Zuerst veröffentlicht in: EKKEHARD, Familien- und regionalgeschichtl. Forschungen, Hallische Familienforscher "EKKEHARD" e.V., Neue Folge 7 (2000) Heft 4, S. 97ff
Daß meine Vorfahren so unübersehbar zahlreich sind, ist etwas, an das ich vorher nie gedacht hatte. Daß sie charakterlich so verschieden sind, hat mich schon als Kind beschäftigt. Ich fühlte früh, daß ich die Erbin widersprüchlicher Traditionen bin.
So ist zum Beispiel die Familie Ramdohr aus Aschersleben seit langem gewohnt, einzelne Söhne zur Universität zu schicken. Diese Tradition ging über die Pfarrerstochter Johanna Luise Friederike Ramdohr in die Familie Liebscher ein, die vorher unstudierte Schulmeister stellte. Ihr Sohn heiratete eine Tochter aus der alten Akademikerfamilie Nathusius. Aus dieser Verbindung ging Johanna Liebscher hervor, die die Frau unsers Urgroßvaters Heinrich Eberhardt wurde. Von den Eberhardts war, so weit ich bis jetzt blicken kann, nie jemand an einer Universität gewesen.
Der älteste Ramdohr aus Aschersleben, den ich in den mir zugänglichen Matrikeln der alten Hochschulen fand, ist "Rambthor, Andr, Ascaniens. Sax. 1633 a, 63" in Jena. Als dieser Andreas Ramdohr, am 2. 4. 1613 in Aschersleben geboren, später Prof. Dr. iur. in Jena und danach Syndikus in Braunschweig, noch ein Junge war und in Aschersleben zur Schule ging, war das Gymnasium Stephaneum in Aschersleben schon 300 Jahre alt. Es ist 1325 als Ratsschule gegründet worden. Es gefällt mir, daß der Rat von Aschersleben irgendwann verfügte, daß zum Meister, der die Schule leitet, ein Lehrer bestellt werde, "der den Kindern genehm ist". Der Probst von St. Stephani bestätigt ihn im Amt. Eine Freie Stadt und eine gute Schule, das gab den Ascherslebenern die Chance, Akademiker zu werden.
Der Syndikus Dr. Andreas Ramdohr aus Aschersleben, der 22 Gesandtschaften für seinen Braunschweiger Fürsten leitete und zahlreiche juristische Schriften hinterließ, die im Ergänzungsband 6 zu Jöchers Gelehrtenlexikon erwähnt sind, wurde für seine Verdienste geadelt. Er ist der Stammvater der Braunschweiger von Ramdohrs, aus denen dann 1757 Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr hervorging, der als Kunstkritiker im Großen Brockhaus steht. "Der Stamm blühte fort und zählt im Königreich Hannover ... zu dem ritterschaftlichen Adel der hoyaschen Landschaft," weiß das Neue Allgemeine Deutsche Adelslexikon von 1859 - 1870 zu berichten.
Ob die späteren Ascherslebener Ramdohrs ohne von, die weiterhin als Jungen das Stephaneum besuchten, von einem Bruder oder Vetter des Syndikus stammen oder von einem ohne Adel in die Vaterstadt zurückgekehrten Sohn, habe ich nicht herausgefunden. Es gab aber sozusagen immer neben den Braunschweiger Ramdohrs, die auch in Celle und Lüneburg wohnten, solche in Aschersleben. Im Wintersemester 1661 studiert "Ramthor, Andr. Ascaniens." in Leipzig. Er könnte der Ahnherr des Ascherslebener Familienzweiges sein.
Einem von ihnen, Johann Daniel Ramdohr, hat die Stadt an ihrer Promenade um den ehemaligen Wall eine Büste aufgestellt "zur dankbaren Erinnerung an den Wohltäter der Waisen" von Aschersleben. Johann Daniel Ramdohr ist 1775 geboren, sein Vater war der Oekonom und Kürschnermeister Andreas Ramdohr, kein Vorfahr von uns. Der Vater stirbt früh, die Mutter erzieht Sohn und Tochter, Johann Daniel besucht das Stephaneum, studiert Jura, arbeitet am Gericht, vermehrt geschickt das Ererbte. Er bleibt ledig, die einzige Tochter seiner Schwester führt ihm den Haushalt. Schon zu Lebzeiten wohltätig, widmet er testamentarisch sein beträchtliches Vermögen - 570 Morgen Land und 62 000 Taler Kapital - als "Ramdohrs milde Stiftungen" der Ausbildung begabter Waisen. Sein Portrait, im Alter aufgenommen, zeigt einen breitgesichtigen, breitmündigen Mann mit abstehenden Ohren und kurzem, dichtem weißem Haar, beleibt, gedrungen, mit breiten Händen. Ob das ein "typischer Ramdohr" ist, kann ich nicht sagen. Es ist bis jetzt das einzige Bild von einem Ramdohr, das ich sah.
Ein anderer ist der Bäckermeister Gustav Ramdohr, der 1868 seine Bäckerei aufgibt und sich dem Getreidehandel widmet. "Die Bedeutung dieses Mannes für das öffentliche Leben unserer Stadt hat die Königliche Regierung durch die Verleihung des Titels "Königlicher Kommerzienrat" anerkannt". Unter den Schenkungen an die Hauptkirche um die Jahrhundertwende wird ein Altar von Kommerzienrat Ramdohr erwähnt. Die Erben dieses Mannes sind offenbar nicht nur Kaufleute, sondern auch Industrielle gewesen. "Ramdohr", sagt der Leiter des Stadtmuseums bei meinem ersten Besuch, "das ist doch hier ein bekannter Name!" und folgerichtig ist nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 ein junger Kaufmann Dr. Ramdohr wieder in die Familienstadt zurückgekehrt. Doch diese Kaufleute und stadtbekannten Ramdohrs sind nicht unsere Linie!
Der erste Ramdohr, der unser Vorfahr ist, steht vielleicht noch in nahem Bezug zum Kaufmannsgeschlecht. Er muß um 1675 herum geboren sein. Sein Sohn, Johann David Ramdohr, etwa 1705 geboren, findet sich in der Matrikel von Halle: "Ramdohr, Joh. David, Ascaniens., 4. 9. 1728, Jur." Er heiratet 1729 die Tochter des Lohgerbers Gottfried Rudeloff aus Aschersleben und wird als "Bürger und Brauherr" am 8. 11. 1730 Vater von Johann Christian Ramdohr, dem Mann, mit dem unsere erzählbare Familiengeschichte beginnt. Und gleich setzt das ein, was ich als für unsere Ahnen in vielen Zweigen bezeichnend empfinde: unser Vorfahr verläßt Aschersleben, die Heimat der Ramdohrs. Er verläßt die schönen alten, noch heute wohlerhaltenen Türme der Freien Stadt, die prächtige Kirche St. Stephani und die alte Ratsschule, das Stephaneum. Er verläßt das alles, und es ist nicht recht ersichtlich, warum. Irgendwie, kommt es mir vor, hat das mit dem Stephaneum zu tun.
Schon als der Jurist, Bürger und Brauherr Johann David Ramdohr noch ein Junge ist und das Stephaneum besucht, ist das Gebäude fast 200 Jahre alt und recht baufällig. Es hagelt Klagen der Eltern an die Stadt. 1728 wird es noch einmal, aber völlig vergeblich, das heißt ohne rechten Erfolg, für 1000 Taler renoviert. Als der spätere Pfarrer, Johann Christian Ramdohr, das Stephaneum besucht, wird das alte Gebäude abgerissen und auf demselben Grundstück im Schatten von St. Stephani ein Neubau errichtet.
"Am 21. 9. 1745 wurde der neue Bau eingeweiht". "Pastor Temme an der Neustädter Kirche hat eine ausführliche Beschreibung dieser Feierlichkeit hinterlassen. Sie befindet sich hier auf dem Rathause". Johann Christian Ramdohr hat diese Feierlichkeit als Fünfzehnjähriger miterlebt. Mehr als ein Jahr lang, während der Abriß- und Bauzeit, ist er in wechselnden Unterkünften schlecht und recht unterrichtet worden. Ich hoffe, er hat sich über die neuen Unterrichtsräume gefreut! Beim Neubau hatte man "anfangs auch an Wohnungen der Kollegen im Schulhause gedacht"...."Aber bald gab man diesen Gedanken auf." Das Gebäude ist klein.
Es steht bis heute, ein Bau von den angenehmen Abmessungen des Spätbarock, und wurde gerade sehr hübsch und reinlich von außen restauriert, von innen entkernt und modernisiert. Es ist jetzt das Kirchliche Verwaltungsamt am Stephanikirchhof 7.
Das städtische Gymnasium war seit langem dem Haus entwachsen. Schon vor 1925, der 600-Jahr-Feier, hatte es neue und größere Gebäude am Stadtwall bezogen. Ich darf im Stadtarchiv in der Festschrift blättern. Ich suche nach Spuren von Johann Christian Ramdohr, von dem ich aus den Kirchenbuchauszügen weiß, daß er zwischen 1754 bis 1764 Subrector und Conrector im alten Stephaneum war.
Über die Verfassung der Schule kann ich folgendes finden: Unter dem Rektor Petrus Lentz hatte sich die lateinische Schule schon vor 1527 der Reformation verschrieben. 1562 untersteht sie der Kirchenvisitation des Bistums Halberstadt. Seit 1739 galt an ihr die von Friedrich Wilhelm I. befohlene Konsistorial-Kirchen und Schulordnung.
Was durch diese Schulordnung formal vorgeschrieben war, nämlich eine aus pietistischem Geiste geborene Pädagogik, kam praktisch in der Schule zur Blüte durch den Rektor Johann Jakob Stäcker, der, seinem großen Vorbilde August Hermann Francke in Halle folgend, bereits 1715 einen neuen Lektionsplan verfaßte. Stäcker leitet die Schule zur Schulzeit von Vater und Sohn Ramdohr, er betreibt energisch den Neubau, wie man seinem Dank an Gott nach der Fertigstellung entnehmen kann, und er ist noch Schulleiter, als der 24jährige Johann Christian Ramdohr nach 3 Jahren Studium in Halle und zwei Jahren Hauslehrerdasein beim Justitiar Köhler in Binsenrode als Subrector im Stephaneum anfängt. Als am 18. März 1755 das 50jährige Dienstjubiläum des verehrten Stäcker gefeiert wird, muß der junge Subrector Ramdohr vielleicht das lateinische Ehrengedicht auf ihn schreiben! Das wäre passend.
1757 stirbt Stäcker. Ihm folgt F. W. Placotomus und schon 1759 der nächste Rektor: G. W. Aurbach. Was wäre gewesen, wenn Gottfried August Bürger, der einzige Dichter, der je das würdige Stephaneum besuchte, einen Rektor Stäcker oder später den Reform-Rektor Sangerhausen angetroffen hätte? Aber Bürger stieß ausgerechnet auf Rektor G. W. Aurbach, und das auch noch mitten im Siebenjährigen Krieg, wo die Gehälter der festbesoldeten Lehrer infolge der Geldentwertung so kümmerlich waren, daß eine äußerst gereizte Stimmung an der Schule geherrscht haben muß.
Am 25. 8. 1760 wird Gottfried August Bürger wegen eines Spottgedichts auf die Perücke des Rektors relegiert. Vorausgegangen ist eine Prügelei Bürgers mit einem andern Primaner, auf dessen "ungeheuren Haarbeutel" Bürger auch schon ein Gedicht gemacht hatte. Der Rektor hatte nur Bürger mit einer Tracht Prügel bestrafen lassen, nicht seinen Kontrahenten. Wahrscheinlich gab man ihm allein die Schuld. Es wird nicht der erste Ärger mit dem ungebärdigen geistreichen Burschen gewesen sein. Man war ihm einfach nicht gewachsen. In Halle ist der zukünftige Dichter sicher besser aufgehoben. Rektor Niemeyer nimmt ihn am 8. 9. 1760 nach einer Aufnahmeprüfung in das Francke'sche Pädagogium auf.
Bürger hat sich mit Aschersleben nie wieder ausgesöhnt. In einem Brief vom 17. 11. 1767 schreibt er: "Denn mich ekelt, ja mich ekelt dieser Heimat, von deren Bürgern man schwören möchte, daß sie von den Skythen oder Boötiern stammen, die durch ihre Sittenrohheit anwidern und sich jeder Bildung bar zeigen ..... Alle, welche sich hier für Gelehrte ausgeben, erröten doch nicht im mindesten, obgleich ihnen Unwissenheit und Stumpfsinn an der Stirn geschrieben stehen, auf dem Cothurn einherzugehen ....O, daß bald der heitere Tag anbräche, an dem ich aus Aschersleben fliehen könnte."
Ob diese Gefühle der junge Johann Christian Ramdohr teilte? Floh auch er aus Aschersleben? Mein Vorfahr hat die Szenen, die zu Bürgers Verweis von der Schule führten, als Mitglied der Schulleitung aus nächster Nähe miterlebt. Er ist damals 30 Jahre alt. Seit 4 Jahren ist er mit der Tochter des Stadtsekretärs Specht verheiratet und gerade in diesem Jahr 1760 wird sein erster Sohn geboren, unser Vorfahr der nächsten Generation Friedrich Christian Carl Ramdohr. Die Geldentwertung wird den jungen Familienvater drücken, auch wenn er als Pfarrer an der gemeinschaftlichen Kirche noch eine Zusatzeinnahme hat. Und das pädagogische Fiasko im Falle Bürger hat ihn vielleicht desillusioniert. Es wäre denkbar, daß er hier schon beschließt, den Schuldienst so bald wie möglich zu quittieren.
Aber das muß nicht sein. Ein junger Mann kann ebensogut hoffen, wie Stäcker ein besserer Schulleiter als Aurbach zu werden. Den Friedensschluß Preußens mit Rußland jedenfalls erlebt er noch im Schuldienst. Er ist es, der beim offiziellen Friedensfest in Aschersleben am 6. Juni 1762 die Hauptpredigt in der Stephani-Kirche hält. Dabei gab "er dem Wunsche Ausdruck ..., es möchte Gott gefallen, dem Czar Peter eine recht lange Regierungszeit zu verleihen".
Das tritt nicht ein. Hat er sich mit diesem frommen Wunsch lächerlich gemacht? Oder bewirbt er sich 1764 um das freiwerdende Rektorenamt und - wird nicht gewählt? Die Stelle bleibt ein Jahr vakant, so etwas deutet manchmal auf Probleme bei der Besetzung eines Amtes. Gleichzeitig wütet in Aschersleben die Ruhr und fordert viele Todesopfer. Kurz und gut, Johann Christian Ramdohr faßt einen Entschluß. Am 27. 11. 1764 wird er in Magdeburg ordiniert und noch vor Jahresende tritt er die Pfarrstelle im Dorf Groß-Schierstedt an. 1765 wird Christian F. Jonae der neue Rektor am Stephaneum.
Unser Vorfahr ist, freiwillig oder unfreiwillig, für die folgenden 38 Jahre bis zu seinem Lebensende Dorfpfarrer in Groß-Schierstedt. Aber er wird ausgerechnet dort, "im Magdeburger Winkel" doch noch der Mann, der in Jöchers Gelehrtenlexikon eingeht: als der Magazin-Bienenzüchter. Doch das ist ein anderes Kapitel.