Zehn Jahre bin ich jetzt schon älter als mein Großvater je wurde. Vor 73 Jahren ist er gestorben. Der strenge Datenschutz ist erloschen. Man darf über ihn schreiben, seine Fotos veröffentlichen, wenn man ein Recht dazu hat.
Die Gefahr, dass ich, die ich meines Großvaters Nachlass hüte, sterben könnte, ängstigt den Archivleiter des Rheinischen Archivs für Künstlernachlässe, Herrn Daniel Schütz. Er fürchtet, dass die wenigen Werkfotos und Briefe, die ich bewahre, im Müll landen, wenn meine Erben mein Zimmer ausräumen. Er hat solche Geschichten erlebt. Wer interessiert sich schon im Todesfall für ein paar Ordner mit alten Fotos und Briefen? Aber das Archiv ist interessiert. In seinen Augen ist mein Großvater Carl von Mering ein rheinischer Künstler.
Die Sorge von Herrn Schütz drängt mich, meine Erinnerungen und Gedanken zu meines Großvaters Carls Leben aufzuschreiben und dann das Quellenmaterial in die Obhut des Archivs zu geben. Tatsächlich kann ich mit diesem Material nicht viel anfangen. Ich bin kein Kunstwissenschaftler. Ich bin kein Historiker. Ich kann es nicht angemessen nutzen.
Was ich erzählen kann: Ich habe meinen Großvater noch gekannt. Es gibt ein Bild, da hält er die zweijährige Enkelin auf dem Arm, vor seinem Haus in Rodenkirchen. Es gibt 2 Bilder, da sitzt er mit der Großmutter im Pfarrgarten von Heusweiler, am 19. Juni 1941, und ich, fast 3 Jahre alt, bin dabei. Es ist in Briefen bezeugt, dass ich als Vierjährige noch mit meinem Vater in Köln bei seinen Eltern zu Besuch war. Von diesem Aufenthalt müssen die Erinnerungen an das Bildhaueratelier stammen, mit den riesigen, in feuchte Tücher gehüllten Tonmodellen, die mich gruseln machten. Und an die Gartenvögel, für die der Großvater in den feuchten Tüchern Mehlwürmer zog, die sie ihm aus der Hand fraßen. Ich sehe die Vögel durch die Oberlichter des Ateliers hereinfliegen.
Was ich aus seinen Daten weiß: Mein Großvater wurde am 15. Oktober 1874 geboren, in Koblenz, als Sohn des Stuckateurs Peter Mering und der Glaserstochter Philippine Allendorf. Von Vatersseite stammte er aus einer katholischen rheinischen Familie des niederen Adels, von Muttersseite aus einer evangelischen Handwerkerfamilie aus Sachsen-Anhalt – d.h. nicht nur: auch aus rheinisch-pfälzischen Handwerkerkreisen aus der evangelischen Diaspora in Bacharach. Eine vielleicht explosive Mischung.
Diese Handwerker alle lebten in Preußen. Sie profitierten von der Gewerbefreiheit und die rheinischen bewahrten zusätzlich die Erfahrungen von Bürgerrechten aus der französischen Republik. Der Krieg 1870/71 war vorbei – der Staat hatte Geld, für Bauarbeiter gab es viel Arbeit. Der Stuckateur Mering zog dem Bauboom nach: von Koblenz nach Bonn, von Bonn nach Ehrenfeld bei Köln.
Diese Umzüge hatten vielleicht nicht nur ökonomische Gründe. Das junge Paar Mering hatte sich in Koblenz-Pfaffendorf evangelisch trauen lassen, denn Philippine wollte ihre Kinder evangelisch aufwachsen lassen. Die Folge war: kein Mering war auf der Hochzeit zugegen. Das machte das Zusammenleben der in Koblenz ansässigen Mering-Sippe vielleicht kompliziert, erst recht, nachdem wirklich das erste Kind, mein Großvater Carl, evangelisch getauft worden war. Peter und Philippine mögen auf der Suche nach einer evangelischen Gemeinde als Familienersatz gewesen sein.
Die evangelische Gemeinde in Ehrenfeld konnte diese Erwartungen erfüllen. Sie baute gerade eine eigene Kirche. Sie war aktiv, gesellig, brauchte neue Mitglieder. Die ersten evangelischen Merings richteten sich in Ehrenfeld ein. Der Vater gründete seine "Figurenfabrik" in gemieteten Räumen. Carl und seine Geschwister gingen zur Schule.
Keins von Carls Schulzeugnissen ist auf mich gekommen. Waren seine Noten schlecht – so dass er die Zeugnisse vernichtete? Hat er sie irgendwo eingereicht und nicht zurück erhalten? Haben die Bomben sie vernichtet? Die Zeugnisse seiner Frau Clara sind vollständig erhalten. Schulzeit wahrscheinlich von 1880 bis 1888. Danach Lehrzeit in des Vaters Figurenfabrik, wo nach Katalogen Stuckelemente hergestellt wurden. Ein Gefühl der Unzufriedenheit mit dieser Ausbildung ist von Carl bezeugt.
Am 21. Juni 1931 schreibt er:
"Ich bin richtig unter den schönen Figuren der Antiken und unter den nur selten schönen der kirchlichen Kunst aufgewachsen: mein Vater hatte eine Figurenfabrik. Am Kopf der Geschäftspapiere stand: Institut für religiöse und profane Kunst. Das war nicht schön und auch nicht richtig, denn religiös ist alle Kunst und profan ist keine, aber das verstand ich damals nicht. Was ich aber schon früh begriff war, daß das Formen gießen, Retouchieren und Polychromieren mit Kunst herzlich wenig zu tun hat. Ich mußte Neues schaffen, modellieren. Da besuchte ich die Modellierklasse des nun längst verstorbenen Professor Albermann, der damals Lehrer an der in den Anfängen steckenden Kunstgewerbe- und Handwerkerschule der Stadt Köln war. Dann ging ich nach Düsseldorf, nicht zur Akademie, sondern in eine Figurenfabrik, wo Figuren in Ton geformt und gebrannt wurden. Als ich dann später wieder heim kam und das ererbte Geschäft fortführen sollte, da trennte ich mich kurz und schmerzlos, diesmal tatsächlich schmerzlos von der Gipsfigurenfabrik."
Etwas kam dazu: 1892 hatte der ältere Bruder des Vaters, Carls Onkel Heinrich, der in Koblenz wohlhabend geworden war, ein "Immediatgesuch" an das Königliche Heroldsamt in Berlin geschickt und um die Wiederherstellung des Adels gebeten. Er wies durch Urkunden nach, dass er der Enkel von Franz Caspar von Mering war, der zur Zeit der Mainzer Republik auf sein "von" notgedrungen verzichtet hatte. Als 1893 über sein Gesuch positiv entschieden wurde und er sich also "Heinrich von Mering" nennen konnte, stellte auch Peter ein solches Gesuch. Relativ schnell erhielt er die Antwort, dass, was für Heinrich gelte, auch für alle seine Geschwister gelten müsse – und natürlich für alle legitimen Nachkommen. Der neunzehnjährige Carl hieß von nun an Carl von Mering.
Ich stelle mir vor, dass diese Namensänderung im Deutschen Kaiserreich einen fantasievollen jungen Mann begeisterte. Ich weiß, wie sehr mein Großonkel Felix Behn, der Offizier aus meiner mütterlichen Familie, danach strebte, adelig zu sein. Carl fiel das zu. Das gab ihm vielleicht Mut, sich vom Handwerk zu lösen, sich als Künstler zu fühlen. Herr Schütz vom Archiv für rheinische Künstlernachlässe erkennt Carl als Künstler an.
Etwa um 1897 ist mein Großvater wohl in die Modellierklasse des Professor Wilhelm Albermann eingetreten (Bildhauer, geb.28. 5. 1835 in Werden, gest. 9. 8. 1913), und danach nach Düsseldorf in die Keramikfabrik gegangen, deren Namen er leider nicht überliefert. In seinem Selbstzeugnis über seinen Werdegang klingt es, als sei er erst aus Düsseldorf nach Hause zurückgekehrt, als der Vater schon gestorben war. Carl verkaufte die Figurenfabrik und studierte von dem Erlös bei dem Bildhauer Georg Grasegger an der Kunstgewerbe- und Handwerkerschule. Da er die Verantwortung für seine Mutter und seinen kleinen Bruder übernommen hatte, arbeitete er gleichzeitig in Graseggers Werkstatt – nach eigenen Angaben fünf Jahre lang, nach Graseggers Zeugnis – das vielleicht den Konflikt zwischen Lehrer und Arbeitgeber verschleiern will – dreieinhalb Jahre.
1907 machte Carl von Mering sich selbständig und heiratete Clara Eberhardt, eine junge Frau aus seiner Nachbarschaft und der evangelischen Gemeinde Ehrenfeld. Ihr Vater war Bahnbeamter. Die Familie stammte aus Thüringen wie die Allendorfs. 1908 wurde dem jungen Paar die Tochter Clara geboren, 1909 der Sohn Eberhard, mein Vater. Das waren glückliche Jahre.
"Ich zog nach Rodenkirchen an den Rhein, dort hatte ich gebaut, ein Häuschen und eine Werkstatt dabei. Und dann gab es Arbeit, Auftrag reihte sich an Auftrag. Das war eine feine Zeit – vor dem Kriege selbstverständlich. Was habe ich da alles geschaffen in Köln und anderwärts: Kirchenaltäre, Heiligenfiguren, Capitäle, alles, was schmückte.
Besonders in Köln hatte ich mein Feld. Hier trugen viele Häuser, private und städtische, plastischen Schmuck aus meiner Werkstatt. Auf öffentlichen Plätzen in alten und neuen Parkanlagen stehen meine Arbeiten. Am und im Stadthaus findet man ornamentalen und figürlichen Schmuck, den ich schuf, desgleichen auch beim alten Rathaus. Eine nette Zahl Kriegerehrungen durfte ich machen. Wenn ich die Arbeiten nennen soll, die ich für die Stadt Köln und Private geschaffen, muß ich mich stark besinnen und vergesse doch manches aufzuzeigen.
Bei zahlreichen Wettbewerben um Denkmäler, Brunnen, Figuren, engeren und öffentlichen, die sich zum Teil über Deutschland erstreckten, war ich erfolgreich."
Auch wenn Carl in dieser Aufzählung manche Aufträge aus den Zwanzigerjahren dazurechnet: Besonders glücklich sind sicher die Jahre vor dem Krieg gewesen. Sein Freund, der Maler Rudi Hammer aus Königsberg, schreibt von seinem Besuch in Köln 1912 über Carl von Mering: "Der bewegliche Rheinländer gab sich naiv dem Leben. Das tat mir wohl."
Dass mein Großvater in den Augen seines Freundes naiv war, kann ich nachvollziehen. Meine Großmutter hat Liebesgedichte von ihm aufbewahrt, die ein solches Urteil nahelegen. Denn als er sie schrieb, war er fast 30 Jahre alt. Besonders naiv erscheint mir aber sein Kriegstagebuch, das er in den ersten Kriegsmonaten 1914 führte. Da war er 40 Jahre alt – der Text könnte von einem Halbwüchsigen stammen. Vielleicht waren alle Kriegstagebücher so – der Ton in der Truppe war vielleicht so pfadfinderhaft. Man kann diese Berichte nicht anders als naiv bezeichnen. Ich fühle den gewaltigen Abstand, der mich von diesem Soldaten und Familienvater trennt. Aber andererseits: braucht ein Modelleur, der seine Werke verkaufen will, nicht eine gewisse Naivität? Gehört Naivität zum Künstler? Muss er sich nicht für seine Kreativität lebenslang etwas Kindliches bewahren?
Die guten Jahre vor dem 1. Weltkrieg gingen nur zu schnell vorbei. Wenn Carl in seiner Jugend unter Geldmangel gelitten hatte, der ihm nicht erlaubte, eine Akademie zu besuchen, so kam die Armut jetzt, wo er Familienvater war, ihn noch viel härter an. Er konnte weder die Kur für seine tuberkulosekranke Tochter noch die Ausbildung für seinen Sohn bezahlen. Ja, es fehlte oft am nötigsten im Hause, besonders zur Zeit der Weltwirtschaftskrise. Mein Vater, der damals von zu Hause aus in Bonn Theologie studierte, schildert in den Briefen an meine Mutter die bedrückende Atmosphäre. Seine Großmutter und eine ledige Tante, die Lehrerin war, ermöglichten sein Studium, der Pfarrer gab ihm ab und zu 100 Mark für die Mitarbeit beim Kindergottesdienst und der Jugendarbeit. Sogar Lebensmittel brachte Eberhard manchmal aus der Gemeinde nach Hause. Wenn ich das lese, empfinde ich tiefes Mitgefühl mit einem Mann, der sich als Künstler fühlte und nun gänzlich ohnmächtig war, seine Familie zu ernähren, weil niemand Kunst kaufte. Das zeigte sich manchmal in tiefer Niedergeschlagenheit – dann aber auch in heftigen Zornesausbrüchen, die mein Vater sehr fürchtete, besonders weil seine Mutter dann gleich anfing zu weinen.
Carl war jung offenbar heftig in Clara verliebt gewesen. Sie hatte lange gezögert, darauf einzugehen. Zögern gehörte zu ihrem Wesen. Der Freund Wilhelm Werker nennt sie "Eidechschen", was auf eine schüchterne, auch kühle Art schließen lässt. Aber Carl hatte nicht nachgegeben und sie erobert. Mein Vater soll überzeugt gewesen sein, erzählte mir meine Mutter, dass Carl Clara auch als Ehemann liebte und sie nicht betrog. Ihre Mitgift aus dem Erbe ihrer Großmutter hatte 1911 den Hausbau in Rodenkirchen ermöglicht, den Grundstock zum eigenen Atelier gelegt. Carl hatte Grund, ihr dankbar zu sein. Meine Großmutter war sehr anspruchslos. Da sie wegen eines Nervenleidens nicht gern das Haus verließ, schon gar nicht verreisen mochte, verbrauchte sie wenig Geld für Garderobe und Unterhaltung. Mit dem wenigen Haushaltsgeld versorgte sie die Familie, so weit sie konnte. Sie galt ihren Kindern als "gut", was sie beide so von ihrem Vater nicht gesagt hätten. Carls Eitelkeit und größerer Anspruch an das Leben machten ihn für seine Kinder schwierig. Die Tochter Clara soll darunter gelitten haben, dass sie nicht so schön war, wie sich der Vater seine Tochter gewünscht hatte. Und mein Vater weinte viel als Kind – was Carl als unmännlich empfand und ihn deswegen tadelte und verachtete. Carl war redselig, er spottete gern. Sein Kölner Humor konnte auch verletzend sein. Die Kinder fürchteten ihn mehr als sie ihn liebten. Umso glücklicher waren sie aber auch, wenn er sie einmal anerkannte. Das ist gut belegt in meines Vaters Briefen an unsere Mutter vom 10. und vom 17. Oktober 1931.
"Vaters Zorn ist wie ein starkes Gewitter, das bald vorübergeht; aber er kommt zu oft. Das macht mich ihm gegenüber so scheu; ich kann diese Unbeherrschtheit nicht verstehen. Vater spürt unsere Entfremdung und leidet darunter. Keiner von uns findet das erlösende Wort zu einer Aussprache. Bei Vater kommt nun seine Arbeitslosigkeit u. Krankheit – die, wie ich glaube viel auf Einbildung beruht – hinzu. Das körperliche Leiden ist gar nicht so schlimm wie das seelische. … Als Du Sonnenschein bei uns warst, war es so ganz anders hier. Ich denke so oft daran zurück. Jetzt kommt es mir vor, als sei unser Haus ein Haus des Kummers und der Sorge, die hier ihren Einzug gehalten haben und sich durch nichts vertreiben lassen."
Aber schon am 17.X.31, am Tag nach seinem 21. Geburtstag, schreibt Eberhard:
"… dann schlug Vater vor, eine richtige Studentensitzung zu machen. Als Ältester übernahm er das Praesidium. Ich holte das Kommersbuch und als 1. schlug der Herr Praeside vor: O alte Burschenherrlichkeit! Ich glaube, das ganze Haus wackelte, so begeistert sangen wir. Der Kommilitone Schoon wurde dann beordert, eine Geburtstagsrede vorzubereiten, während die Damen ein Lied allein singen mussten. Schoon machte es auch sehr nett, schloss mit einem allgemeinen Hoch auf das Geburtstagskind. Vater dankte dem Kommilitonen Schoon und forderte dann den Kommilitonen von Mering auf, solo das Lied Ännchen von Tharau in der Umgestaltung „Ruschka von Marburg“ zu singen, und dass ich das mit vollster Begeisterung tat, kannst Du Dir denken, vier Strophen! Und dann tranken wir auf Dein Wohl und dachten an Dich. Danach sangen wir andere Kommerslieder, bis das Abendbrot eine Unterbrechung brachte….Nach dem Essen wurde das Praesidium an Fritz K. übertragen. Er beauftragte den Kommilitonen von Mering zu einer Dankesrede. Wir waren in einer feierlich-ernsten Stimmung und ich begann mit einem Dank an die Eltern, die mir so viel Liebe widerfahren ließen im vergangenen Jahr und am gestrigen Tage, dankte Klara, ….allen Geburtstagsgästen, .. allen, die aus der Ferne meiner gedacht hatten und schickte einen besonderen Dankesgruß zu Dir und Deinen Lieben. Dann kam ich auf mein vergangenes Jahr zu sprechen und schloß mit dem Versprechen, mich all der Liebe würdig zu erweisen, die mir am gestrigen Tage geboten wurde. Ich war ganz begeistert, war es doch das 1. Mal, dass ich frei gesprochen habe."
Eberhard hielt seine erste freie Rede und Carl lobte ihn deswegen. Ambivalenz in der kindlichen Liebe ist bekannt. Als erwachsener Mann und Soldat träumte mein Vater, dass er seinen Vater trösten musste, weil der ihm einen Hund schenken wollte und kein Geld dafür hatte. Dieser Traum bildet sicher eine reale Szene ab. Mein Vater war sehr tierlieb und er schreibt selbst, dass er kein Haustier haben konnte und deswegen verletzte Wildtiere aufnahm und pflegte. Der Traum zeigt, dass der erwachsene Sohn seinen Vater wegen seiner Armut bedauerte und sehr wohl wusste, dass der Vater nicht aus Mangel an Liebe dem Sohn seinen Wunsch abschlug.
Meine Mutter urteilte betont vorsichtig über Carl. Sie fühlte sich geschmeichelt, dass der alte Mann ihren Charme und ihre Lieblichkeit anerkannte. Er soll ihre Hände so klein und schön gefunden und deswegen nachmodelliert haben. Es gibt Briefe von Carl an Ruth, schmeichelnde Geburtstagsglückwünsche, aber auch einen sehr ernsten mit handfestem Anliegen. Meine Mutter soll meinen Vater überreden, die Bekennende Kirche aufzugeben. Sie wolle doch bald heiraten und diese eigensinnige Haltung von Eberhard verhindere so gut wie sicher eine baldige Anstellung. Carl will Ruth zur Komplizin machen. Aber da liegt er falsch. Meine Mutter war von der Richtigkeit der Bekennenden Kirche womöglich noch mehr überzeugt als mein Vater.
Die politische Situation hat Carl von Sohn und Schwiegertochter getrennt. Der Künstler hat sich schon 1931 entschieden, in die NSDAP einzutreten. Als Enkelin schreibe ich das seiner Verzweiflung zu. Er war so unglücklich in einem Staat mit kriselnder Wirtschaft, ohne Auftragsvolumen. Er glaubte den Versprechungen Hitlers. Merkwürdiger Weise haben seine Kinder das nicht so gesehen – nicht die Tochter Clara, die meinem Gefühl nach lebenslang dem Dritten Reich nachtrauerte. Und nicht meine Eltern – sonst hätten sie es ja dem Vater nicht vorwerfen können. Aber meine Mutter hat einen stillen Groll gegen ihren Schwiegervater bewahrt. Dass unsere Eltern nie die Verbindung zum Elternhaus abbrachen, gehörte zu ihrem pietistisch geprägten Christentum. Auch scheint mir, dass Carl, je weiter der Krieg fortschritt, desto weniger an den Endsieg geglaubt hat. Bei den wenigen Besuchen und in den Briefen spielte die unterschiedliche politische Meinung zuletzt gar keine Rolle mehr.
Aber in den 30er Jahren hat Carl seine Parteizugehörigkeit aggressiv geäußert und seinem Sohn das Herz schwer gemacht, der so ungern mit seinem Vater stritt, weil er seine Mutter nicht betrüben wollte. Carl hat praktisch von seinem Sohn verlangt, des Vaters Meinung zu teilen: aus Rechthaberei vielleicht. Möglicherweise aber auch deshalb, weil der Bruder seiner Frau, der Amtmann Carl Eberhardt, ein grimmiger Nationalsozialist war, der schon das Theologiestudium Eberhards falsch fand, aber erst recht seinen Weg in die Bekennende Kirche verachtete. War er imstande, den Neffen anzuzeigen? Carl von Mering hatte sich der Partei verkauft. Er hatte Vergünstigungen angenommen: Aufträge, den Posten im Gemeinderat, Erholungsaufenthalte in den Bergen für parteitreue Künstler – er konnte nicht zurück.
Mit seiner geistigen Freiheit hatte mein Großvater auch sein Künstlertum verloren. Was er nach 1933 machte, ist wenig und es ist nicht originell. Die Arbeit in der NSV, das Winterhilfswerk, die Partei-Schulungen, die Stunden im Gemeinderat, wo er, während der Bürgermeister eingezogen war, auch die Sitzungen leitete, das alles strengte ihn an, ließ ihm nicht genügend Zeit für künstlerische Entwürfe. Der hohe Blutdruck machte ihm zu schaffen. Ab 1942 scheint er krank gewesen zu sein. Die Bombardements von Köln zehrten sicher an seinen Nerven ebenso wie an denen der andern Kölner. Seit Herbst 1943 war sein einziger Sohn an der Front. Mir sind keine schriftlichen oder bildnerischen Zeugnisse seiner Hand aus dieser Zeit bekannt. Aber Rudi Hammer schreibt Anfang Februar 1944: "Es ist nun fast ein Jahr seit Eberhard schrieb wie schlecht er Vaters Gesundheit gefunden hätte, er sprach von Zuständen völliger Apathie. – " Und ich erinnere mich von meinem Besuch als Vierjährige in Rodenkirchen, wie sehr ich erstaunte, dass mein Großvater mitten im lebhaften Gespräch der Frauen – der Schwestern seiner Frau – am Tisch einschlief. Das Kind war munter, der alte Mann war erschöpft.
Ich weiß nicht, zu welchen Informationen ein Rondorfer Bürgermeistervertreter Zugang hatte. Aber ich fürchte, er wusste genug, um hoffnungslos und niedergeschlagen zu sein – auch wenn er anscheinend seinem alten Freund, dem Maler Rudi Hammer, auf defätistische Bemerkungen hin wütend widersprochen hat. Rudi bemerkt dazu: "Danach bekam ich noch einen herben Gruß von Karl, in dem er meine Sorge um das „Kunstwerk“ Köln in seine Grenzen wies. – Sehr wohl verstand ich diesen erzieherischen Ton des gewissenhaften Bürgermeisters von Rodenkirchen, doch dachte ich still: - Karl wendet sich nicht von alten Freunden ab, er wendet sich zum Gehen!"
Und so war es dann auch. Zu seinem Sterbelager besitze ich nichts von meiner Großmutter Clara oder meiner Tante Clara. Nur zwei Briefe meines Vaters aus Estland, wo er in der Etappe war und oft wochenlang ohne Post von zu Hause. Er schreibt am 18. Januar 1944, nachdem er Briefe von Anfang Dezember endlich erhalten hatte:
"Mein lieber Vater!
Am 14. bekam ich endlich nach 4 Wochen Post; da hörte ich dann in den Briefen von Mutter, daß es Dir nicht gut ginge und Du die meiste Zeit des Tages liegen müßtest. Ich hoffe ja sehr, daß es, wenn mein Brief in Deinen Händen ist, wieder etwas besser geht."
Eberhard weist darauf hin, dass er nun auf einmal eine ganze Menge Päckchen und Briefe erhalten hat und sich mit der Beantwortung schwer tut. Aber
"Du sollst nun am Anfang stehen, daß Du weißt, ich denke in Liebe an Dich. Mache Dir nur nicht um mich Sorge. Ich hatte es bisher so gut, wie wenig Soldaten es von sich hier im Osten sagen konnten. Gott wird auch weiterhin mich behüten."
Er versucht, seinen kranken Vater mit kleinen Geschichten zu unterhalten, und schließt dann:.
"Nun hab ich Dir ein wenig erzählt, lieber Vater; aber jetzt muß ich wieder gehn und Dich schlafen lassen. Sei nur ganz ruhig, es ist alles gut. Gott behüte Dich und gebe Dir Freude und Stärke. Alle grüße ich herzlichst, Mutter, der ich für all die Briefe danke, Klara, deren Brief mich auch sehr freute, Tante Grete, die hoffentlich immer da bleibt und Euch mit ihrem guten Herzen und fröhlichen Gemüt alles etwas leichter macht. Ich hab Euch alle sehr lieb. Wie gern wäre ich mal bei Dir.
Innigst küßt Dich Dein dankb. Sohn Eberhard."
Aber schon 6 Tage später, am 24. Januar 1944, schreibt er nach Rodenkirchen:
"Meine lieben Eltern, liebe Klara!
Diese Nacht erschreckte mich der Traum, Vater sei gestorben. Ich weiß nicht, wie ich dazu komme. Ob es Mutters Brief war, der mich in Sorge versetzte, weil Vater nun zu Bett liegen muß! Die letzten Tage mußte ich soviel an ihn denken. Wir sind nun seit 14 Tagen ohne Post, sonst wüßte ich sicher mehr. Hoffentlich hat Vater inzwischen meinen Brief bekommen und Mutter mein kleines Speckpaketchen.... Hoffentlich höre ich bald Gutes von Euch. In herzlicher Liebe grüßt und küßt Euch Euer Eberhard. Herzl. Gruß an Tante Grete."
Am 26. Januar 1944 ist Carl von Mering in seinem Haus in Rodenkirchen gestorben.
Am 3. Februar 2018 habe ich den dokumentarischen Nachlass meines Großvaters an das Rheinische Archiv für Künstlernachlässe in Bonn abgeschickt.