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Begegnung in Kemberg
Auf diesem Weg von Jena nach Berlin kommt Marschall Davout selbst mit einem Teil des Dritten Korps durch Kemberg[12]. Die Offiziere logieren in den Bürgerhäusern um den Marktplatz, Davout im Haus des Accise-Einnehmers Groß. Dabei könnten zwei meiner Vorfahren einander begegnet sein: Der napoleonische Offizier Pierre Henry als Quartiermacher für den Chef des Stabes Daultanne[13] und der Kemberger Bürgermeister Friedrich August Nathusius in seiner Eigenschaft als Vertreter der Landstadt. Der Nathusius ist zehn Jahre älter als der Offizier[14]. Mit welchen Augen mögen sie sich betrachtet haben! Selbst wenn Henry als Lothringer Deutsch sprach - ihre Verständigung war schlecht. Der eine forderte, der andere mußte notgedrungen gehorchen. Und in beiden steckt etwas von mir! Denn beiden Männern wird im Juli darauf, im Jahr 1807 eine Tochter geboren werden, von der sie jetzt noch nichts wissen: dem Offizier eine Catherine am 10. 7. 1807 in Mainz und dem Bürgermeister eine Berta Florentine am 15. 7. 1807 in Kemberg, beides Vorfahrinnen von mir. Beide im Oktober 1806 gezeugt, die eine in requirierter Unterkunft, die andere im Bürgermeistershause, die eine katholisch getauft und die andere evangelisch-lutherisch, die eine wächst vaterlos in Garnisonen auf, die andre in einem gebildeten Elternhaus (die Bildung ihrer Mutter wird noch von deren Enkelinnen gerühmt). Einander so unbekannt, so fremd, als lebten sie auf verschiedenen Sternen. In Kemberg könnten ihre Väter eine kurze Stunde miteinander über die Modalitäten der Einquartierung verhandelt haben - aber erst hundert Jahre später werden sie zu Verwandten, wenn meine Großeltern von Mering in Köln heiraten[15].
Ob Pierre Henry seine Frau immer bei sich hatte auf dem Feldzug in Deutschland?[16] Oder hat er sie nach dem Sieg bei Auerstedt nach Berlin nachkommen lassen? Urlaub, sie in einer Garnison zu besuchen, hat er sicher nicht bekommen. In den Tagebüchern der Napoleonischen Kriege, die ich gelesen habe, ist nie von Urlauben die Rede. Am 25. Oktober zog das Dritte Korps in Berlin ein, am 28. Oktober hielt Napoleon eine Parade dieses Korps ab und schon am 2. November mußte General Daultanne von Berlin aus in den Polenfeldzug rücken. Kaum annehmbar, daß er da seinen homme de confiance, den Pionier-Offizier Pierre Henry, habe entbehren wollen.