Zuerst veröffentlicht in: EKKEHARD, Familien- und regionalgeschichtliche Forschungen, Hallische Familienforscher "EKKEHARD" e.V., Neue Folge 9 (2002), Heft 1, S. 16
Für manche Menschen ist es belustigend, wenn mein Mann Franz erzählt, dass nicht nur sein Vater und Großvater, sondern auch sein Urgroßvater schon Lehrer gewesen sind. "Franz Lippold, Schuldirektor in Leitelshain", pflegt er dann lächelnd zu zitieren. Das galt 1892 bis 1902. Franz, der Urenkel, ist von 1977 - 1987 Direktor eines Hamburger Gymnasiums und 1987 - 1993 Direktor der Deutschen Schule in Istanbul gewesen. Ob Joseph Gotthilf Benjamin Liebscher ein ebensolches Lächeln hatte für die Lehrertradition in seiner Familie? Sein Vater Johann Gottlob, sein Großvater Johann Gottlob, sein Urgroßvater Johann Christian waren Schuldiener und Kantoren gewesen. Dazu hatten auch sein Großvater mütterlicherseits Johann Bartholomäus Heise, sein Urgroßvater großmütterlicherseits Christoph Tänzer und sein Ururgroßvater urgroßmütterlicherseits Johann Heinrich Köchel als Schulmeister ihren Lebensunterhalt gewonnen.
Das ganze 18. Jahrhundert hindurch hatten sie in Cannewitz, Obergreißlau, Holdenstedt und Polleben die Dorfkinder unterrichtet, zu den Gottesdiensten und Amtshandlungen die Orgel gespielt, den Schulchor dirigiert, in Andachten den Pfarrer vertreten. Außerdem hatten sie die Kirchenglocken geläutet, die Turmuhr gestellt und geölt, die Kirchrechnungen drei- oder viermal für die verschiedenen Gremien abgeschrieben, Patenbriefe und Urkunden zu Papier gebracht. Außer seinem Großvater Johann Gottlob Liebscher hatte nie jemand die Stelle gewechselt. Zumindest alle drei Vorfahren mit Namen Liebscher hatten als cantor substitutus bei ihrem Schwiegervater angefangen zu unterrichten, und nach dem Tode des Alten die volle Stelle übernommen. Dass der Großvater Liebscher Obergreißlau verließ, war ungewöhnlich. Der Grund war vermutlich eine Umorganisation des Schulwesens in diesem Kirchdorf am Rand von Weißenfels. Die Schule in Untergreißlau wurde des Waisenhauses in Langendorf wegen ausgebaut. Sie zog einen großen Teil der Kinder ab, die sonst zu Obergreißlau gehört hatten. Dadurch verlor der Lehrer von Obergreißlau an Einnahmen. Der Siebenjährige Krieg, der die Gegend von Weißenfels gerade damals verwüstete, mag das Leben dort vollends unerträglich gemacht haben. Ob auch persönliche Probleme eine Rolle spielten? Jedenfalls hat Johann Gottlob Liebscher bald nach dem Tod seiner Schwiegermutter Sarah Tänzer den eher unüblichen Entschluß gefaßt, mit seiner Familie nach Holdenstedt in der Gegend von Sangerhausen umzuziehen. Dort war er wieder Schuldiener und Kantor. Aus den gut erhaltenen Kirchrechnungen von Holdenstedt kenne ich seine Handschrift. Er ist nicht alt geworden. Schon mit 45 Jahren starb er, ähnlich jung wie sein Vater. Doch kann ich nicht sagen, dass alle Lehrer jung starben. Viele meiner Schuldienervorfahren erreichten ein gutes Alter, manche, wie Johann Gottlob der Jüngere, sogar ein hohes. Über die Ausbildung dieser Schuldiener weiß ich fast nichts. Sie heirateten mit Anfang bis Mitte Zwanzig, waren dann also schon "fertig", auch wenn sie von ihren Schwiegervätern noch Instruktionen erhalten haben mögen. Vom Großvater Johann Bartholomäus Heise ist überliefert, daß er "Informant", das heißt Hilfslehrer, am Francke'schen Waisenhaus in Halle war, ehe er Kantor in Polleben wurde. Sogar seine Beurteilung ist erhalten[1]. Der Großvater Johann Gottlob Liebscher war Informant am Waisenhaus in Langendorf bei Weißenfels, ehe er die Stelle in Obergreißlau bekam[2]. Man gewinnt den Eindruck, dass der Schuldienerberuf ein Lehrberuf war: man lernte beim Vater, bei älteren Lehrern an möglichst angesehenen Schulen. Die "Königl. Preuß. Verbesserung des Schul-Wesens" von 1716 sagt leider auch nichts über den Bildungsgang der Lehrer. Sie ermahnt aber mehrmals die Pastoren, den Lehrer zu "informieren" und zu kontrollieren. Das klingt, als sei der Pfarrer ihm an Bildung bedeutend überlegen.Die Ansprüche an die Belastbarkeit des Lehrers waren immer hoch. Er war der geringste in der obrigkeitlichen Hierarchie, dem Pastor direkt unterstellt, aber auch der politischen Gemeinde und den Kirchenältesten gegenüber zu Respekt und Dienstwilligkeit verpflichtet. Bei den Kindern hingegen sollte er "gut regiment" halten, d.h. Autorität haben und sich durchsetzen. Außerdem sollten sie noch etwas bei ihm lernen. Erhalten ist eine Arbeitsbeschreibung aus Holdenstedt. Leider ist sie undatiert[3]. Aber die Sprache weist sie ins 18. Jahrhundert. Aus ihr geht hervor, dass der Schuldiener von Michaelis bis Trinitatis, also vom Herbstanfang bis zum Frühsommer täglich - außer Sonntags, versteht sich - sechs Stunden Schule halten sollte. Von Trinitatis bis zum Beginn der Ernte nur vormittags, von da an waren Ferien. Diese Ordnung wird in der "Königl. Preuß. Verbesserung des Schul-Wesens"[4] dahin präzisiert, dass drei Stunden vormittags und drei Stunden nachmittags zu halten seien, und insofern variiert, als bis Johannis voller Unterricht und grundsätzlich auch während der Ernte zwei Unterrichtsstunden täglich zu halten seien. In Gegenden, wo der Schuldiener wegen seines schlechten Gehaltes gezwungen sei, sich selbst als Erntearbeiter zu verdingen, da solle die Schule während der Erntezeit morgens von 5 bis 7 oder 6 bis 8 Uhr gehalten werden, damit der Lehrer noch einen vollen Arbeitstag auf dem Felde erreiche[5]. Nach der "Königl. Preuß. Verbesserung des Schul-Wesens" waren zum Schulbesuch alle Kinder eines Dorfes vom 5. Lebensjahr bis zur Konfirmation verpflichtet[6]. Wenn ältere Kinder den Unterrichtsstoff gut beherrschten, konnten sie von dieser Pflicht befreit werden[7]. Die Eltern waren offenbar wenig motiviert, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Teils scheuten sie die damit verbundenen Ausgaben, teils brauchten sie die Kinder als Arbeitskräfte. Das Königliche Consistorium in Magdeburg ermahnt also alle seine Diener, die "Inspectores, Ambt-Leute, Magistrate, auch sonst alle Obrigkeiten und Gerichts-Halter, Pfarrer, Richter und Schöppen", die Durchführung der Schulpflicht genau zu überwachen[8]. Auch der Lehrer soll regelmäßig visitiert und informiert werden. In der "Königl. Preuß. Verbesserung" wird immerhin eine Spur von Verständnis für die schwierige Lage des Dorflehrers sichtbar, während die Holdenstedter Arbeitsplatzbeschreibung "Schuldieners Verrichtungen" eher einen drohenden Unterton gegen den Lehrer hat. Das liegt vielleicht an den schlechten Erfahrungen mit Andreas Groche, der von 1698 bis 1719 in Holdenstedt unterrichtete und von dem der Pfarrer Stockmann schreibt: "bin froh, daß ich eines Schweinemagens und gottlosen Menschen los worden." Demnach könnten die Instruktionen von Holdenstedt 1719 für den Nachfolger Groches, den Schuldiener Michael Keßler, aufgestellt worden sein. Dann haben sie auch für meinen Vorfahren Johann Gottlob Liebscher, der 1759 Keßlers Nachfolger wurde, gegolten.Über den Lehrplan der Dorfschule kann ich aus meinen Quellen nur Summarisches erfahren. Die Instruktion von Holdenstedt sagt: "2. Die Jugend treulich in Beten, Lesen, Schreiben, Singen auch Rechnen informieren, fleißig zur Ehrbarkeit und allen Guten ermahnen, mit Vernunft strafen. 3. Den Chatechismus Lutherie, D. Oleary fragen, nebst den geschriebenen Fragen, ihn wohl beibringen, den größeren Evangelia, Psalmen und Lieder lernen lassen, den Kleineren aber gute biblische Kernsprüche beybringen. 4. Früh das Morgengebet andächtig lassen verrichten mit beten, lesen und singen. Darauf ohne Versäumnis mit Geduld und Deutlichkeit verhören, beim Beschluß das Vaterunser beten und etwas singen lassen, nachmittags die Großen lassen schreiben, die andern ansagen, dann mit Abendsegen und einem Gesang beschließen. 5. Mittwochs und sonnabends nachmittags wird Sing- Schreib- und Rechenstunde gehalten, wofür jeder, so hingehet, ihm Sonnabends 3 Pfg. gibt." Die "Königl. Preuß. Verbesserung" bleibt noch allgemeiner: "Und weil es hauptsächlich auf eine Anleitung zum Grunde des Christenthums mit allen Christlichen Schulen angesehen ist, so muß dieser eigentliche Zweck die fürnehmste Absicht bey der Unterweisung der Kinder seyn." Beim vierteljährlichen Examen soll geprüft werden, "wie weit sie gekommen im Lesen, Catechismo, Sprüchen, Psalmen, Schreiben, Rechnen, wie auch Fähigkeit und Sitten." Es wundert nicht, wenn später gesagt wurde, man habe im 18. Jahrhundert die Dorfkinder dumm halten wollen. Lesen, Schreiben und besonders Rechnen sind gar so sehr dem Auswendiglernen nachgeordnet. Doch fällt mir bei diesen Instruktionen auch ein: Die Schulpflicht für alle Stände war weltweit eine Neuheit. Sie wurde nur von wenigen Gebildeten gefordert. Sie mußte bei den Betroffenen, den Eltern und unteren Behörden, durchsetzbar sein. Sie brauchte Konsens. Der wurde in der Erziehung zum Christentum gefunden.4 Punkte der Holdenstedter Instruktion befassen sich mit dem Lehrplan der Schule, 8 Punkte mit dem Glockenläut- und Turmuhrplan! Wenn der Dorflehrer sonst nichts erreichte, der deutschen Pünktlichkeit hat er den Grund gelegt! Punkt 17 heißt: "Sich in allem ehrbar, exemplarisch, friedlich, fleißig und wohl verhalten." Natürlich soll sich der Lehrer nie in der Öffentlichkeit betrinken! Das erscheint uns eine angemessene Vorsicht, wenn er Autorität im Dorf haben soll. Zwei weitere Punkte spielen auf Versuchungen an, die uns nicht gleich einfielen: Die eine ist, dass der Lehrer sein musikalisches Talent als Tanzmusiker bei Dorffesten finanziell nutzen,[9] die andere, dass er seine Fähigkeit zu schreiben den Bauern für ihre Eingaben an die Obrigkeit verkaufen könnte[10]. Beides wird ihm streng untersagt! Ebenso soll er "ohne Urlaub nicht ausreisen, geschweige die Nacht außenbleiben." Der Schuldiener und Kantor hatte also Residenzpflicht.Was war nun sein Lohn? Die "Schulwohnung", die meistens in der Schule, manchmal aber auch separat war, mit Schweinekoben, Stall und Äckern. Dann das "Salarium" von der Kirchengemeinde für die gottesdienstliche Musik[11], 6 Pfennig von jedem Schulkind pro Woche für den Unterricht, 3 Pfennig von jedem Schulkind, das Mittwochs und Sonnabend zusätzlich Schreib- und Rechenunterricht nahm, Gebühren für Schreibdienste bei der Kirchengemeinde[12] oder auch der politischen Gemeinde nach einer Gebührenordnung, Naturalien zu bestimmten Festen, in Holdenstedt ein Brot und eine Wurst zum Neuen Jahr, 2 Eier von jedem Haus zu Gründonnerstag, zu den drei großen Festen das Essen vom Pfarrhaus, 4 Groschen von jeder Taufe, für die Gevatterbriefe 3 Groschen, 8 Groschen von jeder Hochzeit im Dorf, 3 Groschen beim Begräbnis eines Erwachsenen, einen beim Begräbnis eines Kindes, dazu noch kleinere Extras: das Gras auf dem Kirchhof oder 2 Mandel Birken, 1 Mandel Weidenwellen von den Gemeinde-Losen. Wenn alle zahlten und die Lehrersfrau gesund und tüchtig war, konnte die Schuldienerfamilie davon wohl leben. Aber oft war die Schulwohnung schlecht, feucht, alt, und die Bauern weigerten sich, sie instand zu setzen[13]. Die Woche über schickten die Eltern die Kinder zum Unterricht, aber am Sonnabend, wenn die 6 Pfennige fällig waren, fehlten die Schüler[14]. Welche Häuser zu Naturalabgaben verpflichtet waren, war Gegenstand immerwährenden Streits[15]: nur die Anspänner und Vollbauern - oder auch die Nebenerwerbsbauern und Kossäten? Wie weit ging der "schuldige Respekt" gegen den Pastor? Manche Pfarrer nutzten den Lehrer als Vertreter aus.Besser als ich das aus den spärlichen Quellen erarbeite, wusste Joseph Gotthilf Benjamin Liebscher, der Kantorensohn, all diese Dinge. Er hatte sie sozusagen im Blut. Und sein Vater, der ihn in der Dorfschule von Polleben unterrichtete, mag wohl wie mein Schwiegervater zu seinem Sohn gesagt haben: "Sprich mir nach: Ich will nicht Lehrer werden!" Hatte der Vater den festen Wunsch, den begabten Sohn aufs Gymnasium zu schicken? Verlangte das zielstrebige Kind nach höherer Bildung und besseren Chancen als seine Vorfahren? Schlug es Pfarrer Ramdohr vor, der selbst gerade erwog, seinen Ältesten, zwei Jahre jünger als Benjamin[16], auf die Latina nach Halle zu schicken? Jedenfalls kam Benjamin 1799, 12 Jahre alt, auf das renommierte Gymnasium der Francke'schen Stiftungen[17]. Das ist möglich trotz seiner Armut, denn es gibt Freitisch und Stipendien für bedürftige, kluge Jungen. Während der Schulferien wird er zu Hause in Polleben sein. 1804 kommt er erfolgreich in die Klasse Prima. Ostern 1805 erhält er das Zeugnis der Reife. Das Theologiestudium steht ihm offen. Und seine ehemaligen Lehrer ebnen ihm auch den finanziellen Weg dazu: er kann am Waisenhaus unterrichten gegen Wohnung und Essen.Mit dem Studium allerdings läuft es nicht so glatt wie mit der Latina. Napoleon kommt. Nach seinem Sieg bei Jena und Auerstädt habe der siegreiche Kaiser der Franzosen die Hallenser Universität auf zwei Jahre geschlossen, lese ich in den Auskünften zum Lebenslauf von Benjamin Liebscher. Erst 1808 habe er seine Studien fortsetzen können[18].Ein ungeduldiger Student ohne Mittel kommt nach Polleben zurück. Pfarrer Ramdohr nimmt sich seiner an, indem er ihn zum Hauslehrer seiner Kinder macht. Von Herbst 1806 bis zum Frühjahr 1808 unterrichtete der junge Lehrerssohn die Pfarrerskinder. Unwahrscheinlich, dass die 15jährige Johanna seine Schülerin gewesen wäre. Er war wohl für die Knaben da, Ludwig David Ferdinand, damals etwa 11, und Karl Gottlob Alexander, damals 9 Jahre. Aber vielleicht setzte sich die wissbegierige Pfarrerstochter manchmal dazu, wenn der junge Mann ihren Brüdern aus der Welt der Wissenschaft erzählte? Auf jeden Fall trifft er das Mädchen bei den Familienmahlzeiten.Ob Benjamin schon seit seiner Kindheit an Johanna Ramdohr denkt? Oder ob er erst als 20jähriger Student im Jahr 1806 sieht, was an ihr ist? Warum man Benjamin zum Hauslehrer annahm, obwohl der älteste Ramdohr, Friedrich Christian Carl, ebenfalls von der Schließung der Universität betroffen war, kann man nur raten. Benjamin macht später ein weitaus besseres Examen als Friedrich - vielleicht war er also auch der bessere Lehrer? Oder war man der Ansicht, dass Brüder nicht zu Lehrern der kleinen Geschwister taugen? Oder war Pfarrer Ramdohr bestrebt, seinen Sohn die Schließung der Hallenser Uni nicht spüren zu lassen und fand eine Möglichkeit, ihn nach Jena zu senden[19], während der junge Liebscher auf den Freitisch in Halle angewiesen war?Jedenfalls hatte Benjamin eineinhalb Jahre Zeit, täglich Johanna zu sehen. Von 1808 bis 1811 hingegen muss er wieder in Halle studieren, dabei seinen Lebensunterhalt als Oberlehrer am Waisenhaus verdienen. Er macht ein glänzendes Examen vor dem Königlichen Consistorium in Berlin[20]. Dank der Empfehlungen seiner Vorgesetzten an der Latina[21] wird er 1811 Kantor und Musikdirektor in Brandenburg/Havel. Zwar ist er damit auch Lehrer wie seine Vorfahren, aber ein studierter. Und: er verdient bares Geld. Trotzdem muß er noch drei Jahre auf seine Johanna warten. Warum? Weil er nur der Kantorensohn ist und sie eine Pfarrerstochter? Weil er erst Geld zusammensparen muss für eine Wohnung? Oder verzögert der Befreiungskrieg die Hochzeit? Erst im Januar 1814 endlich heiratet Benjamin Liebscher die Pfarrerstochter Johanna Ramdohr und keine andre[22].
Ev. Konsistoriumsarchiv in Magdeburg unter Rep. A Spec P "B. Liebscher", Nr. L 255, Fragebogen zum Bildungsgang von 1822
Domstiftsarchiv Brandenburg, Ephoralarchiv Brandenburg-Neustadt, Akte BEN 185/232: Beurteilung Liebschers durch Direktor Knapp und Erwähnung weiterer vorteilhafter Beurteilungen.