Zuerst veröffentlicht in: EKKEHARD, Familien- und regionalgeschichtl. Forschungen, Hallische Familienforscher, Neue Folge 6 (1999) Heft 4, S. 101ff
Das Geheimnis seiner Herkunft
Wahrscheinlich werde ich nie wissen, wer er wirklich war. Sein Name, Pierre Henry, der auf mich in der Heiratsurkunde seiner Tochter Catherine[1] so echt französisch wirkte, ist vielleicht nur eine Anpassung an die Verhältnisse seiner Lebenszeit. Peter Henrich oder Henrici hat er vielleicht geheißen - zumindest sein Vater oder Großvater könnten noch den Familiennamen Heinrich geführt haben. Andererseits können auch sie sich schon Henry genannt haben, denn sehr wahrscheinlich waren sie Lothringer. Der Vater soll Jean Henry geheißen und in "Kirche" gewohnt haben. Das gibt Pierre in seiner Heiratsurkunde[2] an.
Nach diesem Ort "Kirche", der im "Departement de la Moselle" liegen soll, habe ich schon sehr gesucht. Die Familien- und Heimatforscher von Saarlouis haben dies "Kirche" als "Kirsch-les-Sierck" verstanden[3] - und tatsächlich, das paßt gut. Es liegt im Moseltal, nicht weit von Saarlouis, es ist ein Bauerndorf, wie noch heute sichtbar, so könnte Pierre Henrys Bruder Laurent dort 1802 "cultivateur" gewesen sein, womöglich auf dem Hof des schon verstorbenen Vaters Jean. Was nicht paßt, ist, daß ich im sehr sorgfältig und in lesbarem Latein geführten Kirchenbuch des Dorfes[4] die Geburt von Pierre Henry nicht finden kann.
Laut Heiratsurkunde soll er am 19. Oktober 1772 geboren sein. Aber in dem ganzen Jahr ist dort kein Petrus getauft worden. Von 1769 - 1775 kein Peter Henry! Weder die mütterliche Familie Dupont noch die väterlichen Henrys kommen in den Jahren zwischen 1760 und 1785 im Kirchenbuch vor. Dabei ist die Liste der Familiennamen im Kirchenbuch nicht groß. Kirche muß um 1772 ein überschaubares Dorf gewesen sein. Und Pastor Dräger war ein ordentlicher Mann. Hat Pierre Henry also gelogen? Und hat er seinen Bruder veranlaßt, ihn darin vor den Eltern seiner Braut zu unterstützen? Ja, war es überhaupt sein Bruder?
Wenn man erst anfängt zu zweifeln, steht plötzlich alles zur Disposition. Pierre Henry ist mein Vorfahr gewesen, aber schon seine Tochter hat ihn nicht viel zu Gesicht bekommen. Er war bei seiner Heirat "en Service chez le Général Daultanne". Auch das kann vieles bedeuten. War er ein Bauernsohn, wie der bäuerliche Bruder nahelegt anzunehmen, so könnte er "Bursche" beim General gewesen sein, eine Art Kammerdiener, zuständig für alles Persönliche von der Unterwäsche bis zum Reitpferd. Allerdings ist 1802 die Revolution noch nicht vorbei. Das Heer ist auch für den einfachen Mann bis in die höchsten Stellungen durchlässig. So wird Pierre Henry schon 1807 in der Geburtsurkunde seiner Tochter in Mainz "officier du Genie attaché à la grande armée" genannt. Vielleicht stand der 30jährige Bräutigam 1802 in einem Dienstverhältnis zum General Daultanne, das dem eines Adjutanten nahekam? Möglich wäre es, wenn wir annehmen, daß Pierre Henry von Kind an zweisprachig war. Dann könnte er sich einem Mann wie Daultanne, der aus dem Vaucluse stammte und wahrscheinlich nicht Deutsch konnte[5], vor einem Deutschlandfeldzug empfohlen haben. Doch muß es später auch eine persönliche Vertrautheit zwischen den beiden Berufssoldaten gegeben haben. Die letzte Nachricht über Pierre Henry, die ich bis jetzt habe, die Erwähnung im Sterbeakt seiner Frau 1818[6], lautet: "Homme de Confiance du Général Daultanne".
Auch Akten lügen. Der Beamte "faisant les fonctions d'officier public de L'état Civil" ist nicht allwissend. Die Familien geben sich ihm gegenüber gern als besser aus, als sie sind. Dazu gehören Übertreibungen hinsichtlich der beruflichen Stellung von Verwandten ebenso wie das Verschweigen von zerbrochenen Beziehungen. Sogar bewußte Mystifikationen soll es geben. Wie soll man dem nachkommen? Dieser Vorfahr, dem ich da nachspüre, hat 150 Jahre vor mir gelebt, in den Revolutionskriegen und den Napoleonischen Zeiten. Er war Soldat, Offizier.