in Posen 1916 bis 1918 Ende eine Privat-Schule. 1919 nach der Flucht meiner Familie bei der Revolution von Posen nach Guhrau hat sie in der Volksschule in Guhrau und später 1919-20 auf einer Höheren Schule in Glogau Unterricht erhalten. - Am 1. 10. 1921 wurden wir im Beamtenhaus meines Schwagers Erich Spohn u. meiner Stiefschwester Meta in Friedland Bz. Breslau liebevoll aufgenommen. Ruth besuchte dort die Gehobene Volksschule. Bei unserem Umzug nach Alt Reichenau bei Bad Salzbrunn Bez. Breslau März 1921, wo ich 1919 Mitbesitzer eines Sägewerkes - mit Wohnung im Sägewerk - geworden war, erhielten Ruth und Ulli zunächst Unterricht bei den dortigen katholischen Lehrschwestern (Ursulinerinnen) u. wenig später durch Hauslehrerinnen. - schlimme Erfahrungen bis auf die letzte Hauslehrerin, eine Pastorentochter! Ende 1924 erhielt ich durch Tausch eine kleine Wohnung in Berlin - Belle Alliance-Str. 32 - furchtbar durch Mitbewohner des Hauses! Wir siedelten dorthin über, weil für Ruths weiteres Fortkommen der Unterricht durch Hauslehrerinnen nicht mehr statthaft war. Ruth und Ulli gingen in dem dortigen Viertel in eine Private Höhere Schule. Im April 1925 fanden wir - wieder durch Tausch - eine Wohnung in Neisse, Luisenplatz 2. Ruth und Ulli gingen dort wieder auf eine Höhere Schule, Ruth bestand dort 26. /27. Februar 1929 mit Auszeichnung ihr Abiturium. Zum Besuch einer Universität gelang es mir eine Neubauwohnung in Marburg/L, Schützenstr. 31 I zu finden. Ruth studierte dort bis zum Examen eines Mittelschullehrerinnen-Zeugnisses in Kassel 1934, um Lehrbefähigung zu erhalten, u. war dann in einer Pastorenfamilie in Uthleben bei Nordhausen bis zu ihrer Verheiratung 1937 tätig. Ulli bestand 1934 auf der Marburger Höheren Elisabeth-Schule ihr Abiturium und erhielt eine Buch-Schulprämie - am 15. Februar. Weitere Wohnungen in Marburg: 1933 bis 1935 in Robert-Koch-Straße und seit 1. 10. 1935: An der Schäferbuche 11.
Abgeschlossen Oktober 1942."
An der Schäferbuche 11 habe ich meine Großeltern kennengelernt, bin als Einjährige, als Vierjährige, als Sechsjährige bei ihnen ein- und ausgegangen. Ich liebte meine humorvolle Großmutter sehr. Meinen Großvater habe ich wohl mehr gefürchtet als geliebt. Aber sein Bild hat in meinem Herzen einen geachteten Platz.