Die Liebschers in Brandenburg

Zuerst veröffentlicht in: EKKEHARD, Familien- und regionalgeschichtliche Forschungen, Hallische Familienforscher "EKKEHARD" e.V.Neue Folge 10 (2003), Heft 1

Joseph Gotthilf Benjamin Liebscher und Johanna Louise Friederike, geb. Ramdohr

Am 22. 11. 1994 steige ich abends kurz vor acht Uhr aus dem Zug: Brandenburg Hauptbahnhof. Ein düsterer Ort, Pfützen, kalter Wind, kaum Beleuchtung, viele Bauzäune und Umwege für die Reisenden, denn der Bahnhof soll schöner werden im Vereinten Deutschland.

Vor dem Bahnhof ein Aufmarschplatz aus DDR-Zeiten, breite Straßen, die vor Dunkelheit und Leere gähnen. Wo ist die Altstadt Brandenburg? Ich nehme ein Taxi, obwohl der Weg nicht weit sein kann zur Steinstraße und dem Café Blaudruck, wo ich wohne.

Heute vor genau 180 Jahren ist in dieser Stadt Brandenburg einer meiner acht Ururgroßväter geboren worden. Sicher war es ähnlich dunkel, nass und kalt, aber kein Bahnhof, kein Taxi. Im gemütlichen Café schaue ich die jungen Frauen an, jung wie die Erstgebärende damals, meine Urur-Urgroßmutter Johanna Louise Friederike Liebscher, geborene Ramdohr mit ihren 23 Jahren. Wer mag ihr beigestanden haben in ihren Kindsnöten, hier, weit weg von Polleben, von Mutter, Schwestern und Tanten? Bei Bier und Wurstplatte feiere ich sinnend die Geburt von Friedrich Heinrich Franz Liebscher, meinem Vorfahren, Sohn dieser Stadt.

Am Morgen dann im Domstiftarchiv von Brandenburg finde ich seinen Namen in den Taufbüchern von St. Katharinen. Er und seine drei jüngeren Geschwister sind hier geboren. Brandenburg ist der Ort der Kindheit für drei Söhne und eine Tochter dieses Ehepaares Liebscher aus Polleben, des Kantorensohns und der Pastorentochter. Leider habe ich zu viel zu tun im Archiv und muß um 16 Uhr den Zug erreichen, der mich umständlich über Berlin nach Hause zurückbringt, als dass ich noch herumstromern könnte auf der Suche nach dem Kantorenhaus von St. Katharinen und St. Pauli. Kaum habe ich Zeit, die Kathedrale St. Katharinen von außen und das Gebäude des Alt- und Neustädtischen Gymnasiums von 1796 unter seiner blauen Bauplane zu betrachten. Das wird für später aufgehoben! Die Stadt zeigt überall den Wunsch, zugänglicher und hübscher zu werden.

Musikdirektor am Vereinigten Alt- und Neustädtischen Gymnasium und Kantor an St. Katharinen und St. Pauli ist der junge Vater Joseph Gotthilf Benjamin Liebscher seit dem 1. April 1811. Am 22. 11. 1810 (genau gestern vor 184 Jahren!) ist er von Halle aus hierher empfohlen worden. Es ist ein Beweis für die Strahlkraft der Francke’schen Pädagogik noch im frühen 19. Jahrhundert, dass ein Brandenburger Gymnasium einen Junglehrer aus Halle anforderte. Deswegen möchte ich das Empfehlungsschreiben für meinen Vorfahren hier einrücken:

Brief des D. Knapp aus Halle vom 26. Nov. 1810 an den Superintendenten Lisco in Brandenburg

Hochwürdiger Herr Superintendent

Sehr geehrter Herr Vetter!

Es gereicht mir zur Freude, Ihnen melden zu können, daß ich unter den Lehrern bey den Schulen des Waisenhauses einen gefunden zu haben glaube, der zu der erledigten doppelten Stelle in Brandenburg passen wird. Ich habe ihn, um die Sache möglichst abzukürzen, gleich eine Bittschrift aufsetzen lassen, die ich hierbei offen zu übersenden die Ehre habe. Für Herrn Liebschers musikalisches Talent bürgt unser Prof. Türk, mit dem ich seinetwegen Rücksprache genommen habe. Seine Brauchbarkeit als Lehrer, und seinen sittlich guten Character hat er uns seit mehreren Jahren so hinreichend bewährt, daß wir ihn gern noch bey uns behielten. Auch empfiehlt er sich durch anspruchslose Bescheidenheit; und wenn er sich denen, welchen er noch nicht näher bekannt, anfangs als etwas blöde ankündigt, so ist ihm doch bald durch Milde und durch freundliche Aufnahme, Muth und Vertrauen einzuflößen. Er erwartet nun die weiteren Verfügungen des hochlöbl. Magistrats.

Ihrem freundschaftlichen Andenken empfehle ich mich angelegentlich und verbleibe mit aufr. Hochachtung und Liebe

Euer Hochehrwürden

geh. Diener u. Vetter

Knapp

Halle

d. 22. Nov. 1810

Dies ist des späteren Ephorus Liebscher erste Stufe im Beruf, und sie ist gleich eine ehrenvolle. Im Dezember legt er eine Prüfung vor dem Rector des Gymnasiums und dem Superintendenten ab und schon im Januar erhält er die Vocation durch den Magistrat und die Bestätigung durch die Kurmärckische Regierung in Potsdam. Sein Antritt in Brandenburg verspätet sich jedoch. Er schildert das in einem Brief an den Superintendenten Lisco, den ich hier einrücken möchte:

Hochwürdiger,

Insonders hochzuverehrender Herr Superintendent!

Kaum weiß ich Worte zu finden, mit welchen ich meine freudigen und dankbaren Gefühle auch nur zum Theil zu bezeichnen vermöchte. Mächtig fühlte ich mich durch den Inhalt Ihres mir unvergeßlichen Schreibens vom 21. des vorigen Monats ergriffen; mächtiger noch durch die unverdiente Güte, welche aus der schnellen Mittheilung dieser frohen Nachricht aber sowohl, als aus jedem dabei gebrauchten Worte so schön hervorleuchtete.

Nehmen Ew. Hochwürden zuvörderst den reinsten und wärmsten Dank von mir, der ich in Ihnen den Stifter meines Glückes verehre. Ich kenne jetzt nur noch den Einen Wunsch in der Welt, mich durch den beharrlichsten Eifer in der Erfüllung aller meiner Berufspflichten eines so ehrenden Vertrauens, einer so ausgezeichneten Güte einigermaßen würdig zu zeigen. Dieser Wunsch schwebt mir unaufhörlich vor Augen; diesen weiß ich durch wiederholtes Lesen Ihres theuren Briefes und durch die Erinnerung an die höchst gütige, und alle meine Erwartungen übertreffende Aufnahme, welche ich in Brandenburg vor Allem bei Ihnen, sodann aber auch bei andern würdigen Gönnern fand, lebendig zu erhalten.

Steht daher die Kraft mit meinem Willen nur in einigem Verhältniß, so darf ich hoffen, daß Sie Sich in der Folge von der Wahrheit und Innigkeit meines Dankes überzeugen werden.

Unendliche Freude gewährt es mir, daß ich Ew. Hochwürden Wunsche genügen, und einige Zeit vor dem Aprilmonate, etwa gegen die Mitte des März, mein neues Amt antreten kann. Meine bisherige Verbindung als Lehrer sowohl als meine ökonomischen Verhältnisse waren die Ursach, warum ich die Erfüllung der süßen Pflicht, mich Ihnen schriftlich dankbar zu bezeugen bis heute aufschieben mußte, und warum ich nicht mal im Stande bin, früher in Brandenburg einzutreffen.

Unser würdiger D. Knapp und der Herr Inspector Kirchner nehmen an meinem Glücke herzlichen Antheil. Beide empfehlen sich Ew. Hochwürden hochachtungsvoll; der letztere würde sich die Ehre nicht versagt haben, selbst an Sie zu schreiben, wenn ihn nicht ein gefährlich bößer Hals, von dem er jedoch glücklich wieder genesen ist, auf längere Zeit von seinen Geschäften abgehalten hätte, mit denen er daher gegenwärtig so überhäuft ist, daß er ihnen jeden Augenblick widmen muß.

Mit der gehorsamsten Bitte um Ihr ferneres Vertrauen verbinde ich die Versicherung meiner tiefsten Hochachtung und dankbarsten Ergebenheit, und verharre lebenslang

Ew. Hochwürden

ganz ergebenster Diener

Liebscher

Halle, d. 9. Febr.

1811

Der Antritt der Lehrer- und Kantorenstelle in Brandenburg erlaubt Benjamin Liebscher zu heiraten. Mit 526 Talern im Jahr kann er eine Familie ernähren.

Aber hart arbeiten muss er. Ich finde seinen Arbeitsbericht von 1813 über seine zwölfstündige Wochenchorarbeit am Gymnasium, der die Abend- und Sonntagsdienste an den Kirchen ahnen läßt. Dabei ist er als Kantor nicht zugleich Organist! Die Leitung des Gemeindegesangs mit oder ohne Chor ist ein theologisches, kein "technisches" Amt. Daneben ist er vielmehr Lehrer der Lateinschule. Ich finde seinen Wochenstundenplan von 1820: 20 Wochenstunden in Latein, Griechisch, Deutsch, Rechnen und Physik.

Dieses Doppelamt hat seine Spannungen und Unzuträglichkeiten wie alle Berufsarbeit seit Adam: Dornen und Disteln. Bitter beklagt sich der junge Musikdirektor über die Unzuverlässigkeit der pubertierenden Schulbuben: kaum sind sie einigermaßen geschult und als Sänger brauchbar, schwänzen sie, wann sie können, nehmen Latein, Griechisch und Rechnen wichtiger als das Singen, und werden darin unterstützt durch die Gleichgültigkeit des Rectors gegen den Gesang: es fehlt an Gelegenheiten zum öffentlichen Auftritt für den Chor im Schulalltag und damit Anerkennung und Befriedigung.

1813 ist der Kantor Liebscher seit zwei Jahren im Dienst und zieht Bilanz über seine Erfahrungen. Er tut dies gegenüber seinem Dienstherrn, dem Superintendenten Lisco, der die geistliche Schulaufsicht hat. Er sieht in Lisco seinen Gönner, der ihn an diese Stelle aus Halle geholt hat. Und er beklagt sich ausdrücklich erst, nachdem er bei seinem direkten Vorgesetzten, dem Rector Barth, außer Vertröstungen nichts erreicht hat. Er wehrt sich gegen den Verschleiß an Kraft, den seine Stelle bedeutet. Und er macht Vorschläge, wie die Chorarbeit auf sichere Füße gestellt werden könnte.

Dabei ist er nicht zimperlich. Ein Mensch wie ich, der dank Verwandtschaft und Freundschaft in mehrere Schulen hineinschauen konnte, fühlt förmlich den Stoß der Empörung, den das Management des Brandenburger Gymnasiums empfinden muß. Diesem jungen Mann von 27 Jahren ist seine Stelle als Vierter Lehrer und Musikdirektor wohl zu Kopf gestiegen! Nur die ersten Vier Lehrer, der Rector, der Prorector, der Subrector und der Musik-Direktor sind anteilig am Schulgeld, das die etwa 100 Schüler zahlen, beteiligt. Die übrigen Lehrer und die Collaboratoren haben nur ihr Gehalt. Nun will der neue Musikdirektor diese Einnahmen der Rectoren dadurch vermindern, dass er 12 - 16 singebegabten Schülern einen Freiplatz gewährt gegen die Auflage, an allen Chorproben und allen öffentlichen Auftritten des Schulchors unbedingt teilzunehmen: eine erhebliche Einbuße an der Zulage! Dass der listige junge Mann im Verlauf seiner Argumentation zusätzlich darauf hinweist, dass es schließlich seine Chorarbeit ist, die den vier Häuptern der Schule die noch weit wichtigere Zulage sichert, nämlich das Einkommen aus den "Recordationen", macht das Fass erst voll. Die Recordationen in Brandenburg scheinen Stiftungen von Gedenkgottesdiensten für Verstorbene zu sein, die der Gymnasiumschor begleitet oder ausführt und deren Gewinn der Schulleitung persönlich zusteht. Nach einer Gehaltsliste von 1820 ist der Anteil der Recordationen am Gehalt von Musikdirektor Liebscher fast 1/3 der Gesamtsumme. Dass er die Recordationen trotzdem "leidig" nennt, scheint von daher nicht gerechtfertigt. Es spricht nur für die Sysiphus-Mühe, die ihm der Chor macht. Und für seinen Ärger über die drei Rectoren, die wie beim Schulgeld auch bei den Recordationen den Löwenanteil einstecken, ohne einen Finger zu rühren.

Seine Beziehung zu Rector Barth wird nach diesem Bericht an die Schulaufsicht nicht gerade harmonisch gewesen sein, denke ich. Der Rector nämlich lehnt Liebschers Vorschlag rundweg ab. Ein Singechor ist immer eine Quelle der Unruhe. Zucht und Sitte einer Schule können unter einer solchen Einrichtung nur leiden. Mit Absicht tut er so, als handle es sich bei Liebschers Idee um die Gründung einer Kurrende, die in den Gassen gegen Geld singt. Dass Liebscher vom schon bestehenden Schulchor bzw. der Kantorei spricht und gerade gegen die Regellosigkeit und Unordnung der jugendlichen Sänger durch feste Verträge einschreiten will, ignoriert er, um nicht zugeben zu müssen, dass er keine Einbuße an Gehalt will. Die Recordationen hat es immer gegeben! Der Musikdirektor hat immer auf diese Weise für das Gehalt der Honoratioren des Gymnasiums gesorgt. Nur keine Neuheiten! Alles Unsinn!

Leider wird an diesem Punkt, wo ich doch nun gerne wüsste, ob mein Urur-Urgroßvater sich seufzend gefügt hat oder ob ein Kompromiss gefunden wurde und wie er aussah, die Aktenlage des Gymnasiums, die bis dahin etwas Gemessenes hatte, chaotisch. Aber es ist nicht die Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig, nicht die Spannung vor dem Wiener Kongress, die die Lehrerschaft des Vereinigten Alt- und Neustädtischen Gymnasiums Brandenburg aufwühlt. Von 1814 bis 1822 zeichnen die Akten der Schule den Kampf des Rectors Barth gegen Prorector Prox. Ob das Auf und Ab dieses Kampfes seismographisch die Erschütterungen des wiedererstarkenden Preußen spiegelt, kann ich nicht sagen. Prox ist wohl ein unfähiger Lehrer, nach dem, was man so liest, ein pflichtvergessener Prorector, aber ein zäher Verteidiger seiner Stelle und seiner Einkünfte. Diese Akten sind für mich insofern interessant, als sie zeigen, dass Rector Barth sehr wohl den Finger auf Fehler und Versäumnisse seiner Untergebenen legen kann - und dass er das bei der Auseinandersetzung mit meinem Vorfahren mit keiner Silbe tut. Bis 1822 kommen die beiden lautlos miteinander aus.

Liebscher selbst mag ja Ende 1813 zunächst an seine Heirat mit Johanna Louise Friederike Ramdohr gedacht haben, die am 28. 1. 1814 in Polleben stattfindet, an die Einrichtung einer Wohnung und die Übersiedlung seiner Frau nach Brandenburg. Die junge Ehe mag ihn friedlich gestimmt haben, und die Last des Doppelamtes ihm leichter erschienen sein durch häusliches Glück. Privates ist aus Akten schwer zu erschließen. Aber die Patenlisten bei den vier Taufen der Kinder zeigen den Kreis, in dem sich die Liebschers bewegen: einen Kreis aus den Pfarrern aller Kirchen Brandenburgs, dazu aus Lehrern des Gymnasiums und von Lehrern an der Ritterakademie am Dom. Ein großer Kreis! Bei den beiden ersten Kindern gibt es noch "abwesende Paten": Großeltern und Verwandte, die man mit dem Patenamt in der Ferne ehrt. Die beiden jüngeren Kinder haben nur noch "anwesende" Paten, Menschen aus der Stadt Brandenburg. Ich schließe, dass die Liebschers sich eingelebt haben. Ich schließe, dass sie kontaktfreudig waren und dass die Pfarrerstochter aus Polleben es trotz der schnell aufeinanderfolgenden Geburten verstand, ein offenes Haus zu führen. Besonders rühren mich die "demoiselles" in den Listen. Jedes Kind bekommt 1 bis 3 junge Mädchen als Paten. Gerne stelle ich mir die selbst noch junge Frau Kantorin als ältere Freundin dieser Mädchen vor. Sicher helfen sie auch bei der Betreuung der Kinder.

Beim letzten Kind, Ernst Adolph Bernhardt, ist wieder ein Verwandter Pate, aber kein abwesender. Zu meinem großen Bedauern fehlen zunächst sowohl in der Patenliste als auch in den Schulakten die Vornamen des "Collaborators" Ramdohr. Am 18. 8. 1820 ist Ramdohr "Schulamtskandidat", am 16. November 1820 erhält er seine "Vocation", am 8. 1. 1821 wird er "geschäftsmäßig introduciert". Und am 4. 9. 1821 hält er seinen Neffen über die Taufe! Seine Namen und sein Geburtsdatum finde ich später in den Karteikarten zum "Pfarrerbuch": Karl Gottlob Alexander Ramdohr, geb. am 8. 8. 1797 in Polleben, 8. Kind der Pfarrersfamilie dort, 1806 – 1808 Schüler seines späteren Schwagers Liebscher, 1818 Lehrer an der Töchterschule des Waisenhauses in Halle, dann Privatlehrer in Düsseldorf. 1822 macht er sein 2. theologisches Examen. Nun hat die Frau Kantor also einen jüngeren Bruder in der Nähe. Er wird lange, bis er alt ist, in Brandenburg bleiben. Noch 1881 singen die Altenherren des Gymnasiums erinnerungsselig: "Als der Olle, Ramdohr, sein Hebräisch trieb/ und zuweilen ochsig auf Quartaner hieb."

Die Taufe der Liebscherkinder wird immer von Prediger Lange von St. Catharinen vollzogen, nur einmal muss er sich vertreten lassen durch Prediger Otto von St. Pauli, Liebschers zweiter Kirche. Otto ist bisher schon Pate gewesen, nach seiner Tochter und seiner Frau. Dass Lange später Nachfolger von Lisco als Ephorus des Gymnasiums wird, deute ich auf Liebschers Menschenkenntnis: er wählt sorgfältig, mit wem er es zu tun haben will. Und er kann wählen, weil er gefällt. Das war in den Franckeschen Stiftungen so, so ist es in Brandenburg, und so ist es bei den Konsistorien, denen er unterstellt ist.

An der Schule dauern die Querelen an. Prox soll das Honorar für seine Vertretung von seinem Gehalt zahlen. Weder die Regierung in Potsdam noch die Commune Brandenburg wollen sowohl dem Frühpensionierten als auch einem jungen Collaborator Geld geben! Der Ephorus Lisco als verantwortlicher Schulrat ist verzweifelt: Entweder leiden die Lehrer durch übermäßige Vertretungslasten oder "leiden die Scholaren" durch Ausfall an Unterricht. Ach, wie auch wir das heute kennen!

In den Aktenbergen des Falles Prox suche ich lange vergeblich nach einem weiteren Hinweis auf meinen Ahn. Erst ganz zum Schluß, 1822, als es soweit kommt, dass das Kollegium um seine Stellungnahme zu Prox gebeten wird, schreibt Liebscher lakonisch unter die Stimme eines Kollegen, der sich heraushält: "Ich ebenfalls, zumal da ich bald nach Michaelis abgehen werde."

Das klingt ganz froh. Er hat das Gymnasium Brandenburg herzlich satt. Sorgenvoll zählt der neue Superintendent der Schule, Ephorus Lange, der Seelsorger der Familie Liebscher, unter die Schwierigkeiten seines Amtes, "dass der Musik-Direktor Liebscher, welcher auch Stellvertreter für Prox ist, in zwey Monaten unser Gymnasium verlassen wird, und es ungewiß ist, ob sein Nachfolger in jener Rücksicht für seine Stelle erfolgen werde, weil der Musik-Direktor auch Ordinarius der unteren Klassen ist." Offenbar hat Benjamin Liebscher etwas Besseres gefunden. Es ist die Pfarrstelle in Steuden, südwestlich von Halle, im heimatlichen Sachsen-Anhalt, in der Nähe von Teutschenthal, wo ein andrer Schwager, der älteste Bruder von Johanna Louise Friederike, Pastor ist, und in der Nähe von Hedersleben, wo eine Schwester von Johanna Louise Friederike als Frau des Pfarrers Sommer lebt. Aus der Frau Kantorin wird die Frau Pfarrer. Jetzt ist die Pfarrerstochter da angelangt, wo sie hingehört. Und Benjamin ist endlich Pastor, wie er es ihr versprochen hat. Oder war die Geschichte dieser Ehe doch ganz anders?

 

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